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Die Autorität der Schrift in der Schrift

Donnerstag 16. Mai 2013 von Johann Hesse


Johann Hesse

1          Die Infragestellung der Autorität der Schrift

Die Autorität der Heiligen Schrift wird heute massiv in Frage gestellt. Stellvertretend für viele ähnliche Aussagen sei hier der Landesbischof der Badischen Landeskirche zitiert, der auf der Landessynode der Badischen Kirche in Bad Herrenalb im April 2012 meinte, dass Gott im Alten und Neuen Testament nicht selber rede, „sondern wir haben es mit menschlichen Worten zu tun, durch die uns Gottesworte und Gottesbilder vermittelt werden“. Ein solches Verständnis vom Ursprung und Wesen der Bibel öffnet Tor und Tür für eine Auslegung der Beliebigkeit. Redet Gott in der Schrift, bindet uns das Wort mit göttlicher Autorität. Reden aber nur Menschen Worte und Bilder von und über Gott, so kann die Schrift jederzeit gesellschaftlichen Trends und Meinungen angepasst werden.

Neu ist das Phänomen selbstverständlich nicht. Schon Satan fragte hinterlistig: „Ja, sollte Gott gesagt haben…?“ (1 Mose 3,1). Auf dieser Linie haben Menschen immer wieder die Autorität des Wortes Gottes hinterfragt und Instanzen neben und über die Heilige Schrift gestellt. Im Mittelalter entwickelte sich das Lehramt der Römisch-katholischen Kirche zu einer Instanz, die über die Schrift herrschte. Die Aufklärer stellten die Vernunft des mündigen Menschen über das Wort Gottes, und viele moderne Bibelausleger unterwerfen das biblische Wort den ungeprüft übernommenen Auffassungen der modernen Naturwissenschaften oder der historisch-kritischen Theologie. Deren Methodenkasten hat der Theologe und spätere Philosoph Ernst Troeltsch (1865-1923) in drei Aspekte unterteilt: 1.) Kritik: Da es auf historischem Gebiet nur Wahrscheinlichkeitsurteile geben könne, müsse erst beurteilt werden, was die „wahrscheinliche Richtigkeit“ einer Ãœberlieferung ist[1]. 2.) Analogie: Sie geht von der „prinzipiellen Gleichartigkeit allen historischen Geschehens – einschließlich der christlich-jüdischen Geschichte“[2] – aus. Wahrscheinliche Richtigkeit hat nur das, was anderswo und zu anderen Zeiten auch passiert. 3.) Korrelation: Dieses Prinzip „macht es zur Pflicht, jedes Geschehen aus anderen Geschehnissen ableiten zu können.“[3] Ein Großteil der universitären Theologie unterwirft bis heute den biblischen Text einer angeblich vorurteilsfrei forschenden Wissenschaft und der Vernunft des Forschers. Die Folge ist, dass der Ausleger selbst und aufgrund von Wahrscheinlichkeitsurteilen entscheidet, wo dem biblischen Text Autorität zugestanden werden kann und wo nicht. Das erklärt auch, warum Theologen meinen, dass analogielose Ereignisse wie das stellvertretende Sühnopfer Christi oder die Auferstehung Christi von den Toten nicht geschehen sein können. Auf diesem Nährboden wachsen dann auch Kirchenleitungsbeschlüsse, welche die biblische Ethik außer Kraft setzen.

2          Die Begründung der Autorität der Schrift

2.1       Die Selbstaussage der Schrift

Die Autorität der Schrift muss allein aus ihrem Selbstzeugnis erschlossen werden. So schreibt z. B. Johannes Calvin: „Deshalb wird durchweg die höchste Beglaubigung der Schrift darin gesehen, dass hier Gott in Person redet.“[4] Die Bibel lässt keinen Zweifel daran, dass Gott ihr Autor ist und in ihr redet. Eine der Schlüsselstellen dazu finden wir im zweiten Brief des Apostels Paulus an Timotheus. Dort schreibt er, dass die „ganze Heilige Schrift“ von „Gott ausgehaucht“ ist (2 Tim 3,16). Ähnlich argumentiert auch der Apostel Petrus, der alle Weissagungen der Schrift auf das alleinige Wirken des Heiligen Geistes zurückführt und so indirekt jeglicher eigenmächtigen Bibelauslegung eine ausdrückliche Absage erteilt (2 Petr 1,20.21). Das am Alten Testament gewonnene Verständnis von „Heiliger Schrift“ übertrugen die Apostel wie selbstverständlich auch auf die Schriften des Neuen Bundes (vgl. dazu 2 Petr 1,20.21; 3,2; 3,16; das Doppelzitat in 1 Tim 5,18; Offb 22,18.19).[5]

Weiterhin kann man feststellen, dass die Apostel das Wort der alttestamentlichen Propheten nicht als „Menschenwort“, sondern als autoritatives Reden Gottes verstanden haben (Apg 3,18ff; Hebr 1,1ff). Weil das verkündigte Wort der Propheten aufgeschrieben wurde, konnte Schriftwort mit Gotteswort gleichgesetzt werden. In der Bibel gilt deshalb auch der Grundsatz, was die Schrift sagt, sagt Gott und was Gott sagt, sagt auch die Schrift (vgl. 1 Mose 12,1-3 mit Gal 3,8; Röm 9,17 mit 2 Mose 9,16; Mt 15,3-4 mit 2 Mose 20,12; Apg 4,25 mit Psalm 2 und 2 Sam 23,1-3; Hebr 3,7 und Psalm 95,7.8 u. v. m.).

Gott ist somit der Urheber der Schriften des Alten und des Neuen Testaments. Aus der Urheberschaft (lat. auctor) folgt auch die Autorität (lat. auctoritas) der Schrift. Diese Urheberschaft wird auch dadurch nicht geschmälert, dass Gott ganz verschiedene Menschen gebrauchte, um sein Wort niederzuschreiben. Dabei schaltete er die Persönlichkeit der Verfasser nicht aus und ließ sie in ganz konkrete geschichtliche Situationen hinein seinen Willen offenbaren. Das tiefe Geheimnis der Menschwerdung des Gottessohnes, das wir mit der Formel „wahrer Mensch und wahrer Gott“ zum Ausdruck bringen, lässt sich auch auf das Wesen der Heiligen Schrift übertragen. Wir stellen fest, dass die Bibel Gott als ihren Urheber nennt und in ihrer Ganzheit von Gott „ausgehaucht“ wurde. Diesem Zeugnis folgend, können wir mit Gerhard Maier von einer „Ganzinspiration“ der Heiligen Schrift sprechen.[6] An der Ganzinspiration der Schrift muss der bis heute andauernde Versuch der Aufklärer scheitern, eine Unterscheidung von Heiliger Schrift und Gottes Wort oder von Gottes Wort und Menschenwort einzuführen. Wenn die ganze Heilige Schrift in Ganzheit und als Einheit Gottes Wort an uns ist, dann steht dem Menschen kein Instrumentarium zur Verfügung, mit dem er ein vermeintliches Wort Gottes aus der Bibel herausschälen kann.

2.2       Die Untermauerung der Autorität durch Schrifterfüllung

Die Autorität der Heiligen Schrift muss anhand ihres Selbstzeugnisses festgestellt werden. Untermauert wird diese Autorität durch die Erfüllung biblischer Prophetien. Die Glaubwürdigkeit alttestamentlicher Propheten sollte anhand der Erfüllung ihrer Weissagungen überprüft werden (5 Mose 18,21.22; Jes 41,21-23). Traten vorhergesagte Geschehnisse ein, waren der Prophet und mit ihm seine Schriften durch Gott und vor dem Volk legitimiert und autorisiert. Die Autorität der Schrift tritt uns auch da entgegen, wo sie das ankündigt, was in der Zukunft geschieht und wo sie das als erfüllt bezeugt, was in der Vergangenheit angekündigt wurde. Man kann dies auch als wechselseitige Autorisierung bezeichnen. Entscheidend ist dabei, dass die Erfüllung der Ankündigungen außerhalb jeglicher menschlicher Verfügung steht. Gott allein ist es, der aus der Ewigkeit heraus in den Geschichtsverlauf hinein ankündigt und je nach Prophetie nach Stunden (Mt 6,34), Tagen (Mt 20,18.19), Jahren (Apg 1,29), Jahrzehnten (Mt 24,2), Jahrhunderten (Jes 53,1ff) oder sogar Jahrtausenden (1 Mose 49,10) erfüllend in denselben eingreift (vgl. z. B. Jes 7,14 mit Mt 1,22; Micha 5,1 mit Mt 2,5; Sach 9,9 mit Joh 12,14; Sach 12,10 mit Joh 19,37; Ps 16,8-11 mit Apg 2,25ff; Joel 3,1-5 mit Apg 2,1ff). Dieses überzeitliche Offenbarungshandeln Gottes untermauert die göttliche Autorität der Heiligen Schrift.

Das zentrale Thema biblischer Prophetie und der Erfüllung der Schrift ist die Person Jesus Christus, „denn auf alle Gottesverheißungen ist in ihm das Ja“ (2 Kor 1,20). Er ist das Wort Gottes (Offb 19,13) und die Wahrheit Gottes in Person (Joh 14,6). Zusammen mit dem Vater und dem Heiligen Geist ist er auch Urheber dieses Wortes. Und weil die Schrift sein eigenes Wort ist, das sein Kommen vorhersagte und das Eintreffen der Vorhersagen bezeugt, erhält sie auch durch ihn, den gekreuzigten, auferstandenen und wiederkehrenden Herrn, ihre Autorität.

Die durch das Schema Prophetie und Erfüllung untermauerte Autorität strahlt nicht nur auf die noch nicht erfüllten Prophetien der Heiligen Schrift ab, sondern erfasst auch alle anderen biblisch-theologischen Aussagen, seien sie nun der Eschatologie, der Ekklesiologie, der Soteriologie oder der Ethik zuzuordnen. Hinzu kommt, dass prophetisch-eschatologische und ethische Aussagen der Schrift oftmals in einem unlösbaren Zusammenhang stehen. Wer z. B. in 1 Kor 6,9-11 das kommende „Reich Gottes“ bejaht, kann nicht zugleich die ethische Ordnung ablehnen und umdeuten, die als Voraussetzung für den Eingang in das Reich Gottes genannt wird.

2.3       Die Autorität der Schrift und die Notwendigkeit des Glaubens

Die Autorität der Bibel wird zwar in der Bibel bezeugt und auch durch die Erfüllung biblischer Prophetien untermauert, sie lässt sich in letzter Konsequenz jedoch nicht beweisen. Um die Autorität der Schrift anerkennen zu können, braucht der Leser oder Ausleger des Wortes den Glauben an Christus und die Gabe des Heiligen Geistes (Joh 14,26; 1 Kor 2,14). Die Jünger kannten die Heilige Schrift, doch sie verstanden sie erst, als der auferstandene Herr ihnen begegnete und ihnen das rechte Verständnis schenkte, so dass „sie die Schrift verstanden“ (Lk 24,45). Nicht anders kann es heute zur Anerkennung der Autorität der Schrift kommen. Christus selbst muss uns begegnen, damit wir sie verstehen und anerkennen können. Will ein Mensch erkennen, ob die Bibel Gottes verbindliches Wort an die Menschheit ist, muss er sich ihr im Glauben öffnen und tun, was sie sagt (Lk 11,28; Joh 5,24; Joh 7,17). Gottes Wort wird sich dann mit der ihm innewohnenden göttlichen Kraft im Leben des Menschen so durchsetzen, dass es zur Anerkennung der Autorität der Schrift kommt (Jer 23,29; Röm 1,16; Hebr 4,12). Calvin schreibt zu Recht: „Das Zeugnis des Heiligen Geistes ist besser als alle Beweise. … Denn derselbe Geist, der durch den Mund der Propheten gesprochen hat, der muss in unser Herz dringen, um uns die Gewissheit zu schenken, dass sie treulich verkündet haben, was ihnen von Gott aufgetragen war.“[7] Eine Hermeneutik (Die Kunst des Verstehens), die sich allein auf die Vernunft und eine historisch-kritische Methodik nach den Vorgaben von Ernst Troeltsch verlässt, muss am biblischen Wort scheitern. Der Ausleger, der die Bibel auf diese Weise leichtfertig auslegt, steht unter dem Urteil des Petrus, der von den „Unwissenden und Leichtfertigen“ schreibt, welche die Schriften des Paulus „wie auch die anderen Schriften zu ihrer eigenen Verdammnis verdrehen“ (2 Petr 3,16). Stattdessen ist eine Hermeneutik des Glaubens gefragt, die in der persönlichen Glaubensbeziehung zu Christus und unter der Leitung des Heiligen Geistes das Wort liest, auslegt und sich unter seine Autorität beugt.

3          Die Autorität der Schrift und der Gehorsam

3.1       Die Unauflöslichkeit der Schrift

Die Heilige Schrift bezeugt, dass sie ihrem Wesen nach und in Analogie zur Ewigkeit Gottes das unvergängliche Wort Gottes ist (Mt 24,35; 1 Petr 1,24.25; vgl. Jes 40,6-8). Daraus lässt sich schließen, dass Worte und Gebote der Bibel nicht beliebig aufgelöst werden können. Sie haben bis in die Einzelaussagen hinein bleibenden und bindenden Charakter. Gebote und Ordnungen der Schrift können nicht aufgelöst oder gebrochen werden, sondern müssen in Übereinstimmung mit den Aussagen des Herrn und der Apostel und unter Berücksichtigung ihres heilsgeschichtlichen Zusammenhanges ausgelegt und gelehrt werden (vgl. Mt 5,17-19; Joh 10,34.35).

Dem unvergänglichen Wesen der Schrift entsprechend wird die Heilige Schrift immer wieder in diesem Sinne von Jesus und den Aposteln zitiert. Was die Heilige Schrift in einer Sache oder zu einer ganz bestimmten Streitfrage sagt, das wird durch den Verweis auf das „Es steht geschrieben!“ (Mt 4,4; Mk 11,17; Mk 14,21) oder das „Habt ihr nicht gelesen?“ (Mt 12,3; 19,4; 22,31) endgültig und abschließend beantwortet.

3.2       Die Auslegung der Schrift mit der Schrift

Nun zeigt sich bereits in der Schrift, dass versucht wird, falsche Lehren anhand der Schrift zu belegen. So versucht Satan, Jesus dazu zu bringen, auf ihn zu hören und ihn anzubeten, indem er die Schrift zitiert (Lk 4,10; Ps 91,11-12). Jesus aber ist „voll Heiligen Geistes“ (Lk 4,1) und weist das falsch zitierte Schriftwort und die Versuchungen Satans zurück, indem er drei Mal das Wort Gottes dagegenstellt: „Es steht geschrieben“ (5 Mose 8,3; 5 Mose 6,13; 5 Mose 6,16).

Die Sadduzäer versuchten, anhand eines Schriftwortes zu belegen, dass die Toten nicht auferstehen (Mt 22,23ff). Das zitierte Wort spricht von einem anderen Sachverhalt, wird aber dazu missbraucht, um die Auferstehung der Toten zu hinterfragen (5 Mose 25,5-6). Jesus entlarvt den Versuch, eine schriftwidrige Lehre mit der Schrift zu begründen, mit dem Verweis auf den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der „ein Gott ist nicht der Toten, sondern der Lebenden“ (2 Mose 3,6; Mt 22,31.32; vgl. Mt 19,1ff).

Beide Beispiele bestätigen das reformatorische Auslegungsprinzip, das besagt, dass die Schrift sich selbst auslegt (Scriptura sacra sui ipsius interpres).[8] Wenn heute Bibelworte aus dem Zusammenhang gerissen werden, um biblische Wahrheiten oder Ordnungen außer Kraft zu setzen, dann müssen wir dahinter eine satanische Strategie entdecken, die wir nur mit einer Waffe bekämpfen können: „dem Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes“ (Eph 6,17).

3.3       Gehorsam und Ungehorsam gegenüber dem Wort Gottes

Ist die Bibel Gottes autoritatives Wort an den Menschen, dann muss der Mensch auch glauben und tun, was die Bibel sagt. Aus diesem Grunde fordert uns die Schrift immer wieder auf, nicht nur Hörer, sondern eben auch Täter des Wortes zu sein (Jak 1,22). Die herrlichsten Seligpreisungen knüpft die Schrift an das Bewahren und Befolgen der Worte Gottes (Mt 7,24; Lk 11,25). Wiederum warnt sie vor den schweren Konsequenzen des Ungehorsams (Mt 7,21). Gerhard Maier schreibt dazu, dass eine „intellektualistische Anerkennung“ der Schrift nicht genüge: „Das Ziel der Schrift liegt vielmehr in unserem Gehorsam.“[9]

Unausweichliche Folge der Nichtanerkennung der Autorität der Heiligen Schrift ist der Ungehorsam, also das Nichtbefolgen biblischer Wahrheiten und Ordnungen. Wir wollen uns im Folgenden mit einigen ausgesuchten Beispielen aus der Diskussion um die Anerkennung praktizierter Homosexualität in den evangelischen Landeskirchen beschäftigen, um den engen Zusammenhang von Anerkennung der Autorität der Schrift und Gehorsam bzw. Ungehorsam gegenüber den Ordnungen Gottes deutlich zu machen.

3.3.1    Was „Christum treibet“

Die Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens äußert in der „Erklärung des Landesbischofs anlässlich der Klausurtagung der Kirchenleitung am 20./21.1.2012 zum Umgang mit Homosexualität“ zum Beispiel, dass die Heilige Schrift nicht so sehr an ihren Einzelaussagen zum Thema Homosexualität zu messen sei. Stattdessen sei man gehalten, „nach der Mitte der Schrift zu suchen und ihre Aussagen an dem zentralen Kriterium zu messen ‚was Christum treibet‘“.[10] Das Verführerische an diesen Kriterien ist, dass sie sich äußerst geistlich anhören, jedoch völlig unbestimmt sind und dadurch je und je anders und auch mit außerbiblischen Inhalten gefüllt werden können. Denn wer bestimmt denn, was „Mitte der Schrift“ ist oder „was Christum treibet“? Es zeigt sich in der Diskussion, dass beide Prinzipien als „Nebelkerzen“ gebraucht werden, um außerbiblische Inhalte in die Kirche einzuschleusen und sie gegen unliebsame Einzelaussagen der Schrift in Stellung zu bringen. Stattdessen müssen sowohl „die Mitte der Schrift“ als auch das Kriterium „was Christum treibet“ aus den Einzelaussagen der Schrift heraus bestimmt werden und mit der Gesamtheit der Einzelaussagen deckungsgleich sein.

3.3.2    Die Unterscheidung von Geist und Buchstaben

Aufgrund exegetischer Vorarbeiten kommt der Landesbischof der sächsischen Landeskirche in seiner oben erwähnten Erklärung zu der Erkenntnis: „Homosexuelle Praxis wird in der Bibel, wenn sie erwähnt wird, ausnahmslos mit scharfen Worten verurteilt.“[11] Dieser exegetische Befund wird dann u. a. unter Berufung auf folgendes Pauluswort außer Kraft gesetzt: „Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2 Kor 3,6).[12] In der Erklärung des Landesbischofs heißt es dann entsprechend: „Der Geist will vom Buchstaben unterschieden sein.“ In diesem Sinne hatte auch schon der Alttestamentler Hermann Gunkel (1862-1932) geschrieben: „Die Loslösung vom Buchstaben lehrt den Geist ergreifen, der lebendig macht.“[13] An dieser Stelle muss an das Petruswort erinnert werden, dass „keine Weissagung in der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist“ (2 Petr 1,20). Wenn der Geist die Buchstaben eingegeben hat, dann kann der Mensch den Geist nicht von den Buchstaben lösen und die Schrift gegen ihren Wortlaut auslegen. Doch was wollte Paulus denn sagen, als er meinte, dass der „Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig?“ Der „in Stein gehauene Buchstabe“ des Alten Bundes deckte die Sünde auf, klagte den Sünder an und verdammte ihn. Doch er half nicht aus der Sünde heraus. So brachte das Gebot, das doch zum Leben gegeben war, dem Sünder den Tod (Röm 7,10). Erst im Neuen Bund wird der Heilige Geist empfangen, der dem Sünder das Leben gibt. Der Geist nimmt den Buchstaben des Gebotes, deckt die Sünde auf, klagt den Sünder an, führt ihn aber von dort weiter zum gekreuzigten und auferstandenen Herrn und schenkt ihm die Gewissheit der Vergebung, die Kraft der Erneuerung und das ewige Leben (Röm 3,20; Röm 7,7-8,16). Dies tut der Geist nie in Loslösung, sondern eben gerade in der Bindung an das Wort (vgl. Micha 3,8). Darum kann Luther auch sagen: „Der Geist fährt einher auf dem Wagen des Wortes“.

3.3.3    Löst die Bibel selber Gebote auf?

Vorgebracht wird auch das Argument, dass die Heilige Schrift selbst die Änderung von Geboten vornimmt: „Die Veränderbarkeit gesetzlicher Regelungen ist bereits innerbiblisch vielfach zu belegen“ und die „ungeschichtliche Übernahme gesetzlicher Einzelweisungen der Thora sowie der ethischen Weisungen des Neuen Testaments“ ist abzulehnen.[14] Der Landesbischof schreibt, „dass das Heiligkeitsgesetz eine Fülle von Bestimmungen enthält, an die wir uns als Christen nicht gebunden sehen.“[15] Das ist völlig richtig und wird auch nicht bestritten. Die Bibel muss heilsgeschichtlich ausgelegt werden. Das bedeutet, dass nach dem heilsgeschichtlichen Ort eines Gebotes gefragt werden muss. Das mosaische Gesetz ist zuerst und vor allem Israel gegeben. Christen blicken auf das mosaische Gesetz von Christus und vom Neuen Bund her. Darum sind Christen im Neuen Bund auch nicht mehr an die Speisegebote gebunden (Mk 7,19; Apg 10,15; 1 Kor 6,13), und auch das Opfern von Lämmern ist für sie durch das einmalige Opfer Christi aufgehoben (Joh 1,29; Hebr 10,1ff). Entscheidend ist aber hier der Begriff „innerbiblisch“. Denn die Beobachtung, dass Ordnungen „innerbiblisch“ aufgehoben werden, lässt nicht den Schluss zu, nun eigenmächtig und von außerhalb der Bibel kommend, göttliche Ordnungen aufzuheben, die sowohl im Alten Testament wie auch im Neuen Testament gelehrt und bestätigt werden (Röm 1,26.27; 1 Kor 6,9-11; 1 Tim 1,10).

3.3.4    Verurteilt die Liebe niemand?

In gleicher Weise können biblische Gebote und Verbote nicht mit Hinweis auf das Liebesgebot entwertet oder relativiert werden. So schreibt der bayrische Regionalbischof Christoph Schmidt: „Der höchste Maßstab, den Jesus uns gegeben hat, ist der Maßstab der Liebe, der Liebe zu Gott und den Mitmenschen“. Er erkennt darin den „menschlichen Gott“, der die Liebe homosexueller Paare nie verurteilen würde. Die Schrift müsse immer vom Liebesgebot her gelesen werden, um menschliche Gedanken von Gottes Willen zu unterscheiden, da die Autoren der Bibel auch ihre „manchmal allzu menschlichen“ Wünsche und Sehnsüchte in die Schrift eingetragen hätten.[16] Es zeigt sich hier, dass heute ein humanistisches Verständnis von Liebe in die Bibel hinein getragen wird. Danach ist die Liebe eine Eigenschaft, die alles toleriert, gutheißt und niemanden verurteilt. Die Liebe Gottes ist jedoch eine ganz andere Liebe. Sie hasst die Sünde und liebt den Sünder. Sie weiß um die Verlorenheit und Verdammnis des Sünders. Sie warnt den Sünder vor dem Weg des Verderbens und opfert sich für seine Sünde auf bis hin zum Tod (Joh 3,16). Die Liebe Gottes heißt die Sünde niemals gut, sondern bietet einen Weg der Umkehr und der Erneuerung an. Die Liebe Gottes führt den Sünder in den Schutzraum der Gebote Gottes. Dementsprechend stehen Liebesgebot und Dekalog in der Bibel in einem unauflöslichen Zusammenhang und bedingen einander (5 Mose 5,6-22; 6,4-9; Joh 14,15; Röm 13,8-10).

3.3.5    Der Blick auf die Humanwissenschaften

In seiner Abschlusserklärung schreibt Bischof Bohl, dass die Ergebnisse humanwissenschaftlicher Untersuchungen zum Thema Homosexualität umstritten seien. Es bestünde aber Einvernehmen darüber, dass 1-4% der Bevölkerung so geprägt sind und dass es Menschen gibt, die homosexuell veranlagt sind und „aus dieser Haut nicht heraus können und wollen, weil die ganze Person entsprechend geprägt ist“[17] Noch deutlicher wird der sächsische Landessuperintendent Dr. Peter Meis: „Wenn Paulus … solchen Geschlechtsverkehr als ‚widernatürlich‘ verdammt, so ahnt er nichts von der Komplexität des Phänomens und der Vielgestaltigkeit der sexuellen Anlagen, wie sie heutige Wissenschaft erkennt.“[18] Hier wird der Versuch sichtbar, den biblischen Text mit Hilfe einer außerbiblischen Instanz umzudeuten. Der exegetische Befund wird den Auffassungen der Wissenschaft geopfert, mögen diese auch noch so umstritten sein. Paulus sagt dagegen deutlich, dass einige der Korinther homosexuell gelebt haben, davon aber frei wurden (1 Kor 6,9-11). Und der Herr sagte zu den Sadduzäern: „Ihr irrt, weil ihr weder die Schrift kennt noch die Kraft Gottes“ (Mt 22,29) Die Unkenntnis der Heiligen Schrift führt heute zu einer falschen Bewertung praktizierter Homosexualität, und das mangelnde Vertrauen in die verändernde Kraft des Evangeliums führt zu der falschen Annahme, dass Veränderung von tiefliegenden Prägungen nicht möglich sei.

4          Schlussbemerkung

Die Autorität der Heiligen Schrift erschließt sich allein aus ihrem Selbstzeugnis. Sie enthält nicht nur Gottes Wort, sondern sie ist in ihrer Ganzheit Gottes Wort. Die Erfüllung biblischer Prophetien untermauert die Autorität der Schrift. Staunend erkennen wir, dass Gott voraussagt und erfüllt. Empirisch beweisbar ist die Autorität der Schrift nicht. Doch dem, der glaubt, öffnet Jesus Christus das Verständnis für die Schrift und ihre Autorität. In der Beugung unter das Wort und im Gehorsam gegenüber dem Wort findet der Mensch die Liebe Gottes und die Kraft des rettenden Evangeliums. Der Glaubende kann mit Luther fröhlich sagen: „Die Heilige Schrift ist die Königin – sie muss herrschen, und alle müssen ihr gehorchen und untergeben sein.“[19]

Johann Hesse, Geschäftsführer des Gemeindehilfsbundes

Quelle: „Aufbruch“ – Informationen des Gemeindehilfsbundes April 2013


[1] Evangelische Schriftauslegung, Hrsg. Joachim Cochlovius/Peter Zimmerling, Brockhaus Verlag, Wuppertal 1987, S. 172.

[2] Ebenda, S. 173.

[3] Ebenda, S. 177.

[4] Johannes Calvin, Institutio, I,7,4

[5] Vgl. dazu auch den reformatorischen Grundsatz: „Sola scriptura – tota scriptura“

[6] Gerhard Maier, Biblische Hermeneutik, 2. überarb. Auflage, Brockhaus Verlag, Wuppertal 1991, S. 101.

[7] Johannes Calvin, Institutio, I,7,4

[8] Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 1963, S. 75.

[9] Gerhard Maier, Biblische Hermeneutik, 2. überarb. Auflage, Brockhaus Verlag, Wuppertal 1991, S. 153

[10] EVLKS, Erklärung des Landesbischofs anlässlich der Klausurtagung der Kirchenleitung am 20./21.1.2012 zum Umgang mit Homosexualität, S. 3.

[11] Ebenda, S. 2.

[12] Superintendent Dr. Peter Meis, Theologische Überlegungen zur Homosexualität im Römer- und 1. Korintherbrief. Eine Gesprächsvorlage für die Arbeitsgruppe, S. 3.

[13] Gerhard Maier, Biblische Hermeneutik, 2. überarb. Auflage, Brockhaus Verlag, Wuppertal 1991, S. 103

[14] EVLKS, Abschlussbericht der Arbeitsgruppe der Kirchenleitung Homosexualität im biblischen Verständnis, S. 18.

[15] EVLKS, Erklärung des Landesbischofs anlässlich der Klausurtagung der Kirchenleitung am 20./21.1.2012 zum Umgang mit Homosexualität, S. 2.

[16] Regionalbischof Christoph Schmidt, Brief an die Pfarrerschaft des Dekanats Uffenheim (28. Februar 2011) (www.dekanat-uffenheim.de)

[17] EVLKS, Erklärung des Landesbischofs anlässlich der Klausurtagung der Kirchenleitung am 20./21.1.2012 zum Umgang mit Homosexualität, S. 5

[18] Superintendent Dr. Peter Meis, Theologische Überlegungen zur Homosexualität im Römer- und 1. Korintherbrief. Eine Gesprächsvorlage für die Arbeitsgruppe, S. 2.

[19] Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 1963, S. 74.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 16. Mai 2013 um 10:39 und abgelegt unter Kirche, Sexualethik, Theologie.