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Der 23. Psalm

Mittwoch 15. August 2012 von Charles Haddon Spurgeon (1834-1892)


Charles Haddon Spurgeon (1834-1892)

Dieser Psalm hat, abgesehen von der kurzen Angabe des Verfassers, keine Überschrift, und er hat keine nötig; denn er berichtet kein besonderes Ereignis und bedarf zu seinem Verständnis keinen andern Schlüssel als den, welchen jeder Christ in seinem eigenen Herzen findet. Der Psalm ist Davids Himmlisches Pastorale oder Hirtengedicht, ein unvergleichliches Stück wahrer Poesie, das von keinem Erzeugnis der Dichtkunst je übertroffen werden kann. Die Kriegstrompete weicht hier der Friedensschalmei und der Sänger, der soeben ein Klaglied über die Leiden des Hirten angestimmt hat, führt uns hier in melodischen Tönen die Freude der Herde vor. Wir stellen uns bei diesem Psalm David vor, wie er, Bunyans Hirtenknaben im Demutstal gleich, von seiner Herde umgeben unter einem schattigen Baume sitzt und da dies unvergleichliche Hirtenlied anstimmt, das Herz zum Springen voll von heiliger Freude. Oder wenn dieser Psalm, und das hat ja mehr Wahrscheinlichkeit für sich, eine Frucht des späteren Lebens Davids ist, so sind wir gewiss, dass seine Seele sich sinnend an die einsamen Wasserbäche zurückversetzte, die auf den Auen der Wüste rieselten, wo er in seinen jungen Tagen zu weilen gepflegt hatte. Dieser Psalm ist die Perle der Psalmen, die mit ihrem milden, reinen Glanze jedes Auge erfreut; eine Perle, deren der Helikon1 sich nicht zu schämen brauchte, obwohl der Jordan sie für sich beansprucht. Von diesem köstlichen Gesang darf man behaupten, dass sein Inhalt eben so reich an tief innerlicher Frömmigkeit ist, wie seine Form von vollendeter dichterischer Schönheit ist. An Lieblichkeit der Töne und an geistlicher Tiefe steht er unerreicht da.

Die Stelle, die dem Psalm angewiesen ist, ist der Beachtung wert. »Die Anordnung,« sagt Delitzsch, »könnte nicht sinniger sein, als dass nun auf den Psalm, der von einem großen der Menschheit zugerichteten Gnadenmahle redet, ein Psalm folgt, der Jahwe preist als Hirt und Wirt der Seinen.« Für uns als Christen bietet sich noch eine andere Betrachtung dar. Erst nachdem wir uns in das »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« vertieft haben, kommen wir zu dem »Der Herr ist mein Hirte«. Wir müssen die Leiden des Erlösers in ihrer Bedeutung für uns würdigen gelernt haben, ehe wir fähig sind, die Süßigkeit der Fürsorge des guten Hirten ganz zu schmecken.

Man hat gesagt, was die Nachtigall unter den Vögeln, das sei dieses Lied unter den Psalmen. In der Tat haben seine Töne schon, ach, wie manchem Betrübten in tränenvollen Nächten wunderlieblich ins Ohr geklungen und ihm Hoffnung auf einen freudevollen Morgen ins Gram beschwerte Herz hineingesungen. Und ich möchte es wagen, den Psalm der Lerche zu vergleichen, die singend sich gen Himmel schwingt und immer höher steigt und singt und singt, und selbst dann noch ihr fröhliches Schmettern hören lässt, wenn sie im Azurblau des Himmels den menschlichen Blicken entschwunden ist. Man beachte die Schlussworte des Psalms: »Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar«. Das sind himmlische Töne, mehr geeignet für die ewigen Wohnungen droben als für unsere ärmlichen Hütten hienieden. O dass wir so recht in den Geist des Psalms eindringen möchten, während wir ihn betrach­ten! Dann werden wir Himmelswonne auf Erden schmecken.

Auslegung

1. Der Herr ist mein Hirte;

mir wird nichts mangeln.

2. Er weidet mich auf einer grünen Aue,

und führt mich zum frischen Wasser;

3. er erquickt meine Seele;

er führt mich auf rechter Straße

um seines Namens willen.

4. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,

fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir;

dein Stecken und Stab trösten mich.316

5. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.

Du salbst mein Haupt mit Öl,

und schenkst mir voll ein.

6. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen

mein Leben lang,

und werde bleiben im Hause des Herrn

immerdar.

1. Der Herr ist mein Hirte. Welche Herablassung ist es, dass Jahwe, der Allerhabene, seinem Volk gegenüber den Namen und das Amt des Hirten annimmt! Es sollte uns mit dankbarer Verwunderung erfüllen, dass der große Gott sich jede Vergleichung gefallen lässt, die geeignet ist, seine große Liebe und zärtliche Sorgfalt für die Seinen ins Licht zu stellen. David hatte in seiner Jugend selbst die Schafe seines Vaters gehütet und hatte daher volles Verständnis sowohl für die Bedürfnisse der Schafe als auch für die vielen Sorgen und Mühen eines Hirten. Er vergleicht sich selber mit einem so schwachen, wehrlosen und törichten Geschöpf, wie es das Schaf ist, und blickt zu Gott auf als seinem Versorger, Erhalter, Führer, kurz, seinem Alles. Niemand hat aber das Recht, sich als des Herrn Schäflein zu betrachten, es sei denn, dass seine Natur durch die Gnade umgewandelt worden ist; denn die unbekehrten Menschen schildert die Schrift nicht als Schafe, sondern als Wölfe oder als Böcke. Das Schaf gehört zu den Haustieren; es ist Eigentum eines Herrn, nicht ein wildes Tier. Sein Eigentümer hält es wert und manchmal ist es um teuren Preis erkauft. Es ist ein köstliches Ding, so gewiss wie David zu wissen, dass wir dem Herrn angehören. Ein edler Ton der Zuversicht klingt uns in diesen Worten entgegen. Da gibt es kein Wenn und kein Aber, nicht einmal ein »Ich hoffe«, sondern kurz und klar bekennt er: Der Herr ist mein Hirte. Diese Gesinnung vertrauensvoller Abhängigkeit von unserem himmlischen Vater sollen wir pflegen. Am lieblichsten klingt in dem ganzen Satz das kleine Wörtlein »mein«. David sagt nicht: Der Herr ist der Hirt der ganzen Welt und leitet die unzählbaren Scharen als seine Herde, sondern: Der Herr ist mein Hirte; wenn er auch keines andern Hirte wäre, ist er doch mein Hirte. Er sorgt für mich, er hat auf meine Schritte Acht und erhält mich. Ferner: Er ist mein Hirte – jetzt, in der Gegenwart. In welcher Lage immer der Gläubige sein mag, er steht dennoch gerade jetzt unter der Hirtenfürsorge Jahwes.

Die nächsten Worte sind eine Schlussfolgerung aus dem ersten Satz. Klar und bündig spricht Davids Glaube – es sind im Hebräischen nur zwei Worte –: Mir wird nichts mangeln. Sonst würde ich wohl Mangel leiden; aber ist der Herr mein Hirte, dann wohl mir! Er ist im Stande, für alle meine Bedürfnisse zu sorgen, und am Willen fehlt es ihm sicher nicht, denn sein Herz ist voller Liebe; darum wird mir nichts mangeln. Es wird mir an zeitlichen Gütern nicht fehlen. Nährt er nicht die Raben und lässt er nicht die Lilien auf dem Felde wachsen? (Luk. 12,24. 27.) Wie könnte er denn sein Kind umkommen lassen? Aber auch im Geistlichen wird mir nichts mangeln. Ich weiß, dass seine Gnade für mich genügt. (2.Kor. 12,9 Grundtext) Traue ich auf ihn, so wird er mir zusprechen: Wie dein Tag, so soll auch deine Kraft sein.2 Mag sein, dass ich nicht alles habe, was ich wünsche; aber mangeln wird mir nichts, was mir wirklich notwendig und heilsam ist. Andere, die viel reicher und weiser sind als ich, mögen Mangel leiden; aber ich nicht. Reiche müssen darben und hungern; aber die den Herrn suchen, haben keinen Mangel an irgendeinem Gut (Ps.34,11). David sagt nicht nur: Mir mangelt nichts, sondern: Mir wird nichts mangeln. Mag kommen, was da will; mag eine Hungersnot das Land verwüs­ten oder ein Unglück die Städte zerstören, mir wird nichts mangeln. Das Alter mit seinen Gebrechen wird daran nichts ändern, ja selbst der Tod mit seiner Düsternis wird mich nicht verlassen finden. Ich habe alles und habe überflüssig (Phil. 4,1, vergl. V. 10-20); nicht darum, weil ich etwa einen reichen Geldvorrat auf der Bank habe, nicht weil ich gescheit und gewandt genug bin, mir mein Brot zu erwer­ben, sondern weil der Herr mein Hirte ist. Die Gottlosen haben immer Mangel, die Gerechten nie. Das Herz des Sünders ist nie befriedigt, aber die begnadigte Seele wohnt in dem Palast der göttlichen Zufriedenheit.

2. Er weidet mich auf einer grünen Aue, und führt mich zum frischen Wasser. Das christliche Leben hat zwei Elemente in sich, das beschauliche und das tätige, und für beide ist reichlich gesorgt. Zuerst das beschauliche: Auf Auen frischen Grüns lässt er mich lagern (wörtlicher). Was anders haben wir unter diesen saftig grünen Auen zu verstehen als das Wort der Wahrheit? Das ist allezeit frisch, bietet allezeit kräftige Kost und ist nie zu erschöpfen. Da ist wahrlich kein Mangel zu befürchten, wo das Gras so hoch steht, dass die Schafe sich gemächlich darin lagern können. Die evangelische Wahrheit ist eine süße, fette Weide, so gute Nahrung für die Seelen, wie das zarte, weiche Gras für die Schafe. Wenn wir durch den Glauben auf den Verheißungen ruhen, gleichen nur den Schafen, die sich auf der Weide lagern; wir finden da beides, Ruhe und Genuss, Nahrung und Erquickung, süßen Frieden und Stillung unserer Bedürfnisse. Man beachte aber: Er lagert mich auf grünen Auen. Es ist der Herr, der uns in seiner Gnade in Stand setzt, die Köstlichkeit seiner Wahrheit zu erkennen und uns daran zu nähren. Wie dankbar sollten wir sein, wenn es uns geschenkt wird, die Verheißungen uns anzueignen! Gibt es doch so manche verwirrte Seelen, die Welten dafür geben würden! Sie wissen, wie köstlich es ist, aber sie können dies Glück nicht ihr eigen nennen. Sie kennen die grünen Auen, aber es ist ihnen unmöglich, sich auf ihnen zu lagern. Gläubige, die sich lange Jahre einer vollen Zuversicht des Glaubens erfreut haben, sollten Gott für die ihnen widerfahrene Gnade hoch preisen.

Das zweite Stück gesunden christlichen Lebens ist Tätigkeit. Wir denken nicht nur, wir handeln auch. Nicht immer ruhen wir in behaglichem Genuss auf den fetten Weiden, sondern wir wandern auch dem Ziele der Vollkommenheit zu. Darum lesen wir weiter: Er leitet mich an den stillen Wassern. Was sind diese stillen Wasser anders als die sanften Einflüsse und Gnadenwirkungen des heiligen Geistes, der darin dem Wasser vergleichbar ist, dass auch er reinigt, erfrischt, fruchtbar macht und am Leben erhält. Stille Wasser sind es, denn der heilige Geist ist ein Geist des Friedens und der Stille: Er stößt nicht prahlerisch ins Horn, wo er wirkt. Er mag sich in unsere Seele ergießen, ohne dass unser Nachbar etwas davon mitbekommt; darum mag es sein, dass unser Nachbar nichts von Gottes Nähe spürt, ja, der Geist des Herrn mag ein Herz in Strömen überfluten und doch mag der, der unmittelbar neben dem so reich Begnadeten sitzt, nichts davon merken. Stille Wasser sind tief. Nichts macht mehr Lärm als eine hohle Trommel. Wie köstlich ist die feierliche Stille, in der sich der heilige Geist den Seelen offenbart! Nicht zu den ungestümen Wogen des Streits und Haders, sondern zu den friedlichen Wassern der heiligen Liebe führt der Geist des Herrn die Schafe. Die Taube, nicht der Adler, ist sein Sinnbild; der Tau, und nicht der Wolkenbruch. Unser Hirt führt uns zu diesen stillen Wassern: wir könnten den Weg zu ihnen nicht finden. Er leitet uns sanft und sorgsam wie der Hirt die Herde (vergl. 1. Mose 33,14; Jes. 40,11), nicht hetzt und jagt er uns. Mose treibt uns durchs Gesetz, Jesus leitet uns freundlich durch sein Vorbild und die sanfte Zugkraft seiner Liebe.

3. Er erquickt meine Seele. Wenn unsere Seele von Kummer und Sorgen matt wird, belebt er sie; wenn Sünden sie drücken, heiligt er sie; wenn Schwäche sie beugt, kräftigt er sie. Er tut‘s. Seine Diener vermögen es nicht, wenn er es nicht selber täte. Sein Wort als Buchstabe, ohne die lebendig machende Wirksamkeit seines Geistes, könnte solches auch nicht ausrichten. Er erquickt meine Seele, d. h. wörtlich: er führt sie zurück, nämlich zu neuer Lebenskraft. (vergl. zu Ps. 19,8) Fühlst du, dass der Puls deines geistlichen Lebens nur schwach geht? Er kann ihn wieder beleben. Flehe denn zu ihm um neue Lebenskraft!

Er leitet mich in den Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen. Dem Christen ist es eine Freude, dem Herrn zu gehorchen; es ist aber eben der Gehorsam aus dankbarer Liebe, wozu er sich durch das Beispiel seines Meisters verbunden fühlt: Er leitet mich. Der Christ gehorcht nicht einigen Geboten und vernachlässigt andere; er wählt nicht einige heraus, sondern leistet allen Verordnungen seines Herrn willig Folge. Man beachte, dass die Mehrzahl gebraucht ist: die Pfade oder Spuren der Gerechtigkeit. Was immer Gott uns tun heißt, das tun wir gerne; leitet uns doch seine Liebe. Manche Christen übersehen es, welches Glück in der Heiligung liegt, und doch ist einem von Grund aus erneuerten Herzen gerade die Heiligung eine der köstlichsten Bundesgnaden. Wenn es uns auch möglich wäre, von dem zukünftigen Zorn erlöst zu werden und dabei unwiedergeborene, unbußfertige Sünder zu bleiben, so wäre eine solche Erlösung nicht nach unserem Wunsch; denn wir sehnen uns vor allem danach, von der Sünde erlöst (Matth. 1,21) und auf den Weg der Heiligkeit gebracht zu werden. Alles dies geschieht rein aus freier Gnade: um seines Namens willen. Die Ehre unseres großen Hirten ist das Ziel, um dessentwillen wir ein heiliges Volk sein und auf dem schmalen Pfade der Gerechtigkeit wandeln sollen. Lasst uns nicht versäumen, die Fürsorge unseres himmlischen Hirten anzubeten, die uns dazu führt.

4. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück: denn Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Dieser unvergleichlich köstliche Vers ist an unzähligen Sterbebetten schon gesungen worden und hat dazu beigetragen, das »finstere Tal« licht zu machen. Jedes Wort birgt einen Reichtum tiefer Bedeutung in sich. Ob ich schon wanderte – es ist, als beschleunigte der Gläubige seinen Schritt nicht im mindesten in Hast und Unruhe, wenn es zum Sterben geht, sondern als setzte er ganz ruhig seine Wanderschaft an Gottes Hand fort. Wandern bezeichnet den gemessenen Schritt einer Seele, die ihren Weg kennt, weiß, wohin er führt, und darum entschlossen ist, den Pfad bis an sein Ziel zu verfolgen; die sich ganz sicher fühlt und daher vollkommen ruhig und gesammelt ist. Das sterbende Gotteskind ist nicht in Aufregung; es rennt nicht, als wäre es in Schrecken, noch steht es still, als wollte es nicht weiter; es ist weder bestürzt, noch beschämt; darum hält es den gewohnten Schritt ein. Es geht ja nur durchs finstere Tal, wir bleiben nicht darin. Wir wandern durch die dunkle Schlucht des Todes und treten plötzlich in das helle Licht der Unsterblichkeit. Wir sterben nicht, sondern legen uns nur schlafen, um in der Herrlichkeit zu erwachen.

Der Tod ist nicht das Haus, sondern die Vorhalle; nicht das Ziel, sondern der Durchgang, der dazu führt. Das Sterben wird hier ein Wandern durch ein Tal genannt. Auf den Bergen bricht der Sturm los, aber das Tal ist der Ort der Stille: So sind oft die letzten Tage und Stunden des Christen die friedevollsten seines ganzen Lebens. Die Bergeshöhen sind rauh und kahl; aber das Tal ist voller goldner Garben: So hat auch mancher Jünger des Herrn mehr Freude und Erkenntnis eingeheimst, als es zum Sterben ging, als je in seinem Leben. Sodann heißt es nicht: das Tal des Todes, sondern: das Tal des Todesschattens – das ist uns köstlich, die wir wissen, dass der Tod in der Tat seinem Wesen nach abgetan und nur sein Schatten übrig geblieben ist. Einer hat gesagt, wo Schatten sei, da müsse auch Licht sein; und so ist es hier. Der Tod steht an der Seite der Straße, die wir zu wandeln haben, und das himmlische Licht, das auf den Tod strahlt, wirft dessen Schatten auf unsern Pfad; lasst uns also fröhlich sein, dass jenseits des Todes das Licht scheint. Kein Mensch fürchtet sich vor einem Schatten; denn ein Schatten kann niemand auch nur für einen Augenblick den Weg versperren. Der Schatten eines Hundes kann nicht beißen, der Schatten eines Schwertes kann nicht töten, der Schatten des Todes kann uns nicht verderben; darum lasst uns vor ihm keine Furcht hegen. Fürchte ich kein Unglück. (Buchstäblich: fürchte ich nichts Böses.) David sagt nicht, es werde in jenem dunkeln Tal nichts Böses sein; aber er fürchtet es nicht. Der Christ weiß, dass Jesus allen Gefahren die Spitze abgebrochen hat; ja, selbst die Furcht, jener Schatten des Unheils, mag völlig verschwinden. Die schlimmsten Übel sind diejenigen, die gar nicht vorhanden sind, außer in unserer Einbildung. Wenn wir uns an den wirklichen Übeln genug sein ließen, würden wir nicht den zehnten Teil der Sorgen haben, die uns jetzt bedrücken. Wir erleiden tausend Tode, indem wir den einen fürchten; David aber war von dem Übel der Furcht geheilt. Der Glaube spricht: Nicht fürcht‘ ich Böses – auch nicht den Bösen selber; ich will mir vor dem letzten Feind nicht grauen lassen, sondern auf ihn als einen überwundenen, der Vernichtung anheim gegebenen Widersacher herabsehen, denn Du bist bei mir. Das ist‘s, was den Christen so fröhlich macht: Du bist bei mir. Das Kindlein dort draußen auf sturmbewegter See wird nicht von Angst gepeinigt wie all die andern Reisenden an Bord. Es schlummert süß in seiner Mutter Schoß, es ist ihm genug, dass seine Mutter bei ihm ist; und es sollte dem Gläubigen genug sein zu wissen, dass Christus bei ihm ist. Du bist bei mir und weil ich Dich habe, habe ich alles, was ich nur wünschen kann; ich habe überreichen Trost und bin unbedingt sicher, weil Du bei mir bist. Dein Stecken und Stab, womit du deine Herde leitest und beschützest, sie, die Sinnbilder deiner Oberhoheit und deiner liebreichen Fürsorge, trösten mich. Ich will‘s glauben, dass du mich auch jetzt, im dunkeln Tal, leitest. Dein sanfter Hirtenstab waltet über mir; kein Feind wird mich überwältigen, kein Unglück mich befallen können.

Manche Leute sagen, dass ihnen die Hoffnung, nicht sterben zu müssen, viel Trost gewähre. Sicherlich wird es etliche geben, die da »leben und überbleiben auf die Zukunft des Herrn (1.Thess. 4,15); aber bietet es wirklich so viele Vorzüge, vom Tode verschont zu werden, dass der Christ das zum Gegenstand seines sehnlichen Verlangens machen soll? Ein weiser Mann könnte von den beiden wohl das Sterben wählen; denn diejenigen, die nicht entschlafen, sondern bei dem Ton der letzten Posaune verwandelt werden, werden in gewisser Hinsicht eher etwas verlieren als gewinnen: Sie gehen der Ähnlichkeit mit Christus im Grabe verlustig, die die sterbenden Gläubigen genießen, und Paulus bezeugt an jener Stelle ausdrücklich, dass sie denen, die schlafen, nicht zuvorkommen, also vor ihnen keinen Vorzug haben werden. Lasst uns die Gesinnung eben jenes Knechtes Christi teilen, der gesagt hat: Sterben ist mir Gewinn (Phil. 1,21), und lasst uns mit ihm Lust haben abzuscheiden und bei Christus zu sein, was viel besser ist (V. 23). Unser Psalmvers ist nicht alt und abgenutzt; er klingt dem Gläubigen noch heute so lieblich ins Ohr, wie zu Davids Zeiten, mögen Leute, die nach Neuem haschen, sagen, was sie wollen.

5. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Der gute Mensch hat Feinde. Er wäre seinem Herrn nicht ähnlich, wenn er keine hätte. Wäre jedermann mit uns gut Freund, so hätten wir wohl Ursache, zu fürchten, dass wir zu Gottes Freunden nicht gehören; denn der Welt Freundschaft ist Gottes Feindschaft (Jak. 4,4). Sieh aber, wie ruhig der Gottesfürchtige trotz seiner Feinden, ja angesichts derselben ist. Wie erquickend ist es, diese ruhige Tapferkeit wahrzunehmen! Du bereitest vor mir einen Tisch. Wenn der Krieger die Feinde vor Augen hat, lässt er die Speise unberührt oder wenn er isst, verschlingt er doch nur hastig einige Bissen und eilt in den Kampf. David aber sagt: Du bereitest vor mir einen Tisch – gerade wie in stiller Friedenszeit die Magd zu einem häuslichen Fest das Damasttuch auf dem Tisch ausbreitet und die Tafel zurichtet. Da ist keine Eile, keine Verwirrung, keine Störung. Der Feind ist vor der Tür; dennoch bereitet Gott den Tisch und der Christ setzt sich an Gottes Tafel und genießt der Speise, als ob alles lauter Friede wäre. Wie köstlich ist die Seelenruhe, die der treue Bundesgott den Seinen auch inmitten der trübsten Umstände verleiht! Mag die ganze feindliche Welt in Waffen starren, in den Hütten der Gerechten ist der Friede Gottes.

Du salbest mein Haupt mit Öl.

Mögen wir täglich im Genuss dieses Segens leben, eine frische Salbung für die Pflichten jedes Tages zu empfangen. Jeder Christ ist ein Priester; aber ohne Salbung kann er seines Priesteramts nicht walten. Darum müssen wir Tag für Tag zu Gott dem heiligen Geiste nahen, dass unser Haupt mit heiligem Öl gesalbt werde. Ein Priester ohne Salböl entbehrt des allerersten Erfordernisses für sein Amt; und der Priester des neuen Bundes ermangelt der Hauptbedingung zur Tauglichkeit für den Dienst Gottes, wenn er nicht stets mit neuer Gnade von oben gesalbt wird.

Und schenkst mir voll ein – und mehr als das; denn der Grundtext lautet wörtlich: Mein Becher ist Überfluss. David hatte nicht nur genug, sondern mehr als genug; sein Becher war nicht nur voll, er floss über. Das kann der Arme, der an Gottes Tisch sitzt, ebenso sagen wie der Reiche. »Wie, all dies und Jesus Christus dazu?«, sagte die Bewohnerin einer armseligen Hütte, während sie ein Stück trockenen Brots zu einem Becher kalten Wassers genoss. Ein anderer mag noch so reich sein, – ist er unzufrieden, so kann sein Becher doch nicht überlaufen, denn er hat einen Sprung und leckt. Zufriedenheit ist der Stein der Weisen, der durch seine Berührung alles in Gold verwandelt; glücklich, wer ihn gefunden hat. Zufriedenheit ist mehr als ein Königreich; es ist ein anderes Wort für Glückseligkeit.

6. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang. Dies ist eine Tatsache, die eben so unbestreitbar als ermutigend ist; darum ist ein Fürwahr oder Wahrlich als himmlisches Siegel darauf gedrückt. Wir mögen den Satz aber auch lesen: Nur Gutes und Barmherzigkeit usw.; denn Gnade und nichts als Gnade wird der Inhalt der ganzen Geschichte unseres Lebens sein. Glück und Gnade, diese beiden Zwillingsengel, werden mich allezeit geleiten und mir auf Schritt und Tritt folgen. Wenn Fürsten sich irgendwohin begeben, gehen sie nie ohne Gefolge; so ist es mit dem Gläubigen. Gutes und Barmherzigkeit folgen ihm allezeit – alle Tage seines Lebens (wörtl.), sie geleiten ihn schützend und segnend sowohl an dunkeln als auch an heiteren Tagen, an Fasttagen wie an Festtagen, sowohl in der trüben Winterzeit als auch im lichten Sommer. Das Glück folgt uns, so dass alles Gute uns in den Schoß fällt, und die Barmherzigkeit tilgt unsre Sünden. Und werde bleiben8 im Hause des Herrn immerdar. Der Knecht bleibt nicht ewig im Hause; der Sohn bleibt ewig. (Joh. 8,35.) Solange ich auf dieser Erde bin, will ich als Kind im Hause meines Vaters daheim sein: die ganze Welt ist für mich sein Haus. Und wenn ich einst in das himmlische Gemach da droben einziehe, werde ich meine Gesellschaft nicht ändern, ja nicht einmal das Haus wechseln: Ich werde nur ins höhere Stockwerk des Hauses Gottes ziehen, um da zu bleiben immerdar.

Möge Gott uns Gnade schenken, allezeit in der heitern Himmelsluft dieses Psalms zu bleiben.

Quelle: Charles H. Spurgeon, Die Schatzkammer Davids

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 15. August 2012 um 17:30 und abgelegt unter Predigten / Andachten.