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Tabu Abtreibung

Donnerstag 9. August 2012 von ZEIT online


ZEIT online

Schwangerschaftsabbrüche sind zwar möglich, aber längst nicht unproblematisch. Denn viele Frauen lassen der Trauer keinen Raum. Sie fühlen sich schuldig und allein. Vor sechs Jahren stand Susanne M. am Fenster ihres Schlafzimmers und wollte hinunter springen. Sie hatte eine Panikattacke. Nur wenige Stunden zuvor hatte sie, auf Drängen ihrer Eltern und dem Vater des Kindes, ihre Schwangerschaft abgebrochen. Sie selbst wollte ihr Kind behalten, obwohl sie alleinerziehend war und bereits vier Kinder groß zog. „Ich hatte nur zwei, drei Wochen Zeit bis zur Entscheidung“, sagt die Ärztin. „Aber nur mit Abstand und Zeit findet man andere Lösungen.“

Die Sozialpädagogin Petra Herrmann erlebt diesen enormen Druck bei allen Frauen, die zu ihr in die Schwangerschaftskonfliktberatung des Diakonischen Werks Leipzig kommen. Manchmal üben andere Druck aus, Partner oder Eltern wie bei Susanne M. Viele Frauen glauben auch, dass sie sich ganz schnell entscheiden müssten, einerseits um wieder arbeiten zu können, andererseits um die Entscheidung hinter sich haben. „Es braucht aber Zeit, eine so wichtige Entscheidung zu treffen und sie sollte nicht unter Druck getroffen werden. Auch der Partner ist entscheidend“, sagt Herrmann. „Wenn sich Frauen für einen Abbruch entscheiden, brauchen sie für die Verarbeitung auch im Nachgang Zeit, da kann eine Krankschreibung hilfreich sein. Auch da erleben wir Druck.“

Susanne M. erzählt: „Es ist ein kleiner Eingriff mit großen Folgen. Ich habe mich nach dem Abbruch sehr verändert. Ich hatte über Jahre Schlafstörungen, weinte aus heiterem Himmel, lebte wie ein Roboter.“

Ein weiteres Problem ist, dass nach dem Abbruch die Frauen und Männer meist allein mit ihrer Entscheidung sind. Abtreibungen sind legal, und doch spricht fast niemand öffentlich darüber. Über Todesfälle in der Familie können Hinterbliebene reden. Für Eltern, die eine Fehl- oder Totgeburt erlebt haben, gibt es Hilfsgruppen. Gruppen für Abtreibungen gibt es so gut wie nicht. Und die, die existieren, werden kaum angenommen.

Seit 1996 gab es knapp zwei Millionen Schwangerschaftsabbrüche, beinahe jede sechste Frau hat in Deutschland abgetrieben. Doch viele Frauen sprechen nicht einmal mit ihrer Familie oder mit ihren engsten Freunden darüber. In ihrem Umfeld stoßen sie auch häufig auf Unverständnis, erklärt Professor Anette Kersting, Leiterin der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. „Viele Menschen verstehen nicht, dass Frauen zu ungeborenen Kindern eine intensive Beziehung aufbauen können, auch wenn sie sich entscheiden, die Schwangerschaft abzubrechen.“

Freunde und Familienmitglieder sind häufig überfordert, schweigen lieber, vor allem wenn sie selbst eine Abtreibung hinter sich haben. Susanne M. hat auch diese Erfahrung gemacht. „Eine Freundin blieb hartnäckig und hakte nach. Ich erzählte und erfuhr, dass sie mit 18 auch abgetrieben hatte. Ihre Erinnerungen kamen wieder hoch. Wir sprachen aber nur dieses eine Mal darüber.“

„Meine Kinder haben mich danach immer wieder gefragt: Mama warum weinst Du? Ich konnte es ihnen nicht sagen“, sagt sie. Erst der Kontakt zu anderen betroffenen Frauen in einem Verein, der Menschen zusammenbringt, die abgetrieben haben, bot ihr den Austausch, den sie brauchte.

Wissenschaftliche Studien zu Schwangerschaftsabbrüchen gibt es kaum. Eine der wenigen ist eine Studie der Uniklinik Leipzig. Demnach leiden 17 Prozent aller Frauen, die aus medizinischen Gründen abgetrieben haben, 14 Monate später an schweren psychischen Erkrankungen wie Depression, Angst- oder Zwangsstörungen. Doch „diese Situation ist nur bedingt mit den Frauen vergleichbar, die aus persönlichen Gründen die Schwangerschaft beendet haben. Denn in medizinischen Fällen handelt es sich um ein Wunschkind“, erklärt Professor Anette Kersting. „Die Eltern stehen vor der schrecklichen Entscheidung, ihr ersehntes Kind abzutreiben oder es Stunden oder Tage nach der Geburt sterben zu lassen. Eine gute Lösung gibt es da nicht.“

Nicht jede Frau, die ihre Schwangerschaft aus persönlichen Gründen abgebrochen hat, leidet also unter dieser Entscheidung. Petra Herrmann von der Diakonie Leipzig sagt: „Wie es ihr nach dem Abbruch geht, hängt von der Klarheit und Eigenständigkeit der Entscheidung ab, von dem Erleben des Abbruchs überhaupt und von dem sozialen Umfeld, in dem sie lebt. Nicht jede Frau trauert, manche sind auch erleichtert und manche trauern intensiv.“ Wie Susanne M. Auch die Folgen sind unterschiedlich: Manche werden körperlich oder seelisch krank, andere bleiben gesund.

Ansprechpartner für die, denen es schlecht geht, sind zwar die Beratungsstellen für die Schwangerschaftskonfliktberatung. „Natürlich können die Frauen und Männer auch nach dem Abbruch zu uns kommen“, sagt Petra Herrmann. „Wir weisen die Frauen im Konfliktgespräch auch darauf hin. Unmittelbar nach dem Abbruch kommen aber nur wenige Frauen zu uns. Eher ist das ein Thema in späteren Beratungen in einem anderen Kontext, wie Probleme in der Partnerschaft oder unerfüllter Kinderwunsch.“ Das Diakonische Werk bietet in Leipzig auch eine Gesprächsgruppe an, doch nur wenige nehmen das Angebot an. Susanne M. erklärt: „Es ist etwas anderes als eine Fehlgeburt, ich habe die Entscheidung getroffen, ich habe Schuld am Tod meines Kindes“. Auch andere Frauen fühlen sich so nach der Abtreibung schuldig, viele schweigen deshalb.

Susanne M. redet heute öffentlich über ihren Abbruch und engagiert sich dafür, dass auch in Schulen über das Thema gesprochen wird. „Abtreibungen gibt es überall, in jeder Schicht, in jeder Altersgruppe, in jeder Religion. Sie hinterlässt immer Spuren.“

ZEIT ONLINE 3.8.12

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 9. August 2012 um 10:33 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Lebensrecht, Sexualethik.