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Zum Schriftverständnis in der Evang.-Luth. Kirche Sachsens

Mittwoch 18. Juli 2012 von Andreas Rau


Andreas Rau

Zum Schriftverständnis in der Evang.-Luth. Kirche Sachsens

Fliegende Heißluft-Ballons lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: A) solche, die z. B. durch ein Seil mit der Erde verbunden sind, und B) solche, bei denen diese Verbindung gelöst ist. Die von A) werden vom Wind hin und her bewegt, doch ihre Reichweite ist begrenzt – eben durch das Seil, an dem sie befestigt sind. Die Reichweite von B) dagegen ist unbegrenzt; das Seil ist durchgetrennt und so können sie fliegen, wohin der Wind sie weht. So weit sie wollen.

Ähnlich ist es mit dem Schriftverständnis. Es gibt eines, A), das ist an den Wortlaut der Bibel gebunden. Und es gibt ein anderes, B), dort ist diese Verbindung gelöst. Bei dem von A) gibt es viele Fragen, Meinungsverschiedenheiten usw.; dennoch hängt es fest am konkreten Text: an den Worten in der heiligen Schrift. Das Seil, das ihre Reichweite begrenzt, heißt: „Es steht geschrieben!“

Bei B) hat man dieses Seil zerschnitten. Die Scheren, die dafür verwendet werden, sind zahlreich und tragen klangvolle Namen. Es gibt welche, die sind für die Wissenschaft an den Universitäten bestimmt. Man hört von Fachausdrücken wie „Rezeptions-Ästhetik“, „Text-Pragmatismus“, „kontextuelle Theologie“ … Sie alle gehören wohl in den Besteck-Kasten „historisch-kritische Methode“. Für den alltäglichen Gebrauch in den Gemeinden hat man einen anderen Kasten; einen mit eher schlichten, aber frommen Scheren: „was Christum treibet“, „die Mitte der Schrift“, „der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“, „Gottes Wort ist Mensch geworden nicht Buch“, „die Bibel ist kein papierner Papst“ …

All diese Scheren haben bei B) nur eine Funktion: Sie relativieren konkrete Aussagen der Heiligen Schrift. Oder bezeichnen sie gleich als ungültig. An die Stelle von „Es steht geschrieben!“ setzen sie „Sollte Gott gesagt haben?“. Diese Frage wirkt dann wie ein Windstoß, der den hermeneutischen Ballon weit über die Bibel dahin trägt – weg von den Aussagen, die dem Theologen unangenehm sind, und hin zu anderen, die ihm besser gefallen.

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Die Kirchenleitung der  Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens hat im Oktober 2010 eine Arbeitsgruppe eingesetzt: „Homosexualität in biblischem Verständnis“. Diese hat Ende 2011 einen Abschlussbericht vorgelegt. Darin „wird festgehalten, dass die im Alten Testament beschriebenen homosexuellen Handlungen durchweg negativ als gottwidriges und schöpfungswidriges Verhalten von Männern beurteilt werden. (…) Bei den in 3. Mose 20 aufgelisteten Tabus handelt es sich für die in der Thora angesprochenen Israeliten nicht nur um ein soziales oder natürliches Regelwerk, sondern um von Gott gesetzte Schöpfungsordnungen.“(1) Weiter heißt es: „Im Neuen Testament gibt es ebenfalls keine positiven Aussagen zur Homosexualität“.(1) Dazu werden Rö. 1, 18 – 3, 20, 1. Kor. 6, 9 und 1. Tim. 1, 10 erläutert, wo dieses Thema zumindest berührt und entsprechende Praktiken sehr kritisch bewertet werden. Folglich kamen die Vertreter von A) „zu dem Ergebnis, dass gelebte Homosexualität mit dem Willen Gottes nicht übereinstimmt.“(1)

Die von B) aber nahmen ihre frommen Scheren und schnippelten drauf los: „Reformatorischer Erkenntnis zufolge, ist Christus die ‚Mitte der Schrift’.’“ … „Was Christum treibet“ … „Wir aber sind Diener des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2. Kor. 3,6) … „christuszentrierter Maßstab“ … „in der heiligen Schrift ist es das beste, den Geist vom Buchstaben zu unterscheiden“ … „von der Mitte, was Christus lehrt und predigt“ … „in Christus gründende Freiheit“ …(1)  Solcherart losgelöst vom „Es steht geschrieben!“ flogen sie über dem „Gesamtzeugnis der Schrift“ dahin und gaben „zu bedenken, dass der Geist Gottes verletzt wird und die notwendige Unterscheidung von Geist und Buchstabe missachtet wird, wenn grundsätzlich die verantwortlich in Liebe, Treue und Fürsorge gelebte Homosexualität als Sünde bezeichnet wird … Auch die gelebte Homosexualität untersteht dem Liebesgebot und somit dem Anspruch und Zuspruch Gottes.“(1) 

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„Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“ Doch um sich an etwas hängen zu können, braucht das Herz einen Aufhänger. Der Mensch braucht etwas, an das er sich klammern kann im Leben und im Sterben; einen festen Punkt, der Halt bietet auch in schweren Zeiten. Glaube braucht ein Fundament, auf dem er gegründet ist.

Lesen ist „Sinngewinnung aus Zeichen“. Deshalb lese ich die Bibel. Die Zeichen darin sind es, aus denen ich „Sinn“ und Ziel und Trost und Hoffnung gewinne. Die Buchstaben in der Heiligen Schrift sind Gottes Zeichen für mich. Sie sind das „Wort Gottes“. Durch sie hindurch spricht Gott zu mir. „Es steht geschrieben!“ ist der feste Punkt, der mir Halt bietet im Leben. Auf die von Gott gegebenen Zeichen stütze ich mich, wenn der Boden unter meinen Füßen wankt. Sie sind es auch, woran ich mich klammern will, wenn es ans Sterben geht. Die Buchstaben in der Bibel sind das Fundament meines Glaubens.

Das B)-Schriftverständnis verwirft dieses Fundament. Es distanziert sich vom Buchstaben. Es löst den Sinn vom Zeichen und fliegt mit ihm frei dahin an einen anderen Ort. Den nennt man „Geist“ oder „die Mitte der Schrift“ oder „was Christum treibet“ oder wie auch immer. Doch dieser Ort ist nirgends eindeutig bestimmt. Er bleibt schwammig, nebulös und unverbindlich. Letztlich ist „Sinn“ hier ins Ermessen des Theologen gestellt. Deshalb dürfte der wirkliche Name dieses Ortes lauten: „Der Theologe meint!“. In der Folge ist auch der Glaube, den B) mir anbietet, nicht eindeutig bestimmt. Ich empfinde ihn als schwammig, nebulös und unverbindlich. Mein Herz findet dort keinen Halt. Da ist nichts, woran es sich hängen könnte; kein fester Punkt, an den ich mich klammern könnte im Leben und im Sterben.

Nun ist Homosexualität nur ein Randthema. Als Laie kann ich es weder sachlich noch theologisch beurteilen. Doch es gibt Dinge, da kann ich mir ein begründetes Urteil bilden. Zum Beispiel: In unserer Kirche erheben sich allen Ortes Stimmen, die bestreiten, „dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift“. Das ist schon traurig genug. Noch schlimmer allerdings ist, dass kein Bischof oder Kirchenleitung oder Synode aufsteht und eindeutig klarstellt: „Wir Christen glauben an das Lamm Gottes, das der Welt Sünde getragen hat! Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.“

Ähnlich ergeht es allen Grundfragen unseres Glaubens. Nicht nur „geboren von der Jungfrau Maria“ sondern das ganze Glaubensbekenntnis wird uminterpretiert. Von „Gott den Vater, den Allmächtigen“ bis hin zu „Auferstehung der Toten und das ewige Leben“ – die einstmals klaren, eindeutigen Worte wurden aufgeweicht zu schwammigen, unverbindlichen Allgemeinplätzen. Verbindliche, belastbare Aussagen sind in unserer Kirche Mangelware. Es scheint, als könne jeder das Bekenntnis genau so deuten, wie er oder sie es gerade braucht. Selbst „Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“, wurde so zu einem schwammigen, unverbindlichen Etwas. Er gilt weithin als eine „kerygmatische“ Gestalt: Sehr vieles, was wir über ihn wissen, hätten sich die ersten Christen nur ausgedacht; d. h. es sei frei erfunden (z. B. das leere Grab am Ostermorgen). Folglich fliegt auch dieser kerygmatische „Christus“ frei dahin; richtiger: er kann immer genau dorthin getrieben werden, wo der jeweilige Theologe ihn haben will.

Die evangelisch-lutherische Kirche war immer meine Kirche. Sie ist es noch immer. Ich werde wohl auch so schnell nicht austreten. Doch mit deren B)-Theologie verbindet mich praktisch nichts mehr. Sie steht für einen Glauben, der nicht der meine ist. Auch schwindet mein Vertrauen in „die Amtskirche“ immer mehr. Die Gemeinden brauchen dringend geistliche Orientierung, geistliche Autoritäten – eben „geistliche Leitung“. Doch wo ist die zu finden? Stattdessen bietet unsere Kirche „Pluralität“. Auf deutsch heißt das wohl: Sie gleicht geistlich einer Herde ohne Hirten – schwammig, nebulös und unverbindlich.

(In Klammer noch eine sehr persönliche Anmerkung: Der Streit um die Homosexualität wurde aus Politik und Gesellschaft in die Kirche hereingetragen. Also könnte man ehrlicherweise argumentieren, dass man den Entwicklungen dort folgen wolle. Doch stattdessen werden theologische Begründungen aufgeboten und der Sinneswandel fromm verbrämt. So manche der ach so tiefgläubigen Rechtfertigungen riechen deshalb nach Heuchelei und Zynismus. Und dieser Geruch macht alles noch viel, viel schlimmer. Klammer zu.)

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Es bleibt die Frage: „Worauf soll der Glaube ruhn?“ Theologie ist eine hohe Wissenschaft an hohen Universitäten. Kirchenpolitik ist eine hohe Kunst im Schatten hoher Dome. Dort mag man Verwendung haben für einen frei und hoch fliegenden Glauben auf der Basis „Der Theologe meint“! In den Niederungen des Alltagslebens sieht das anders aus. Hier brauche ich einen Glauben, der konkret und belastbar ist. Ich brauche einen Gott, den ich beim Wort nehmen kann. Doch das kann ich nur, wenn er mir sein Wort gibt. Und dieses konkrete, verbindliche Wort Gottes finde ich in den Buchstaben der Heiligen Schrift – oder ich finde es nirgendwo. Wenn unsere Kirche Bestand haben will, dann nur auf dem Fundament, das sich seit fast 2000 Jahren bewährt hat, das uns heute tragen kann und in Ewigkeit bestehen wird: „Es steht geschrieben!“

A. Rau; Juli 2012, rau@DerLaie.com, www.DerLaie.com

(1) Abschlussbericht der Arbeitsgruppe der Kirchenleitung „Homosexualität in biblischem Verständnis“, nachzulesen unter http://www.evlks.de/doc/Abschlussbericht_komplett.pdf

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 18. Juli 2012 um 9:55 und abgelegt unter Kirche, Sexualethik, Theologie.