So hat es Luther nicht gemeint
Donnerstag 16. Dezember 2010 von Pfr. Dr. Jochen Teuffel

So hat es Luther nicht gemeint
Der evangelische Gottesdienst ist heute nicht mehr auf Christus ausgerichtet, sondern auf eine triviale Idee von Freiheit. Das Reformationsjubiläum kann abgesagt werden.
Sechs Jahre noch, dann wird das fünfhundertste Jubiläum der Reformation in Deutschland ganz groß gefeiÂert werden. Zur Einstimmung darauf wurÂde bereits 2008 eine Lutherdekade mit wechselnden Jahresthemen ausgerufen. Das kennt man aus dem Vereinsleben: Wo in Sachen eigener Vergangenheit beÂsonders ausgiebig jubiliert wird, ist man in der Gegenwart mit den eigenen AktiviÂtäten dank Überalterung und Mitgliederschwund ziemlich am Ende.
Der Abgesang auf die Volkskirche wird als Basso continuo die Lutherdekade beÂgleiten, bevor dann am 31. Oktober 2017 in Wittenberg eine Farce zur Aufführung kommt: In einer Stadt, in der Kirche im Verschwinden begriffen ist — kaum mehr als ein Prozent der dortigen Bevölkerung nimmt noch sonntags am Gottesdienst teil —, soll in aller Öffentlichkeit einer idenÂtitätsstiftenden Kirchenreform gedacht werden. Dass dieses Schauspiel inszeniert werden kann, verdankt sich dem Jahresthema der Lutherdekade für 2011 — „ReforÂmation und Freiheit“. Was der bürgerliche Protestantismus in Sachen Reformation zu gedenken weiß, ist die Emanzipation aus kirchlicher Bevormundung, so wie dies ja schon der Philosoph Hegel zur SpraÂche gebracht hat: „Dies ist der wesentliche Inhalt der Reformation; der Mensch ist durch sich selbst bestimmt, frei zu sein.“
Freiheit um Christi Willen
Wird Reformation als Freiheitsereignis verstanden, fühlt sich das spätmoderne Bürgertum trotz aller Kirchendistanz anÂgesprochen. In der Tat hat die ReformatiÂon in Deutschland das mittelalterliche Corpus Christianum konfessionell aufgeÂsprengt. Diese sakrale Einheit von KirÂche und Gesellschaft verdankte sich eiÂner fragwürdigen kollektiven ChristianiÂsierungsÂpraxis. Im frühen Mittelalter wurÂden Menschen in Gefolgschaft ihrer Stammesfürsten in passiver Weise „beÂkehrt“. Über mehr als ein Jahrtausend hinweg gab es in Europa keine gesellÂschaftliche Existenz außerhalb der KirÂche. Durch Glaubenszwang, PflichtbeichÂte, Sonntagspflicht sowie Kirchenzucht wurde eine öffentliche Regelkonformität in Sachen Christentum erzwungen.
Es war die reformatorische Botschaft von der Rechtfertigung allein aus GlauÂben, die menschlichen Ordnungen in der Kirche ihre vermeintliche HeilsnotwenÂdigkeit genommen hat. Damit wurde langfristig die gesellschaftliche AusbilÂdung moderner Freiheitsrechte beförÂdert. Und dennoch steht die „Freiheit eiÂnes Christenmenschen“, wie sie von MarÂtin Luther propagiert wurde, weder für bürgerliche Freiheit noch für religiöse Freisinnigkeit. Luther zufolge ist dem durch und durch sündigen Menschen die wirkliche Freiheit nicht angeboren. Er hat auch kein eigenes Recht darauf, vor dem dreieinigen Gott frei zu sein. Wer aus eigenen Stücken sich selbst für frei erklärt, wird in Wirklichkeit vom Teufel geÂritten. Die wahre Freiheit ist eine im Evangelium zugesagte Freiheit „um Christi Willen“, der immer wieder aufs Neue zu glauben ist. Nur dort, wo MenÂschen in Wort und Sakrament an das PaÂscha-Mysterium Christi gebunden sind, ereignet sich evangelische Freiheit, die von menschlichen Satzungen und GeboÂten unabhängig macht. So spricht es ja auch der Apostel Paulus aus: „Sei es Welt, Leben oder Tod, sei es GegenwärtiÂges oder Zukünftiges: Alles ist euer, ihr aber gehört Christus.“
Wo jedoch das kollektive Gedächtnis einer bürgerlichen Gesellschaft von der mittelalterlichen Zwangskollektivierung in einer hierarchischen Kirche voreingeÂnommen ist, kann die evangelische DiaÂlektik der Freiheit keine Geltung entfalÂten. Stattdessen sucht sich der bürgerliÂche Protestantismus guten Gewissens von der kirchlichen Gemeinschaft zu susÂpendieren und beruft sich dazu auf LuÂther als vermeintlichen Ahnherrn religiöÂser Selbstbestimmung. Dabei wird an Stelle des zugesprochenen Glaubens ein subjektives Glaubensbewusstsein apoÂstrophiert, das keine fremde Autorität anerkennt: Was ich für mich selbst zu glauben weiß, muss ich mir von niemanÂdem gesagt sein lassen. Die christusbeÂstimmte Lehre von der Rechtfertigung alÂlein aus Glauben wird zur kultfreien LebenszuverÂsicht trivialisiert, die sich an eiÂner vermeintlich freiheitsstiftenden GotÂtesidee denkerisch festmacht.
Wird Rechtfertigung des Sünders alÂlein aus Glauben als menschenmögliche Idee missverstanden und damit nicht länÂger als göttliches Geschehen zugesagt, kann man sich guten Gewissens von der kirchlichen Gemeinschaft emanzipieÂren. Was selbst gedacht werden kann, muss eben nicht gemeinschaftlich geÂhört oder getan werden. Auf Liturgie lässt sich also selbstgewiss verzichten.
Protestanten sind so frei, sich guten Gewissens einer — im wahrsten Sinne des Wortes — asozialen Religiosität zu verschreiben. Wer sich als religiöser AuÂtist den Kirchgang erspart, scheint die protestantische Freiheit in besonderer Weise zu realisieren. Kein Wunder, dass Sonntagsgottesdienste im Durchschnitt von weniger als vier Prozent der KirchenÂmitglieder besucht und — entgegen reforÂmatorischer Intention — überwiegend ohne Abendmahl gefeiert werden. Und wenn Kindertaufen anstehen, werden diese als liebevolle Familienevents inszeÂniert. Ist religiöse Eigensinnigkeit erst einmal zum kirchlichen Maßstab erhoben, kann man nicht anders denn auf Ästhetik (für das Bildungsbürgertum) und Gefälligkeit (für das Volk) setzen.
Allenfalls dann, wenn in LebenskriÂsen die eigenreligiöse KontingenzbewälÂtigung versagt, darf es in der Kirche – oder zumindest am Grab – pastoral-tröstÂlich zugehen. Wenn es jedoch ums Geld geht, hört die protestantische Freiheit auf. Trotz aller religiösen UnverbindlichÂkeit muss auch der Protestant seiner „KirÂche der Freiheit“ (Wolfgang Huber) fiÂnanziellen Tribut zollen. An Stelle freiÂwilliger Gaben wird in Form der KirchenÂsteuer eine öffentlich-rechtliche Zwangsabgabe erhoben, der man sich nur durch Kirchenaustritt vor dem Standesamt entÂziehen kann.
Der bürgerliche Protestantismus steht für eine neuplatonisch geprägte Weltanschauung mit Dienstleistungsservice für besondere Anlässe und hat mit der KirÂche der Reformation wenig gemein. Schließlich ging es den Reformatoren im sechzehnten Jahrhundert primär um eine evangeliumsgemäße Reform der KirÂche an Haupt und Gliedern und nicht etwa um eine freisinnige Emanzipation von der Kirche. So erklärt denn auch LuÂther im Großen Katechismus, dass der Heilige Geist „uns zuerst in seine heilige Gemeinde führt und in den Schoß der Kirche legt, durch welche er uns predigt und zu Christus bringt“. Die Kirche gilt als „Mutter, welche einen jeden Christen zeugt und trägt durch das Wort Gottes“.
Freisinnigkeit als Dogma
Nach Luther ist also Christsein nur in der Lebensgemeinschaft Kirche möglich. Folgerichtig ist in den Verfassungen der evangelischen Landeskirchen die geÂmeinschaftliche Regelbindung auf ChrisÂtus explizit ausgesprochen. Evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer sind bei ihrer Ordination öffentlich verpflichtet worÂden, „das anvertraute Amt in Gehorsam gegen Gott in Treue zu führen, sowie das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und im BeÂkenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche bezeugt ist, rein zu lehren“. Doch in der Praxis wird genau diese gemeinÂschaftliche Regelbindung der Ideologie religiöser Freisinnigkeit geopfert. Da können dann Pfarrer in kirchlichen PubliÂkationen oder von der Kanzel herab mit aller Selbstgewissheit behaupten, der Kreuzestod Jesu enthalte keine HeilsbotÂschaft, ohne dass derartige RegelverstöÂße kirchlich beanstandet werden.
Solange man Kirche als weltanschauliÂches Unternehmen missversteht, das auf einer Gottesidee sowie je eigenen religiösen Vorstellungen basiert, kann der ReÂformation nicht wirklich gedacht werÂden. Wäre man in der Evangelischen KirÂche in Deutschland (EKD) ehrlich zu sich selbst, müsste das ReformationsjubiÂläum kirchenintern abgeblasen werden. Nur so bliebe eine peinliche SelbstinszeÂnierung religiöser Freisinnigkeit in kleriÂkalem Gewande erspart.
Das würde jedoch mitnichten ein Aus für das Reformationsjubiläum 2017 beÂdeuten. Schließlich gibt es ja landeskirchÂliche Gemeinden, Freikirchen und pietisÂtische Gemeinschaften, die dem Erbe der Reformation sehr wohl treu geblieÂben sind. Und selbst die römisch-katholiÂsche Kirche kann dem Anliegen der ReÂformation einiges abgewinnen; schließ- lich hat sich deren liturgische ErneueÂrung im letzten Jahrhundert auf die Christusgemeinschaft hin ausgerichtet. Da mag es Sonderlehren geben, die evanÂgelische Christen mit gutem Grund für sich nicht anzunehmen wissen, dennoch steht die römisch-katholische Kirche in ihrer lehramtlichen Christuszentrierung der Reformation näher als ein freisinniÂger Protestantismus.
Ecclesia semper reformanda – Kirche ist immer zu reformieren, um dem EvanÂgelium treu zu bleiben. Was ansteht, ist eine umfassende Kirchenreform hin zur Gemeinschaftskirche ohne KirchensteuÂern. Andernfalls wird die vermeintliche Volkskirche in einem zivilreligiösen Paganismus aufgehen. Dann wird man auch in Kirchen einen Heidenspaß haÂben – aber der lässt das eigene Leben am Ende ins Leere laufen.
Jochen Teuffel ist evangelischer Gemeindepfarrer in Vöhringen/Iller. Im vergangenen Jahr veröffentÂlichte er das Buch „Mission als Namenszeugnis – Eine Ideologiekritik in Sachen Religion“.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Mittwoch, 15. Dezember 2010, Nr. 292, Seite 33.
Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 16. Dezember 2010 um 16:22 und abgelegt unter Kirche, Theologie.