So hat es Luther nicht gemeint
Der evangelische Gottesdienst ist heute nicht mehr auf Christus ausgerichtet, sondern auf eine triviale Idee von Freiheit. Das Reformationsjubiläum kann abgesagt werden.
Sechs Jahre noch, dann wird das fünfhundertste Jubiläum der Reformation in Deutschland ganz groß gefeiert werden. Zur Einstimmung darauf wurde bereits 2008 eine Lutherdekade mit wechselnden Jahresthemen ausgerufen. Das kennt man aus dem Vereinsleben: Wo in Sachen eigener Vergangenheit besonders ausgiebig jubiliert wird, ist man in der Gegenwart mit den eigenen Aktivitäten dank Überalterung und Mitgliederschwund ziemlich am Ende.
Der Abgesang auf die Volkskirche wird als Basso continuo die Lutherdekade begleiten, bevor dann am 31. Oktober 2017 in Wittenberg eine Farce zur Aufführung kommt: In einer Stadt, in der Kirche im Verschwinden begriffen ist — kaum mehr als ein Prozent der dortigen Bevölkerung nimmt noch sonntags am Gottesdienst teil —, soll in aller Öffentlichkeit einer identitätsstiftenden Kirchenreform gedacht werden. Dass dieses Schauspiel inszeniert werden kann, verdankt sich dem Jahresthema der Lutherdekade für 2011 — „Reformation und Freiheit“. Was der bürgerliche Protestantismus in Sachen Reformation zu gedenken weiß, ist die Emanzipation aus kirchlicher Bevormundung, so wie dies ja schon der Philosoph Hegel zur Sprache gebracht hat: „Dies ist der wesentliche Inhalt der Reformation; der Mensch ist durch sich selbst bestimmt, frei zu sein.“
Freiheit um Christi Willen
Wird Reformation als Freiheitsereignis verstanden, fühlt sich das spätmoderne Bürgertum trotz aller Kirchendistanz angesprochen. In der Tat hat die Reformation in Deutschland das mittelalterliche Corpus Christianum konfessionell aufgesprengt. Diese sakrale Einheit von Kirche und Gesellschaft verdankte sich einer fragwürdigen kollektiven Christianisierungspraxis. Im frühen Mittelalter wurden Menschen in Gefolgschaft ihrer Stammesfürsten in passiver Weise „bekehrt“. Über mehr als ein Jahrtausend hinweg gab es in Europa keine gesellschaftliche Existenz außerhalb der Kirche. Durch Glaubenszwang, Pflichtbeichte, Sonntagspflicht sowie Kirchenzucht wurde eine öffentliche Regelkonformität in Sachen Christentum erzwungen.
Es war die reformatorische Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Glauben, die menschlichen Ordnungen in der Kirche ihre vermeintliche Heilsnotwendigkeit genommen hat. Damit wurde langfristig die gesellschaftliche Ausbildung moderner Freiheitsrechte befördert. Und dennoch steht die „Freiheit eines Christenmenschen“, wie sie von Martin Luther propagiert wurde, weder für bürgerliche Freiheit noch für religiöse Freisinnigkeit. Luther zufolge ist dem durch und durch sündigen Menschen die wirkliche Freiheit nicht angeboren. Er hat auch kein eigenes Recht darauf, vor dem dreieinigen Gott frei zu sein. Wer aus eigenen Stücken sich selbst für frei erklärt, wird in Wirklichkeit vom Teufel geritten. Die wahre Freiheit ist eine im Evangelium zugesagte Freiheit „um Christi Willen“, der immer wieder aufs Neue zu glauben ist. Nur dort, wo Menschen in Wort und Sakrament an das Pascha-Mysterium Christi gebunden sind, ereignet sich evangelische Freiheit, die von menschlichen Satzungen und Geboten unabhängig macht. So spricht es ja auch der Apostel Paulus aus: „Sei es Welt, Leben oder Tod, sei es Gegenwärtiges oder Zukünftiges: Alles ist euer, ihr aber gehört Christus.“
Wo jedoch das kollektive Gedächtnis einer bürgerlichen Gesellschaft von der mittelalterlichen Zwangskollektivierung in einer hierarchischen Kirche voreingenommen ist, kann die evangelische Dialektik der Freiheit keine Geltung entfalten. Stattdessen sucht sich der bürgerliche Protestantismus guten Gewissens von der kirchlichen Gemeinschaft zu suspendieren und beruft sich dazu auf Luther als vermeintlichen Ahnherrn religiöser Selbstbestimmung. Dabei wird an Stelle des zugesprochenen Glaubens ein subjektives Glaubensbewusstsein apostrophiert, das keine fremde Autorität anerkennt: Was ich für mich selbst zu glauben weiß, muss ich mir von niemandem gesagt sein lassen. Die christusbestimmte Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben wird zur kultfreien Lebenszuversicht trivialisiert, die sich an einer vermeintlich freiheitsstiftenden Gottesidee denkerisch festmacht.
Wird Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben als menschenmögliche Idee missverstanden und damit nicht länger als göttliches Geschehen zugesagt, kann man sich guten Gewissens von der kirchlichen Gemeinschaft emanzipieren. Was selbst gedacht werden kann, muss eben nicht gemeinschaftlich gehört oder getan werden. Auf Liturgie lässt sich also selbstgewiss verzichten.
Protestanten sind so frei, sich guten Gewissens einer — im wahrsten Sinne des Wortes — asozialen Religiosität zu verschreiben. Wer sich als religiöser Autist den Kirchgang erspart, scheint die protestantische Freiheit in besonderer Weise zu realisieren. Kein Wunder, dass Sonntagsgottesdienste im Durchschnitt von weniger als vier Prozent der Kirchenmitglieder besucht und — entgegen reformatorischer Intention — überwiegend ohne Abendmahl gefeiert werden. Und wenn Kindertaufen anstehen, werden diese als liebevolle Familienevents inszeniert. Ist religiöse Eigensinnigkeit erst einmal zum kirchlichen Maßstab erhoben, kann man nicht anders denn auf Ästhetik (für das Bildungsbürgertum) und Gefälligkeit (für das Volk) setzen.
Allenfalls dann, wenn in Lebenskrisen die eigenreligiöse Kontingenzbewältigung versagt, darf es in der Kirche – oder zumindest am Grab – pastoral-tröstlich zugehen. Wenn es jedoch ums Geld geht, hört die protestantische Freiheit auf. Trotz aller religiösen Unverbindlichkeit muss auch der Protestant seiner „Kirche der Freiheit“ (Wolfgang Huber) finanziellen Tribut zollen. An Stelle freiwilliger Gaben wird in Form der Kirchensteuer eine öffentlich-rechtliche Zwangsabgabe erhoben, der man sich nur durch Kirchenaustritt vor dem Standesamt entziehen kann.
Der bürgerliche Protestantismus steht für eine neuplatonisch geprägte Weltanschauung mit Dienstleistungsservice für besondere Anlässe und hat mit der Kirche der Reformation wenig gemein. Schließlich ging es den Reformatoren im sechzehnten Jahrhundert primär um eine evangeliumsgemäße Reform der Kirche an Haupt und Gliedern und nicht etwa um eine freisinnige Emanzipation von der Kirche. So erklärt denn auch Luther im Großen Katechismus, dass der Heilige Geist „uns zuerst in seine heilige Gemeinde führt und in den Schoß der Kirche legt, durch welche er uns predigt und zu Christus bringt“. Die Kirche gilt als „Mutter, welche einen jeden Christen zeugt und trägt durch das Wort Gottes“.
Freisinnigkeit als Dogma
Nach Luther ist also Christsein nur in der Lebensgemeinschaft Kirche möglich. Folgerichtig ist in den Verfassungen der evangelischen Landeskirchen die gemeinschaftliche Regelbindung auf Christus explizit ausgesprochen. Evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer sind bei ihrer Ordination öffentlich verpflichtet worden, „das anvertraute Amt in Gehorsam gegen Gott in Treue zu führen, sowie das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und im Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche bezeugt ist, rein zu lehren“. Doch in der Praxis wird genau diese gemeinschaftliche Regelbindung der Ideologie religiöser Freisinnigkeit geopfert. Da können dann Pfarrer in kirchlichen Publikationen oder von der Kanzel herab mit aller Selbstgewissheit behaupten, der Kreuzestod Jesu enthalte keine Heilsbotschaft, ohne dass derartige Regelverstöße kirchlich beanstandet werden.
Solange man Kirche als weltanschauliches Unternehmen missversteht, das auf einer Gottesidee sowie je eigenen religiösen Vorstellungen basiert, kann der Reformation nicht wirklich gedacht werden. Wäre man in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ehrlich zu sich selbst, müsste das Reformationsjubiläum kirchenintern abgeblasen werden. Nur so bliebe eine peinliche Selbstinszenierung religiöser Freisinnigkeit in klerikalem Gewande erspart.
Das würde jedoch mitnichten ein Aus für das Reformationsjubiläum 2017 bedeuten. Schließlich gibt es ja landeskirchliche Gemeinden, Freikirchen und pietistische Gemeinschaften, die dem Erbe der Reformation sehr wohl treu geblieben sind. Und selbst die römisch-katholische Kirche kann dem Anliegen der Reformation einiges abgewinnen; schließ- lich hat sich deren liturgische Erneuerung im letzten Jahrhundert auf die Christusgemeinschaft hin ausgerichtet. Da mag es Sonderlehren geben, die evangelische Christen mit gutem Grund für sich nicht anzunehmen wissen, dennoch steht die römisch-katholische Kirche in ihrer lehramtlichen Christuszentrierung der Reformation näher als ein freisinniger Protestantismus.
Ecclesia semper reformanda – Kirche ist immer zu reformieren, um dem Evangelium treu zu bleiben. Was ansteht, ist eine umfassende Kirchenreform hin zur Gemeinschaftskirche ohne Kirchensteuern. Andernfalls wird die vermeintliche Volkskirche in einem zivilreligiösen Paganismus aufgehen. Dann wird man auch in Kirchen einen Heidenspaß haben – aber der lässt das eigene Leben am Ende ins Leere laufen.
Jochen Teuffel ist evangelischer Gemeindepfarrer in Vöhringen/Iller. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er das Buch „Mission als Namenszeugnis – Eine Ideologiekritik in Sachen Religion“.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Mittwoch, 15. Dezember 2010, Nr. 292, Seite 33.