Joseph: So ist Versöhnung, so ist vergeben und verzeihn. (1. Mos 50,15-21)
Montag 27. Oktober 2025 von Prädikant Thomas Karker

In Joseph haben wir einen Mann, in dessen Leben sich Gott wunderbar verherrlichen konnte. Deshalb ist sein Leben der Betrachtung wert. Pharao gewann tiefe Eindrücke von seiner Persönlichkeit. Er sagte: „Solch ein Mann!“ Ebenso gewann er tiefe Eindrücke von seiner Religion, denn er fügte hinzu: „In dem der Geist Gottes ist.“ Die Schrift gibt der Geschichte Josephs einen bedeutenden Raum. Während sie von Abrahams Leben in 12, von Isaaks in 5 und von Jakobs in 9 Kapiteln redet, räumt sie Josephs Geschichte 13 Kapitel ein. Joseph stieg von einem Hirtenknaben zu einem Staatsmann, ja, zu einem Landesvater empor.
Wir wollen in drei Geschichten Josephs Leben ein wenig nachvollziehen: Heute achten wir auf:
- Josephs Jugendgeschichte.
- Josephs Leidensgeschichte
- Josephs Versöhnungsgeschichte
1. Josephs Jugendgeschichte.
Alles, was wir von Josephs Jugend wissen, war zur Entwicklung des jungen Mannes ungünstig. Er scheint vom Charakter mehr von seiner Mutter als von seinem Vater geerbt zu haben. Seine Charakterreinheit, verbunden mit hoher Naturbegabung, war das einzige Hoffnungsvolle, was wir bei ihm fanden. Alles Übrige war ungünstig.
- Joseph war im Alter geboren. Die Erfahrung lehrt, dass im Alter geborene Kinder gewöhnlich verzogen werden, weil die Charakterfestigkeit der Eltern abnimmt. Gott hat dem Rechnung getragen und vertraut daher dem Alter keine Kinder mehr an. Bei Manasse, der auch im hohen Alter dem Hiskia geboren wurde, sehen wir dasselbe. Je klarer die Erziehung ist, desto besser für das Kind. Diese klare Strenge fehlte Joseph.
- Gefahrvoll war weiter, dass Joseph früh mutterlos wurde. Joseph mag wohl 8 – 10 Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter starb. Wer kann den Verlust einer Mutter beschreiben, und wer kann eine Mutter ersetzen? Kein Mensch in der Welt tut für ein Kind, was die Mutter tut. Wir sollten unsere Eltern und unsere Mutter besonders hoch schätzen, lieben und Gott dafür danken.
- Das geteilte Familienleben wirkt sich negativ auf die Entwicklung Josephs aus. Es waren im gewissen Sinne vier Haushaltungen. Da war Leas Haushaltung, da war Silpas und Bilhas Haushaltung, und Rahels Haushaltung. Jeder sorgte für seine Kinder. Da Rahel gestorben war, sorgte Jakob für Joseph. Wo wir sonst noch in der Schrift geteiltem Familienleben begegnen, finden wir auch Streit, selbst den Fluch Gottes.
Wie dankbar sollten wir doch sein für ein gottwohlgefälliges Familienleben, das nach biblischer Ordnung eingerichtet ist und das seinen Ursprung schon im Paradies hat!
- Der Vater machte Joseph einen bunten Rock. Diese Torheit Jakobs war für Joseph sehr verhängnisvoll. Der bunte Rock bestand wahrscheinlich aus einem langen weißen Gewand mit bunten Stickereien. Solche Gewänder trugen Vornehme und Königskinder. Arbeitsleute dagegen trugen farbige kurze Gewänder, die für den Dienst in den Bergen und bei den Herden zweckmäßig waren. Der Vater erklärte im gewissen Sinne durch diesen „bunten Rock,“ dass sein bevorzugter Sohn Joseph von allen Arbeitsmühen frei sein sollte. Da des Vaters Wille in der damaligen Zeit Gesetz war und seine übrigen Söhne den Ernst dieser Bestimmung sehen mussten, entstand dadurch Feindschaft.
Es war merkwürdig, dass diese Torheit des Vaters, Joseph vorzuziehen, die ganze Familie durchzog. Sara achtete sehr darauf, dass Ismael nicht gleichgestellt werde mit Isaak. Sie erklärte bestimmt: „Dein Sohn soll nicht erben mit meinem Sohn.“ Isaak zog Esau, Rebekka Jakob vor, und Jakob zog wieder Joseph vor. Durch diese Bevorzugung der Kinder war in der Familie viel Kummer. Abraham wurde es schwer, sich von Ismael zu trennen, Rebekka wurde es schwer, sich von Jakob zu trennen, und Jakob wurde es schwer, sich von Joseph zu trennen. Alle diese schweren Stunden hätten die Familie sich ersparen können, wenn sie einzelne Kinder nicht bevorzugt hätte. Hüten wir uns also vor dem „bunten Rock!“ Wenn wir ihn einem Kind anziehen (vgl. Joseph), werden andere ihn ausziehen. Das Ausziehen ist aber nie so angenehm wie das Anziehen. Darum weg mit dem „bunten Rock“ in jeder Form!
- Durch des Vaters Torheit beneideten die Brüder Joseph. Wären sie weise gewesen, dann hätten sie einfach nur gewartet, bis die grellen Farben des bunten Rockes verblichen wären. Gott kann uns auch Gnade geben, den zu lieben, der den bunten Rock trägt. Die Brüder hatten kein Recht, Joseph zu richten. Unser Herr Jesus selbst wies das Unrecht zurück: „Habe Ich übel geredet, so beweise Mir, dass es böse sei; habe Ich aber recht geredet, was schlägst du Mich?“ Er richtet aber nicht, sondern stellt es dem anheim, der recht richtet. Beneide niemanden, der einen bunten Rock trägt.
- Zu dieser Torheit Jakobs kamen nun noch Josephs Träume. Wäre Joseph weise gewesen, so hätte er seine Träume für sich behalten und nicht erzählt. Aber dies ist die „Sturm- und Drangperiode,“ die wir alle kennen. Wenn wir Zukunftsschlösser bauen, dann meinen wir, ja besser zu sein als die anderen. Bevorzugungen, die uns von Gott oder Menschen werden, sollten wir lieber mit Demut und Dankbarkeit hinnehmen, als darüber zu reden. Diese Bescheidenheit musste Joseph noch lernen.
- Der Vater machte ihn zum Berichterstatter. Es ist möglich, dass Josephs hohe Begabung den Vater zu dieser Maßnahme veranlasste. Wir dürfen annehmen, dass Joseph die Erkundigungen einzog und die Berichte überbrachte, in des Vaters Auftrag. Auch diese Bevorzugung musste in dem jugendlichen Alter Josephs ungünstig auf seinen Charakter wirken.
Wir haben den Eindruck, dass alles, was Josephs Charakter günstig beeinflussen konnte, ihn weniger geprägt hat. Z.B. als er mit seinem Vater nach Beth-El kam, wo der Herr Jakob erschienen war, als er neben der Leiche seiner Mutter Rahel stand, die ja nicht in Machpela begraben wurde, wo Abraham, Rebekka und Isaak begraben waren. Der Ernst jener Augenblicke konnte bei der Jugend Josephs noch keine eindrückliche Wirkung ausüben. Deshalb musste Joseph in eine besondere Schule gehen, in der sein Charakter die Festigkeit erhielt, die für einen späteren Dienst nötig war. Der Herr wählte diese Schule nach Seiner Weisheit für Joseph aus. Sie befähigte ihn, später auf dem Throne Ägyptens zu sitzen, ohne in den Abgrund zu fallen.
2. Josephs Leidensgeschichte.
Jetzt betreten wir heiliges Land. Neben der Familienschule kommt Joseph jetzt in die Schule Gottes. Da müssen wir alle hindurch, um auf große Aufgaben und die Ewigkeit zubereitet zu werden. Das sind die Tage, in denen Ungöttliches ausgezogen und Göttliches angezogen wird. Jakob musste in der Leidensschule seines Lebens Unedles ausscheiden und Edles aufnehmen. In diese Schule ging Joseph 26 Semester, 13 lange Jahre. Er war 17 Jahre, als er hineintrat, und 30 Jahre, als er sein Examen machte. Er hat es aber auch gut bestanden.
2.1          Die erste Klasse in Josephs Leidensschule nennen wir Dothans Grube. Es war ein denkwürdiger Tag, als der Vater zu dem 17-jährigen Joseph sagte: „Komm, ich will dich zu ihnen senden.“ Die Herden Jakobs müssen sehr groß geworden sein, sonst würden sie sich wohl nicht bis nach Sichem ausgedehnt haben. In Sichem war ja damals das Blutbad angerichtet worden, als Jakob nach der Begegnung mit Esau dort Aufenthalt gemacht hatte. Hebron war zu eng geworden, sonst hätte Jakob seine Söhne gewiss nicht nach Sichem ziehen lassen. Es mag sein, dass Jakob lange nichts von seinen Söhnen gehört hatte. Deshalb sandte er seinen Sohn Joseph, um eine Nachricht über das Ergehen seiner Söhne einzuziehen. Wie gut war es doch, dass Joseph an jenem Morgen nicht wusste, was ihm begegnen würde, und welche Pläne seine Brüder verwirklichen würden! Wie gut ist es, dass wir nicht wissen, was die Zukunft uns bringt. In dem Verhüllen unserer Zukunft liegt viel göttliche Weisheit.
Als Joseph zu seinen Brüdern kam, stand Mord auf ihrem Tagesplan; sie nahmen ihn und warfen ihn unbarmherzig in eine Grube. Ach, was der Neid unter Brüdern doch anrichten kann! Aus dem Neid wurde Rache, und dieser Rache folgte große Schuld. Wir sollten jede sündliche Regung im Keime ersticken, sonst wirkt sie wie Schmutz in einer Wunde, der sich immer tiefer hineingräbt, die Umgebung entzündet und schließlich den ganzen Körper in Mitleidenschaft zieht.
Da war nun Joseph in der Grube, da stirbt er seiner Lieblingsstellung, da stirbt er seinen Träumen, da stirbt er seinen Hoffnungen. Alle Stützen brachen in wenigen Minuten zusammen, Joseph stand jetzt ganz allein. Nur Gott konnte ihm noch helfen, zu ihm nahm er seine Zuflucht. Alles wurde Joseph zertrümmert, ja, Gott schafft ein Neues.
2.2          Die zweite Klasse in Josephs Leidensschule nennen wir Sklavendienst. Das Vorhaben der Brüder war kein Spiel gewesen. Als sie eine Karawane erblickten, beschlossen sie gleich, Joseph als Sklaven zu verkaufen. Joseph bekommt Ketten an seine Hände und muss auf heißer Straße nach Ägypten ziehen. Joseph war keine Arbeit gewöhnt. Was muss dieser harte Dienst ihn bedrückt haben? Aber in Klagl. 3,27 lesen wir: „Es ist ein köstliches Ding einem Manne, dass er das Joch in seiner Jugend trage.“ Gott wählt oft nicht den angenehmsten Weg, aber immer den besten.
In Ägypten wird Joseph von Potiphar gekauft und tritt in den Dienst dieses Hauses ein. Bei Potiphar wird Joseph ein Segen. „Alles, was er tat, da gab der Herr Glück dazu.“ Joseph hatte angefangen, mit Gott zu rechnen, und jetzt erfuhr er den Segen der Gottseligkeit. Bei Joseph lernen wir, dass es nicht wichtig ist, was wir tun, aber wichtig, wie wir es tun. Durch einen kleinlichen Menschen wird alles Große klein, aber durch einen edlen Menschen wird alles Kleine groß. Ein treuer Joseph in Potiphars Hause und ein treuer Elieser in Abrahams Hause zu sein, ist so wichtig. Der Herr sagt: „Man erwartet von einem Haushalter nur, dass er treu erfunden werde.“
Aber dann: An einem Tage trat unverhofft eine scharfe Versuchung an Joseph heran. Die Versuchung wiederholte sich täglich. Und als niemand in Potiphars Hause war, war der Augenblick für Seine Frau sehr günstig, Joseph zu verführen. Alles tipptopp, keine Spuren werden hinterlassen. Die Schwere der Versuchung lag eben in dem beständigen Wiederkehren, dem selbst einst der starke Simson unterlag. Aber Joseph ließ seine Dankbarkeit gegenüber Potiphar und sein Gewissen vor Gott reden und sagte: „Wie sollte ich ein so großes Übel tun und wider Gott sündigen?“ Es ist merkwürdig, dass die Versuchungen gewöhnlich in unserem Glück und Wohlbefinden an uns herantreten. In der dunklen Nacht tragen wir das Schwert in der Hand, aber im sonnigen Tal machen wir es uns bequem. Ach, dass wir innerlich immer wachen würden! Hätte Joseph nachgegeben in der Versuchung, so hätte er einen scheinbaren Vorteil dadurch erlangt, aber Landesvater wäre er auch nie geworden.
2.3          Die dritte Klasse von Josephs Schule nennen wir das Gefängnis. Einige Jahre lang musste er noch im Gefängnis dienen und ausharren. Was waren die Gefängnisse für Löcher! Wir können uns von der schlechten Luft, der Art der Nahrung und der Behandlung keine Vorstellung machen, wenn wir das Bild unserer Gefängnisse vor Augen haben. Jedenfalls war Joseph mit Ketten an einen Steinpfeiler angeschlossen und hatte viel zu leiden. Das Schwierigste aber war nicht das äußere Ergehen, sondern Joseph war getäuscht in seinem religiösen Empfinden. Er hatte doch die Versuchung abgewiesen, war das nun der Lohn? Hatte nicht sein Vater ihm gesagt, Böses wird dem Bösen und Gutes dem Guten folgen? Was hatte er jetzt gewonnen? Eine scharfe Strafe und einen lebenslangen Makel! Gab es jetzt einen gerechten Gott? Das waren schwere Stunden und innere Kämpfe. Hier rebelliert unser Gerechtigkeitsgefühl! Wer ist nicht schon missverstanden worden, wessen Hoffnungen sind nicht schon vereitelt worden? Denken wir in solchen Stunden an Joseph im Gefängnis!
Das Gefängnis hatte aber für Joseph eine hohe Bedeutung. Er lernte durch die Begegnungen mit den gefangenen Hofbeamten das Hofleben, Geist und Sitte am Hofe kennen. Als er später vor Pharao trat, mussten seine angenehmen Formen Pharao sehr angenehm berühren. Er sagte: „Solch ein Mann!“ Weiter wurde Josephs Charakter fest. Wir wissen, dass er weichlich erzogen war. Seine feste Hand in der Regierung, der wir später begegnen, verdankte er auch dieser Schule. Vom Kreuz zur Krone.
Zuweilen gefällt es Gott, unser ganzes Leben mit Leiden auszufüllen, damit wir in Ewigkeit von Ihm geehrt werden können. Gott ist überall, nur nicht da, wo Sünde ist, und da Joseph keine Gemeinschaft mit der Sünde machte, heißt es: „Der Herr war mit ihm.“ Die größte Herrlichkeit im göttlichen Tun und Wesen erkennen wir oft nur in dunklen Stunden. Dunkle Zeiten sind Zeiten des Erkennens, wie das auch Johannes auf der Insel Patmos erfuhr.
Wie gereift Joseph geworden war, erkennen wir auch aus der Art seiner Rechtfertigung dem Schenken gegenüber. Dort klagt er nicht seine Brüder an oder beschuldigt Potiphars Frau, sondern er sagt: „Ich bin aus dem Lande der Hebräer heimlich gestohlen worden, dazu habe ich auch hier nichts getan, dass sie mich eingesetzt haben.“ Petrus sagt 1. Petri 2,20: „Wenn ihr um Wohltat willen leidet und erduldet, das ist Gnade von Gott.“ Diese Gnade hatte Joseph erfahren.
Nach dieser Leidensschule wurde Joseph herausgeführt. Jesus weiß immer, wann es Zeit ist, er ist der beste Pädagoge. Auch hier wusste er die geeignete Stunde. Jetzt erhält Joseph statt der schweren Kette eine goldene Kette, statt der Sklavenkleidung ein herrliches Kleid. Welch ein Lohn für das Beharren in der Versuchung! Wir werden diese Veränderung in Josephs Leben erst in der Ewigkeit recht verstehen können.
3. Josephs Versöhnungsgeschichte.
Jetzt erleben wir ein Meisterstück göttlicher Erziehungsarbeit. Das Examen Josephs. Nach der Erhebung Josephs war die Zeit weitergegangen. 9 Jahre hatte Joseph als Herrscher in Ägypten gestanden. 22 Jahre waren seit der Trauerbotschaft, die Jakob erhalten hatte, vergangen. Jakob war alt und gebrechlich geworden. Er war nicht nur wegen des hohen Alters gebrechlich, sondern vor allem wegen des tiefen Kummers über seinen verlorenen Sohn. Jakob soll die Freude haben, Joseph zu sehen, und alle seine Söhne sollen die Freude haben, Joseph zu sehen. Ehe sich Joseph ihnen aber offenbarte, mussten sie einen Weg gehen, der eine lehrreiche Schule sein dürfte für jeden, der den Herrn Jesus erkennen möchte. Diesen Weg wollen wir ins Auge fassen.
- Große Not führt Josephs Brüder nach Ägypten. So war’s beim verlorenen Sohn auch gewesen. Das tiefste Elend führte ihn wieder zum Vaterhaus, so war’s auch bei Manasse gewesen. Als er im Gefängnis schmachtete, flehte er zu dem Gott seiner Väter. Not war immer ein erfolgreicher Prediger, wohl der erfolgreichste von allen. Aber die Not Nummer 1 ist unser Problem mit der Schuld. Nicht das Brot. Nur wer die Schuldfrage lösen kann, kann auch die Magenfrage lösen. Die jahrzehntealte Schuld, die ließ sie nicht mehr schlafen. Zeit heilt keine Sünde! Die trieb sie jetzt vor den zum 2. Mann im Staat Ägypten aufgestiegenen Bruder. Diese Schuld trieb sie dazu, dass ihnen der schwerste Satz über die Lippen kam, den je ein Mensch über die Lippen bringen kann, nämlich: „Vergib mir meine Missetat. Vergib mir meine Missetat.“ Achten wir doch ja auf die Pläne Gottes in solchen Zeiten der Not.
- Weiter mussten die Brüder harte Behandlung erfahren. Sie wurden „Kundschafter“ genannt. Es ist möglich, dass Joseph sie so nannte, weil sie ihn auch so genannt hatten, als er damals in Dothan zu ihnen kam. Simeon wurde gebunden und ins Gefängnis gelegt, vielleicht deshalb, weil Simeon Joseph band und in die Grube warf. Ob’s so war? Vielleicht? Aber auffällig ist, dass bei der Art, wie Joseph mit seinen Brüdern umging, ihnen ihre Schuld vor ihre Seele trat. Unser Herr wird uns immer einen Weg gehen lassen, auf dem wir unsere Schuld erkennen. Dieser Weg mag uns hart erscheinen, aber der Herr wählt ihn auch heute noch für die, die Sein Angesicht sehen wollen.
- Die Gesinnung der Brüder wurde geprüft. Joseph gab dem Benjamin fünfmal mehr. Nicht nur, weil er ihn sehr lieb hatte, sondern weil er beobachten wollte, ob die anderen noch neidisch auf ihn wären, wie damals bei ihm. Es ist auch möglich, dass Joseph aus dem Grunde den Becher in Benjamins Sack tun ließ. Hätten die Brüder wie früher geurteilt, dann hätten sie Benjamin ruhig nach Ägypten zurückgehen und Sklavendienste tun lassen, dann wären sie mit ihrem Getreide allein nach Hause gegangen. Aber wie erfreut war Joseph, als er sah: kein Neid auf Benjamin, alle traten für einen ein! Die Gesinnung war aufrichtig geworden.
- Joseph ließ sie auch ihre Sünde erkennen und bekennen. Das Gedächtnis musste den Brüdern helfen und das Gewissen auch. Sie sagten: „Das haben wir an unserem Bruder verschuldet!“ Gott will uns in solchen stillen Versuchungsstunden immer von unserer Sünde überführen. Er macht uns den Weg nicht so leicht. Ohne einen Einblick in unsere Sündennatur zu bekommen, ohne Reue und Buße zu tun, können wir uns seiner Gnade nicht freuen.
Diese Elf baten nicht um Verzeihung: Josef, wir haben damals durchgedreht. Es war nicht so schlimm gemeint. Verzeih! Diese Elf baten nicht um Vergebung: Josef, wir haben damals Kidnapping gespielt. Einer ist dabei immer der Dumme. Du musst dies einfach übersehen. Sie baten auch nicht um Verständnis: Josef, wir haben damals Quatsch gemacht. Weißt du, Ruben hat es uns gleich gesagt. Aber das ist doch jetzt Jahre zurück, den Bach hinunter und den Baum hinauf. Nun, lass es doch vergessen sein. Nein, so sprachen sie nicht. Die Elf standen zu ihrer Schuld und baten um Vergebung. Ja, den schwersten Satz zu sagen, den wir sagen müssen: „Du, vergib mir meine Schuld.“ Vergib mir meine Fehler. Vergib mir meine Missetat.
Sündenerkenntnis und Buße sind das notwendige und echte Fundament des Glaubens und der Freude im Herrn. Es gefällt selbst dem Herrn, wenn Er Seine Kinder fördern will in der Gnade, dass Er ihnen immer wieder ihre Sünde zeigt, dass Er sie tiefer hineinblicken lässt in das Elend des menschlichen Zustandes. Auf diese Anregungen durch das Wort und den Geist Gottes zu achten, ist für unsere Entwicklung so wichtig, ohne sie kein Vorankommen im Glauben.
- Joseph stellt sich hart. Er wandte sich zur Wand und weinte. Die Brüder hatten seine Gefühlsregungen nicht gesehen, als er sich aber wieder zu ihnen wandte, band er Simeon vor ihren Augen. Die Brüder sehen also Josephs Strenge, aber nicht das tiefe Mitgefühl, das er für sie hat. Ach, wenn wir das Sehnen unseres Herrn kennen würden, wie würde es uns veranlassen, uns schnell vor Ihm zu offenbaren, und wie schnell könnte Er Sich uns offenbaren! Die Brüder wussten nicht, dass Joseph sie verstand. Er redete ja eine andere Sprache. Wir wissen vieles nicht von der Freundlichkeit unseres Herrn, sonst würden wir nicht so lange in Ungewissheit vor Ihm stehen.
- Ihre eigene Gerechtigkeit musste auch schwinden. Es mag sein, dass sie stolz darauf waren, dass sie mit Joseph an einem Tische gegessen hatten, dass sie das Geld wiedergebracht hatten. Deshalb musste ihnen durch den mitgenommenen Becher gezeigt werden, dass sie sich doch verschuldet hatten. Zudem war der Becher in Benjamins Sack, der sich damals an der Missetat der Brüder gar nicht beteiligt hatte. Auch Benjamin war nicht ohne Schuld. „Wer seine Missetat leugnet, dem wird es nicht gelingen, wer sie aber erkennt und lässt, der wird Barmherzigkeit erlangen.“ (Spr. 28,13).
- Joseph offenbart sich seinen Brüdern. Als sie nun ganz in Josephs Hand waren und sich kein Ausweg mehr bot, als Joseph sich von ihrem veränderten Charakter überzeugt hatte, als sie die Sünde bekannt hatten und aufrichtig vor ihm standen, weinte er laut und sagte: „Ich bin Joseph, euer Bruder!“ Wie erschüttert waren sie. Ja, hier hätten sie ihn nicht vermutet. Sprachlos stehen sie da. Joseph wiederholt seine Beteuerung: „Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt!“ Sie stehen versteinert, beschämt und zitternd da, ohne ein Wort zu sagen. Joseph fährt fort: „Fürchtet euch nicht!“ Dieses Wort mag wohl nötig gewesen sein, damit sie nicht vor Zittern zusammenbrachen. Und dann sagt er: „Tretet doch her zu mir!“ Dann küsste er sie alle, auch den Benjamin, auch den Ruben. „Danach redeten seine Brüder mit ihm.“
- Das Begräbnis Jakobs. Sie stehen vor dem Grab ihres Vaters in Ägypten, das nach einem Staatsbegräbnis 1. Klasse mit viel Fahnentuch und viel Taschentuch endgültig vermauert wird. Und die 11 Jakobsöhne hatten riesen Bammel. Die 11 Bauernburschen hatten weiche Knie. Diese 11 zitterten jetzt wie Espenlaub. Im 1. M. 50 steht: „Die Brüder Josefs fürchteten sich sehr.“ Thomas Mann hat diese Szene meisterhaft beschrieben: „Verschlossen das Haus, beseitigt der Vater, 11 blicken starr auf den Ziegel der letzten Lücke. Was ist ihnen denn? Sie blicken so fahl, diese 11, und kauen die Lippen. Ganz offenkundig: Sie fürchten sich. Verlassen fühlen sie sich, beklemmend verlassen. Der Vater ist fort. Bis jetzt war er zugegen gewesen, nun ist er vermauert, und plötzlich entsinkt ihnen der Mut, und plötzlich ist ihnen, als sei er ihr Schirm und Schutz gewesen, nur er.“ Der Tod gab ihnen zu denken, aber Josef denkt: „Gott wird Leben erhalten.“ Und dann steht Josef mit seinen Brüdern in der Residenz des Pharao. Den 110. Geburtstag hat er gefeiert. Auch er muss an sein Ende denken, aber er denkt, Gott will Leben erhalten.
Damit ist Joseph zum Vordenker geworden. Im Jahr 33 ist der aus der Höhle von Jerusalem auferstanden, der gesagt hat, dass er dem Tod die Macht nehmen will und das Leben und ein unvergängliches Leben ans Licht bringen will. Dieser Jesus hat nicht nur zweimal wie Josef, sondern er hat oft gesagt: „Fürchtet euch nicht.“ Und er sagt es heute Morgen wieder. Und wenn die Spannungen dich zu zerreißen drohen: Fürchte dich nicht. Und wenn dich Belastungen kaputt machen: Fürchte dich nicht. Und wenn du an deinen eigenen Tod denken musst: Fürchte dich nicht. Denn Leiden und Scherben und Sterben und Tod sind nicht das Letzte. Niemand wird euch aus meiner Hand reißen. Ich will Leben erhalten. Ich will dein Leben erhalten. Nur diesem Wort ist zu trauen.
Prädikant Thomas Karker, Bibelgemeinde Bremen, 26.10.25
Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 27. Oktober 2025 um 10:58 und abgelegt unter Predigten / Andachten.











