Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

„Mich dürstet“ (Joh 19,28) – Das fünfte Wort Jesu am Kreuz

Donnerstag 10. April 2025 von Dr. Joachim Cochlovius


Dr. Joachim Cochlovius

Das fünfte Kreuzeswort Jesu ist das kürzeste und ist wie das vierte und die beiden nachfolgenden kurz vor seinem Tod gesprochen. Auch Matthäus und Markus berichten davon, dass jemand einen Schwamm mit Essig füllte und Jesus die trockenen Lippen feuchtete, aber nur Johannes überliefert das Wort „Mich dürstet“. Bedeutsam ist die Zeitangabe „Danach, als Jesus wusste, dass alles vollendet war, damit die Schrift erfüllt würde“, denn sie gibt einen Blick frei in die inneren Beweggründe, die den sterbenden Jesus zu diesem Ausruf bewogen und die über den rein leiblichen Durst hinausgehen. So kurz das Wort ist, so inhaltsreich ist es auch. Um es auszuloten, muss man die Reihenfolge der Kreuzesworte bedenken, den Schriftbezug untersuchen, den doppelten Sinn bedenken und die seelsorgerliche und missionarische Dimension in den Blick nehmen.

  • Der innere Ort dieses Kreuzeswortes

Stellt man sich die sieben Kreuzesworte vor Augen, wird man zunächst feststellen, dass die ersten drei auf andere Menschen abzielen. 1.1: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Dieses Wort geht zunächst an seine Peiniger, aber es hat auch einen die ganze Menschheit umgreifenden Sinn. Wir alle, alle unsere Sünden, haben Jesus zu seinem bitteren Tod gebracht. 1.2: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradies sein“. Das ist die Heilszusage für den einen Verbrecher, der sich an seinem Kreuz noch für den Glauben an Jesus öffnet. Er steht für den Weg der inneren Umkehr zu Jesus, der jedem Menschen offensteht. 1.3: „Siehe, das ist dein Sohn“ und „Siehe, das ist deine Mutter“ – diese Kreuzesworte zeigen Jesu Fürsorge für andere selbst noch im Sterben. Gleichzeitig weisen sie hin auf die neue Familie, die zu Pfingsten entsteht, die Gemeinde, den geistlichen Leib Christi, der neben der natürlichen Familie eine noch viel engere und von Jesus selbst gewährleistete Gemeinschaft schenkt. In diesen drei ersten Kreuzesworten erweist sich Jesus als der Heiland und Hirte für die Menschheit und insbesondere für die Seinen.

Das vierte Kreuzeswort „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ steht in der Mitte und spiegelt – zusammengenommen mit dem ganzen 22. Psalm – den Heilsplan Gottes im Kreuzesgeschehen wider. Jesus als der unschuldige und leidende Gottesknecht tritt uns vor Augen und Jesus als der Auferstandene, der Gottes Ehre allen Menschen verkündigt, Israel und den Völkern, und der auch im Gericht über die Toten die Ehre Gottes sucht. Die drei übrigen Kreuzesworte „Mich dürstet“, „Es ist vollendet“ und „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ haben das Verhältnis Jesu zu seinem Vater zum Inhalt. Diese innere Struktur der Reihenfolge gibt wertvolle Hinweise gerade auch zum Verständnis des fünften Kreuzeswortes. Der Wortlaut bezieht sich nämlich sowohl auf den leiblichen als auch auf den geistlichen Durst des Sohnes Gottes.

  • „Als Jesus wusste…“

Es kann kein Zufall sein, dass Johannes das fünfte Kreuzeswort mit der tiefen Bemerkung „Als Jesus wusste, dass alles vollendet war, damit die Schrift erfüllt würde“ beginnt. Dieses „Wissen“ hatte Jesus auch bei seiner Gefangennahme. „Da nun Jesus wusste, was ihm begegnen sollte, ging er hinaus und sprach zu ihnen: Wen sucht ihr?“ (Joh 18,5). Die „Vollendung“ hier in Joh 19,28 meint den Abschluss seines göttlichen Versöhnungsauftrags. Die drei finsteren Stunden von 12 Uhr bis 15 Uhr symbolisieren diese Tatsache. Es war die Zeit der Gottverlassenheit Jesu. Die Sünde der Menschen aller Zeiten wurde vom Vater auf den Sohn gelegt und gerichtet. Sie trat zwischen ihn und den Vater. Sein Herz wurde dunkel von all dieser Sünde, der Kontakt zu seinem Vater brach ab. Die äußere Dunkelheit bildet diese innere Dunkelheit in Jesus ab. Aber so versöhnte Gott die Menschheit mit sich selber. „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu“ (2 Kor 5,19).

Nachdem das Versöhnungshandeln abgeschlossen und vollendet war, nimmt Jesus sein Verhältnis zum Vater in den Blick. Er denkt daran, dass er nun bald wieder mit seinem himmlischen Vater vereint sein wird. Ihn dürstet leiblich, aber vor allem auch geistlich. „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?“ (Ps 42,3). Unmittelbar danach spricht Jesus sein „Wissen“ aus und bezeugt vor seinem Vater die Vollendung seines Auftrags „Es ist vollendet“, und er befiehlt seinen Geist in Gottes Hände.

  • „Mich dürstet“.

Ganz zweifellos wurde Jesus von einem riesigen leiblichen Durst gequält. Den Betäubungstrank aus Myrrhe, Galle und Wein hatte er abgelehnt (Mt 27,34; Mk 15,23). Auch in dieser Szene erfüllte sich ein Psalmwort. „Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst“ (Ps 69,22). Jetzt, nach einer furchtbaren sechsstündigen Qual an den beiden Kreuzesbalken, spricht Jesus das erste und einzige Mal seine körperlichen Qualen aus. Er bittet nicht um einen Trank. Er spricht nur aus, dass er Durst hat. Für den christlichen Glauben ist das eine ganz wichtige Aussage. Der Sohn Gottes war voll und ganz Mensch. Er hatte keinen Scheinleib, wie manche frühchristlichen Gruppen meinten. Als Sohn Gottes hat er körperlich gelitten, denn er hat sich seiner göttlichen Leiblichkeit voll und ganz entkleidet. Gott ist leidensfähig und leidenswillig. Das ist hier die geistliche Aussage. Das gehört zum Glauben der Christenheit.

Aber in diesem Ausruf „Mich dürstet“ liegt noch ein anderer Sinn. Es ist der Durst nach voller Gemeinschaft mit Gott. In Ps 63,2 betet David „Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Es dürstet meine Seele nach dir, mein ganzer Mensch verlangt nach dir aus trockenen, dürren Land, wo kein Wasser ist“. Es ist die gleiche Sehnsucht, die sich auch in der bereits zitierten Stelle Ps 42,3 ausdrückt. Nach den furchtbaren Stunden der Gottverlassenheit betet der Gottessohn um die Wiederherstellung der vollen Gemeinschaft mit dem Vater. Noch nie in seiner ewigen Existenz war diese Gemeinschaft getrübt oder gar unterbrochen gewesen. Während seiner irdischen Existenz hatte sich Gott immer wieder zu seinem Sohn bekannt. Zu erinnern ist nur an die Taufe und an den Verklärungsberg, wo Gottes Stimme die enge Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn bestätigte. Dementsprechend betont der Hebräerbrief „Zu welchem Engel hat Gott jemals gesagt: ‚Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt‘?“ (Hebr 1,5). Vor diesem Hintergrund ist der geistliche Durst Jesu nach Gemeinschaft mit dem Vater nicht nur verständlich, sondern selbstverständlich. Die leibliche und die geistliche Bedürftigkeit treten zusammen.

Im Garten Gethsemane war seine leibliche und geistliche Bedürftigkeit schon einmal zusammengetreten. Dort fasste plötzlich der Tod nach ihm. In Luk 22,44 heißt es, dass er mit dem Tod rang und dass sein Schweiß wie Blutstropfen auf die Erde fiel. Matthäus überliefert uns ein dreifaches lautes Gebet des Herrn in seinem Todeskampf. „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod“ (Mt 26,38). Wenn man das ernst nimmt, dass der Tod schon in Gethsemane nach Jesus griff, wird auch das Wort vom Kelch verständlich. „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ (Mt 26,39). Vermutlich meint Jesus mit „diesem Kelch“ seinen Gethsemane-Todeskampf. Er will den Weg zum blutigen Kreuz gehen. Er weiß, dass nur sein Blut die Versöhnung der Welt bringen kann. Er will nicht vorher sterben. Das ist wohl der Hintergrund für die dreimalige Bitte, diesen Kelch nicht trinken zu müssen. In Hebr 5,7 ist dieser Gethsemane-Todeskampf im Blick. „Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt“.

  • Jesus – der wahre Mensch.

Im Christushymnus Phil 2 wird der Weg Jesu Christi aus der himmlischen Gemeinschaft mit Gott hinunter zur Menschwerdung und Selbsterniedrigung bis zum Tod und der sich daran anschließenden Erhöhung durch Gott als Herrscher über alle Kreatur in kurzen, inhaltsschweren Sätzen beschrieben. Der Hymnus legt großen Wert auf das wahre Menschsein Christi. Das ewige Wort Gott, der präexistente Sohn Gottes hat sich selbst entäußert und hat eine Knechtsgestalt angenommen, d.h. er hat seine göttliche Majestät und Herrlichkeit freiwillig verlassen „und ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt (Phil 2,7). Für unseren Glauben ist das elementar. Jesus hat unser Menschsein mit seinen ganzen Hinfälligkeiten, Anfechtungen und Abhängigkeiten voll und ganz geteilt, abgesehen von der Sünde. Deswegen kann er sich in die Versuchlichkeit des Menschseins hineinversetzen. „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unsrer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde“ (Hebr. 4,15).

Wie anders ist das islamische Gottes- und Jesusbild. Allah ist weder leidenswillig noch leidensfähig. Aus dem Jesusbild des Korans ist alles Leiden und besonders der Kreuzestod herausgenommen. „Aber sie haben ihn nicht getötet und auch nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen ein anderer ähnlich…Nein, Gott hat ihn zu sich erhoben“ (Sure 4,157 und 158). In diesem Bild von Gott und Jesus hat Leiden keinen Platz. Gott und Leiden, das passt für Muslime nicht zusammen. Der Zugang zur biblischen Versöhnungsbotschaft ist verschlossen.

  • Jesus – der wahre Gott.

Gerade in seinem Durst, in seiner tiefen Sehnsucht nach voller Gemeinschaft mit seinem himmlischen Vater zeigt sich die Göttlichkeit Jesu. Schon in der Versuchungsgeschichte hat Jesus die Anbetung des Teufels verweigert und die Schätze dieser Welt verschmäht. Seine ganze irdische Lebensgeschichte war geprägt von der einzigartigen Leidenschaft, seinen himmlischen Vater zu ehren und seinen Willen zu tun. In den Abschiedsreden bezeugt er „Ich habe dich verherrlicht auf Erden“ (Joh. 17,4). Schon als Zwölfjähriger im Tempel suchte er die volle Gemeinschaft mit seinem himmlischen Vater und mit seinem Wort. „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist“? antwortet er Joseph und Maria, als sie ihn suchten (Luk 2,49). Unter Schmerzen hat er Gehorsam gelernt, heißt es in Hebr. 5,7. Und so konnte er in der Gethsemane-Stunde sagen „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir, doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ (Luk 22,42). Dieser Durst nach Gott, diese Sehnsucht nach Gemeinschaft hat eine Quelle, und das ist die Liebe. Aus Liebe zu seinem Vater geht Jesus den Weg zur Menschwerdung und zum Tod. Aus Liebe zu den Verlorenen nimmt er ihre Lebensschuld auf sich. Aus Liebe zu den Seinen sendet er ihnen zu Pfingsten den Heiligen Geist und wohnt im Geist unter ihnen. Aus Liebe zu ihnen gibt er ihnen vollen Anteil an seinem göttlichen Erbe, nämlich der ewigen Herrlichkeit. Die wahre Göttlichkeit Jesus gehört genauso wie die wahre Menschheit Jesu zum Inbegriff des christlichen Glaubens.

  • Weil Jesus den doppelten Durst kennt, kann er Durstige stärken.

In der dritten Seligpreisung der Bergpredigt (wenn man Mt 5,3 als Überschrift liest) werden diejenigen seliggepriesen, die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit. Mit Gerechtigkeit ist hier das Richtigsein vor Gott gemeint, das der Mensch im Glauben an Jesus Christus empfängt. Es ist immer etwas Großes, wenn ein Mensch mit dem lebendigen Gott ins Reine kommen will. Hier in dieser Seligpreisung sind alle gemeint, die diesen Durst haben. Wer mühselig und beladen ist, den will Jesus erquicken, d.h. wer unter fremder und eigener Schuld leidet, der soll Trost, Schutz und Vergebung bekommen. Auf dem Laubhüttenfest in Jerusalem hat Jesus einmal diese Durstigen zu sich gerufen. In Joh 7,37–39 heißt es: „Am letzten Tag des Festes, der der höchste war, trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir, und wer an mich glaubt, der trinke. Wie es geschrieben steht: ‚Ströme lebendigen Wassers werden von ihm fließen‘. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glauben; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht“. Das ist die schönste Verheißung für alle geistlich Durstigen. Von Jesus gehen Ströme lebendigen Wassers aus, nämlich der Heilige Geist, und alle, die mit Gott ins Reine kommen wollen, die mit dem lebendigen Gott Gemeinschaft haben möchten, die Vergebung wollen, die werden nicht leer ausgehen.

  • Der Lebensdurst wird in Ewigkeit gestillt.

Eine weitere Verheißung, dass der menschliche Lebensdurst bei Jesus gestillt wird, ist uns aus dem Gespräch Jesu mit der Samariterin in Joh 4 überliefert, hier allerdings noch in einer Steigerung gegenüber Joh 7. Jesus versucht in diesem Gespräch, der Frau den Blick für das Lebenswasser zu öffnen, das er ihr geben möchte. „Woher hast Du Lebenswasser?“, fragt sie ihn. „Bist Du mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat?“ Dann folgt die wunderbare Antwort des Herrn „Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten. Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wasser werden, das in das ewige Leben quillt“. Jesus stillt also den Lebensdurst der Menschen nicht nur punktuell, sondern in Ewigkeit. Wer an ihn glaubt, wird Leben und volle Genüge haben (Joh 10,10), und das nicht nur momentan und vorübergehend, sondern dauerhaft und in Ewigkeit. Der Sohn Gottes, der am Kreuz seinen zweifachen Durst ausgerufen hat, und der kurz darauf wieder die volle Gemeinschaft mit seinem Vater erfahren hat, der will auch unseren Lebensdurst bis in Ewigkeit stillen.

Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 10. April 2025 um 22:21 und abgelegt unter Predigten / Andachten, Seelsorge / Lebenshilfe, Theologie.