Mein Wille geschehe? – Die Evangelische Kirche in der babylonischen Gefangenschaft der Selbstbestimmungsideologie
Dienstag 18. März 2025 von Johann Hesse

1. Das Gesetz zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs
Am 14. November 2024 hat eine fraktionsübergreifende Gruppe von Abgeordneten den Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vorgelegt, der dann am 5. Dezember im Bundestag in erster Lesung beraten wurde. Die geltende Regelung des Schwangerschaftsabbruchs stelle „eine erhebliche Einschränkung der Selbstbestimmung, der persönlichen Integrität und der körperlichen Autonomie Schwangerer dar und kann ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit Schaden zufügen.“[1]
Ziel der geplanten Neuregelung sei es, „die Beendigung einer Schwangerschaft auf Verlangen bis zum Ende der zwölften Woche nach der Empfängnis (post conceptionem – p. c.) der Schwangerschaft grundsätzlich rechtmäßig zu stellen“[2]. Der aktuell bestehende Straftatbestand „Schwangerschaftsabbruch“ solle insgesamt aufgehoben werden.[3] Die Voraussetzungen zur Durchführung eines rechtmäßigen Abbruchs der Schwangerschaft sollen demnach nicht mehr im Strafgesetzbuch, sondern im Schwangerschaftskonfliktgesetz geregelt werden,[4] „die Beratungspflicht bleibt bestehen (§ 12 Absatz 2 Nummer 2 SchKG-neu), die dreitägige Wartefrist zwischen Beratung und Schwangerschaftsabbruch entfällt, die Kosten werden regelmäßig von den gesetzlichen Krankenkassen getragen (§ 24b SGB V).“[5]
Am 10. Februar tagte dann der Rechtsausschuss mit einer Expertenanhörung. Der Gesetzentwurf wurde nicht zur Abstimmung im Bundestag zugelassen.
Die Ideologie der Selbstbestimmung
Der gescheiterte Gesetzentwurf wird vermutlich im neu gewählten Bundestag keine Chance haben. Gott sei es gedankt. Er zeigt aber, dass die Befürworter der Abtreibung sich nicht mit Kompromissen zufriedengeben und keine Ruhe geben werden, bis auch die letzte Erinnerung daran, dass das Kind im Mutterleib einen eigenen und schützenswerten Rechtsstatus gegenüber der Mutter hat, ausgetilgt ist. Der Ideologie der Selbstbestimmung folgend, soll die Frau die volle und freie Verfügungsgewalt über das Kind in ihrem Leib erhalten. Alle Regelungen, die die freie Willensentscheidung und Verfügungsgewalt der Frau einschränken könnten, sollen fallen. Es darf keine Fremdbestimmung geben: „Mein Wille geschehe!“
2. Die Position der EKD zum Gesetzentwurf
2.1Â Â Â Â Â Â Stellungnahme und Diskussionsbeitrag der EKD
Im Dezember 2024 hat auch der Rat der EKD eine Stellungnahme zu dem rot-grünen Gesetzentwurf vorgelegt[6], unterfüttert mit einem theologisch-ethischen Diskussionsbeitrag.[7] Gleich zu Beginn dieses Beitrages wird deutlich, dass die Theologen eine Neuregelung begrüßen, denn „die Weiterentwicklung von Forschung und medizinischer Praxis stellen einmal gefundene Kompromisse in Frage“, außerdem können eine „Neubewertung der konkurrierenden ethischen Güter und Pflichten oder ein Akzeptanzverlust der rechtlichen Regelungen Grund für eine ethische wie rechtliche Neubewertung sein.“[8] Es wird zwar noch die historische Leistung der bisherigen Regelungen gewürdigt, jedoch deutlich signalisiert, dass es auch innerhalb des Protestantismus gewichtige Stimmen gebe, die eine Neuregelung und Anpassung der bisherigen Gesetzgebung fordern.[9]
In ihrer Stellungnahme stellt sich die EKD hinter den Gesetzentwurf:
„Aus evangelischer Perspektive ist daher ausdrücklich zu begrüßen, dass die vorgeschlagene Neuregelung einen moralisierend-belehrenden Ton vermeidet und jeder Stigmatisierung von Frauen entgegenzutreten versucht. Die rechtliche Struktur spiegelt diese Haltung wider und ist aus evangelischer Perspektive im Grundsatz zustimmungsfähig.“[10]
2.2Â Â Â Â Â Â Die Grundlage der ethischen Orientierung
Bereits bei der Frage nach der Grundlage der ethischen Orientierung vermeidet der Diskussionsbeitrag die Verortung einer ethischen Positionierung in der Heiligen Schrift. Stattdessen wird darauf verwiesen, „dass dem Protestantismus eine Pluralität der ethischen Orientierung von Anbeginn an eingeschrieben“ sei. Auf Schrift und Bekenntnis wird zwar Bezug genommen, aber schließlich doch geschlussfolgert: „Jede und jeder muss sich schließlich selbst ein Urteil in Verantwortung vor Gott und dem eigenen Gewissen bilden.“
Kein Wort davon, dass die Heilige Schrift in der Evangelischen Kirche als norma normans gilt, also die normierende Norm, die alle anderen Normen bestimmt, an der alle anderen Normen in der Kirche gemessen werden und an die das Gewissen der Gläubigen gebunden ist, weil in ihr Gottes Willen offenbart wird.
2.3      Ein unauflösbarer ethischer Konflikt?
Im Schwangerschaftskonflikt, so der Diskussionsbeitrag, stehe die Frau unter einem doppelten Anspruch:
1.) Der Anspruch des beginnenden Lebens, zur Welt gebracht zu werden.
2.) Der Anspruch, das eigene Leben mit seinen Verpflichtungen in verantworteter Freiheit zu gestalten.[11]
Aus der Perspektive des Glaubens könnten beide Ansprüche oder Appelle als unbedingt gelten und als „göttliches Gebot“ erfahren werden.
Daraus ergebe sich nun eine dritte Ebene: „Ein Schwangerschaftskonflikt kann, ethisch betrachtet, nicht zu einer Seite hin aufgelöst werden.“ „Es handelt sich um einen letztlich unauflösbaren Konflikt auf normativer Ebene.“
Der Konflikt könne nicht auf dem Wege einer Güterabwägung aufgelöst werden. Es entstehe ein Konflikt „konkurrierender Pflichten“, ein „Gebots- und Gewissenskonflikt“ mit ebenbürtigen Seiten, „die Verantwortung gegenüber dem Ungeborenen und die Verantwortung gegenüber der individuellen, psychosozialen und gesundheitlichen Situation der Schwangeren.“[12]
Daraus folge, dass die Schwangere letztlich selbst entscheiden müsse. „Diese Entscheidung muss sie vor ihrem Gewissen treffen. Niemand darf ihr darum diese Entscheidung abnehmen, und niemand kann sie ihr abnehmen… Eine verantwortete Entscheidung ist dabei nach evangelischer Überzeugung möglich, weil der Unausweichlichkeit der Schuldübernahme die Gnade Gottes gegenübersteht.“[13]
Hier wird zunächst ohne Not die Unausweichlichkeit der Schuldübernahme postuliert und dann sogleich die vergebende Gnade Gottes zugesprochen, das aber ist nichts anderes als „billige Gnade“.
2.4Â Â Â Â Â Â Die Demontage der Bibel als norma normans Â
Im Kapitel „Theologisch-ethische Gesichtspunkte zur Geschöpflichkeit und zum Beziehungsgeschehen im Horizont einer Schwangerschaft“ werden zunächst einige gute Aussagen zur Stellung des Embryos gemacht, wobei auch entscheidende Stellen ausgelassen werden (vgl. Lk 1,41). Der Glaube erkenne, dass dem „in der Schwangeren sich entwickelnden menschlichen Leben durch Gottes Annahme bereits von Beginn an Würde verliehen ist und dem werdenden Leben im Geist der Liebe mit Achtung begegnet werden muss.“[14] Es wird beispielsweise daran erinnert, dass Gott Jeremia und Paulus bereits im Mutterleib berufen habe (Jer 1,5; Gal 1,15).
Doch die Demontage der eigenen ethischen Grundlage folgt auf den Fuße, wenn es heißt: „Nun entspricht die patrilinear und patriarchial organisierte antike Gesellschaft, die die biblischen Texte und ihre Vorstellungen von der Bedeutung der Schwangerschaft für die Frau prägen, der demokratischen Rechtsordnung in der Gegenwart nicht.“[15] Die Theologen bescheinigen der Bibel deshalb eine „begrenzte Orientierungsleistung für Fragen der konkreten Ethik“.
2.5Â Â Â Â Â Â Die Gestaltung des Lebens als Auftrag Gottes
Obwohl der Bibel eine nur geringe Orientierungsleistung bescheinigt wird, wird sie nun herangezogen, um die Gestaltung des Lebens als Auftrag Gottes zu begründen. Die Berufungen Abrahams, Mose, der Propheten, der Jünger werden in der Bibel als „unbedingte Verpflichtung“ erfahren, hinter der selbst bestehende familiäre Verpflichtungen zurücktreten müssten (Mk 3,31-35; 10,28-30; Lk 9,57-62). Es komme also zu „Verpflichtungskonflikten“, die sich analogisch auch in gegenwärtigen Kontexten einstellen.[16] Eine Schwangerschaft könne beispielsweise in einem „Verpflichtungskonflikt“ zu anderen familiären und beruflichen Aufgaben und Verpflichtungen stehen. Wir hatten bereits gehört, dass aus Sicht der Autoren angeblich beide Verpflichtungen als konkurrierende Gebote Gottes verstanden werden.
3. Eine Antwort aus biblisch-theologischer Perspektive
3.1Â Â Â Â Â Â Die Bibel als norma normans
Sowohl der Diskussionsbeitrag als auch die Stellungnahme der EKD kranken an der Tatsache, dass ethische Entscheidungen nicht mehr auf dem Fundament der Heiligen Schrift als norma normans der evangelischen Ethik getroffen werden. Die Autoren berufen sich auf die Pluralität des Protestantismus sowie auf gesellschaftliche und medizinische Veränderungen und weisen die Aussagekraft biblischer Aussagen mit Berufung auf deren Zeitbedingtheit für heutige ethische Fragestellungen in sehr enge Grenzen. Es wird gar nicht mehr wahrgenommen, dass die Bibel Gottes Wort ist und damit der einzige sichere Grund, auf dem eine evangelische Ethik entwickelt werden und Bestand haben kann. Ich erinnere hier an die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934[17]:
Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.
Gesellschaftliche Pluralität und medizinische Erkenntnisse sind keine erstrangige Quelle evangelischer Ethik. Wer die Bibel als tragfähigen Grund verlässt, kann nicht für sich in Anspruch nehmen, im Namen der Christenheit oder der Evangelischen Kirche zu sprechen.
3.2Â Â Â Â Â Â Der konstruierte Pflichtenkonflikt
Die EKD-Theologen konstruieren einen Pflichtenkonflikt, den es bei näherem Hinsehen gar nicht gibt. Der Anspruch des ungeborenen Kindes konkurriere angeblich mit dem Anspruch der sonstigen beruflichen und familiären auch finanziellen Verpflichtungen. Beide Appelle können als „göttliches Gebot“ erfahren werden. Es entstehe ein Konflikt auf normativer Ebene, der letztlich nicht auflösbar sei.
3.2.1Â Â Â Die spezifische Verpflichtung zum Schutz des Kindes
Mit Blick auf das ungeborene Kind gibt es ein eindeutiges Gebot und ein eindeutiges Verbot, das eine evangelische Ethik zunächst grundlegend berücksichtigen und benennen muss:
- Seid fruchtbar und mehret euch (1. Mose 1,28)
- Du sollst nicht töten bzw. morden (2. Mose 20,13; 5. Mose 5,17)
Gott stellt den Menschen unter diese doppelte Verpflichtung. Der Schöpfer segnet Männer und Frauen mit der Gabe der Sexualität und der Fruchtbarkeit, er verpflichtet sie aber auch, diese Gaben im Sinne der Fortpflanzung und Vermehrung einzusetzen: „Mehret euch und füllet die Erde.“ Hinzu tritt das Tötungsverbot oder genauer das Mordverbot. Gott stellt den Menschen mit Blick auf das ungeborene Kind unter eine doppelte Verpflichtung und richtet damit um das ungeborene Kind einen doppelten Schutz auf: Es soll auf die Welt kommen und es soll nicht getötet werden. Hier steht der Mensch tatsächlich unter einem göttlichen Gebot.
3.2.2Â Â Â Der allgemeine Auftrag zum Lebensvollzug
Es ist richtig, dass Gott den Menschen dazu beauftragt, den familiären und beruflichen Verpflichtungen nachzukommen. Dies beginnt bereits mit dem Auftrag an den Mann, den Garten Eden zu bebauen und die Schöpfung zu bewahren. In den Sprüchen ist die Faulheit Torheit und Fleiß Weisheit. Die kluge Frau in Sprüche 31 wird gepriesen für ihren Fleiß, ihre Geschäftstüchtigkeit und ihre zupackende und praktisch gelebte Frömmigkeit. Auch im Neuen Testament wird der Christ aufgefordert, zu arbeiten und nicht anderen auf der Tasche zu liegen (Eph 4,28).
Dieser allgemeine Auftrag ist jedoch kein göttliches Gebot, dass mit dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes kollidiert. Stattdessen kann und soll die Gabe der Fruchtbarkeit und der Anspruch des ungeborenen Kindes auf Leben in diesen allgemeinen Auftrag Gottes eingebettet werden. Dass das nicht immer einfach ist, dass diese Einbettung nicht immer reibungslos gelingt, dass diese Einbettung aus verschiedenen Verpflichtungen heraus konflikthaft geschieht, steht auf einem anderen Blatt. Jedoch muss klar sein: Es besteht hier kein Verpflichtungskonflikt auf normativer Ebene. Die allgemeine Verpflichtung, seinen familiären und beruflichen Verpflichtungen nachzukommen kann und darf niemals gegen das Kind in Stellung gebracht werden.
3.3Â Â Â Â Â Â Das klare Gebote verunklaren
Die EKD-Theologen haben hier vorsätzlich und missbräuchlich einen Konflikt konstruiert, der gar nicht da ist. Das Ziel des konstruierten Pflichtenkonfliktes ist offensichtlich die Verunklarung und letztlich Aushebelung des klaren Tötungsverbotes. Das von Gott gewollte und durch sein Gebot geschützte Kind wird der Selbstbestimmung der Frau unterworfen. Nicht mehr das „Dein Wille geschehe“ soll mehr gelten, sondern das selbstbestimmte „Mein Wille geschehe“. Die EKD macht sich hier zum Sprachrohr und Erfüllungsgehilfen der Selbstbestimmungsideologie.
Es gilt hier das Wort aus dem Propheten Jeremia: „Wie könnt ihr sagen: »Wir sind weise und haben das Gesetz des HERRN bei uns«? Ist’s doch lauter Lüge, was die Schreiber daraus machen. 9 Die Weisen müssen zuschanden, erschreckt und gefangen werden; denn was können sie Weises lehren, wenn sie des HERRN Wort verwerfen?“ (Jeremia 8,8-9).
3.4Â Â Â Â Â Â Der Rechtsstatus des Embryos
Es ist bezeichnend, dass die EKD-Theologen, dem ungeborenen Kind „nicht einfach an sich selbst oder aufgrund eines biologisch bestimmbaren Zeitpunkts“ einen ethischen Rang zubilligen, sondern erst durch „die Anerkennung als eines Lebens, von dem der Appell an die Schwangere auf Anerkennung und Annahme ausgeht.“[18] Sie fallen dabei nicht nur hinter den biblischen Befund zurück, sondern auch hinter den Stand der Naturwissenschaft und Rechtswissenschaft:
In einem Lehrbuch für Embryologie heißt es: „Eine Zygote ist der Beginn eines neuen Menschen. Die menschliche Entwicklung beginnt mit der Befruchtung, wenn sich ein männliches Geschlecht oder Sperma mit einem weiblichen Gameten oder einer Eizelle (Ovum) zu einer einzigen Zelle, einer Zygote verbindet. Diese hochspezialisierte, totipotente Zelle markiert den Beginn eines jeden von uns als einzigartiges Individuum“ (Keith L. Moore, T. V. N. Persaud, The Developing Human: Clinically Oriented Embryology, 5. Aufl. (2003))[19].
Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen geurteilt, dass die vom Grundgesetz geschützte unantastbare Würde auch dem Embryo zukommt: „Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu, nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität“ (BVerfGE 88,251). Beim Ungeborenen handle es sich „um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozess des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt.“[20]
Manfred Spieker schreibt und zitiert dabei aus den Urteilen des Verfassungsgerichtes:
„Nicht weniger klar sind die Aussagen zum Lebensrecht. ‚Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt auch das im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut.‘ Der mit der Empfängnis ‚begonnene Entwicklungsprozess ist ein kontinuierlicher Vorgang, der keine scharfen Einschnitte aufweist und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens nicht zulässt. Er ist auch nicht mit der Geburt beendet — Jeder im Sinne des Art. 2 Abs 2. 1 GG ist „jeder Lebende“ …. „Jeder“ ist daher auch das noch ungeborene menschliche Wesen.‘ Keine rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs könne deshalb daran vorbeikommen, dass die Abtreibung ‚unwiderruflich entstandenes menschliches Leben (zerstört)‘, mithin ‚eine Tötungshandlung‘ ist und ‚gegen die in Art 2. Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte grundsätzliche Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens‘ (verstößt)“ (BVerfGE 39,1 (46)).[21]
Die höchstrichterliche Rechtsprechung entspricht sowohl dem naturwissenschaftlichen als auch dem biblischen Befund und unterstreicht unmissverständlich: Das Selbstbestimmungsrecht der Frau endet am Lebensrecht des ungeborenen Kindes und zwar vom Zeitpunkt der Empfängnis an. Die Verortung der Abtreibung im Strafrecht ist demnach alternativlos.
In anderen Worten: Anders als vom theologisch-ethischen Diskussionsbeitrag behauptet, kommt dem Embryo nicht erst mit der Anerkennung durch die Mutter ein eigener ethischer Rang zu, sondern „an sich selbst“ und „aufgrund eines biologisch bestimmbaren Zeitpunkts“, nämlich dem Zeitpunkt der Empfängnis.
Gegen den Kenntnisstand der Naturwissenschaften, der Rechtswissenschaften und entgegen dem offenbarten Willen des Wortes Gottes entziehen die EKD-Theologen mit ihrer Stellungnahme dem Rechtssubjekt Kind den ihm zustehenden Rechtsschutz. Das Kind wird entrechtet und mit Hilfe eines konstruierten Verpflichtungskonflikt zur Tötung freigegeben.
3.5 Â Â Â Â Mein Wille geschehe?!
Weil Biologie und Medizin übereinstimmend lehren, dass das ungeborene Kind nicht erst zum Menschen wird, sondern sich vom Zeitpunkt der Verschmelzung von Samen und Eizelle an in einem kontinuierlichen Vorgang als Mensch entwickelt und darum auch aus verfassungsrechtlicher Sicht diesem ungeborenen Kind der unantastbare und uneingeschränkte Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes zukommt, gehört der Einsatz für das Lebensrecht des ungeborenen Kindes zur Kernaufgabe evangelischer Ethik und kirchlicher Praxis.
Der Diskussionsbeitrag zum Schwangerschaftsabbruch kann darum nicht als evangelisch bezeichnet werden. Stattdessen liefert er eine in christliches Vokabular gekleidete Rechtfertigung des vorgelegten Gesetzentwurfes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs.
Wie weit die EKD-Theologen zu Erfüllungsgehilfen und Anwälten der Selbstbestimmungsideologie und einer lebensfeindlichen „Kultur des Todes“ geworden sind, zeigt auch die völlige Ignoranz gegenüber der altkirchlichen Position[22] zum Thema Lebensschutz oder die Position evangelischer Theologen wie Bonhoeffer, der zum Status des Embryos und zur Einordnung der Abtreibung bekanntlich folgendes schrieb:
“Die Tötung der Frucht im Mutterleib ist Verletzung des dem werdenden Leben von Gott verliehenen Lebensrechtes. Die Erörterung der Frage, ob es sich hier schon um einen Menschen handele oder nicht, verwirrt nur die einfache Tatsache, daß Gott hier jedenfalls einen Menschen schaffen wollte und daß diesem werdenden Menschen vorsätzlich das Leben genommen worden ist. Das aber ist nichts anderes als Mord.[23]
Im Grunde bestätigt und verschärft die EKD den bereits in der Rosenheimer Erklärung (1991) gefassten Entschluss, die Verfügung über das ungeborene Leben in die Hände der Frau zu legen. Die Selbstbestimmung der Frau wird über das Lebensrecht des Kindes gestellt. Hier gilt nicht mehr das „Dein Wille geschehe“, sondern das „Mein Wille geschehe“. Die evangelische Kirche beweist einmal mehr, dass sie in der babylonischen Gefangenschaft der Selbstbestimmungsideologie gefangen ist.
4. Schifra und Pua – ein Pflichtenkonflikt im Alten Ägypten
„Und der König von Ägypten sprach zu den hebräischen Hebammen, von denen die eine Schifra hieß und die andere Pua: Wenn ihr den hebräischen Frauen bei der Geburt helft, dann seht auf das Geschlecht. Wenn es ein Sohn ist, so tötet ihn; ist’s aber eine Tochter, so lasst sie leben. Aber die Hebammen fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Ägypten ihnen gesagt hatte, sondern ließen die Kinder leben.“ (2. Mose 1,15-17)
Die männlichen Babys Israels sollten post partum, also nach der Geburt, vielleicht noch während des Geburtsvorgangs, getötet werden. Die Entrechtung der männlichen Kinder und der Entzug des Lebensschutzes durch den ägyptischen Staat folgte wie heute auch ideologischen Vorgaben. Schifra und Pua standen zwischen dem Durchsetzungsanspruch der ägyptischen Staatsideologie einerseits und dem Willen Gottes andererseits. Unter Einsatz ihres Lebens traten sie ein für das Lebensrecht der ihnen zum Schutz befohlenen Kinder.
Wenn wir uns heute hier versammeln, dann tun wir das im Geiste dieser beiden ersten Lebensschützerinnen. Gegen die fortschreitende Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes in Gesellschaft, Politik und Kirche, gegen die Versuche den Rechtsstatus des ungeborenen Kindes weiter aufzuweichen sowie den Vorgang der Kindstötung zu entkriminalisieren und gegen die Ausbreitung einer Kultur des Todes in unserer Gesellschaft möchten wir wie diese beiden in Furcht vor Gott unsere Stimme für die Ungeborenen erheben: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“ (Sprüche 31,8). Wie diese beiden wollen wir uns mutig und entschlossen dafür einsetzen, dass Frauen mit Maria sagen können: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast“ (Lk 1,38), nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe (Lk 22,42).
Johann Hesse, Geschäftsführer des Gemeindehilfsbundes, Vortrag beim Treffen Christlicher Lebensrechtsgruppen am 8. März 2025 in Kassel
Der Vortrag kann hier nachgehört werden.
Â
[1] Deutscher Bundestag, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, Drucksache 20/13775, 14.11.2024, Seite 4.
[2] Deutscher Bundestag, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, Drucksache 20/13775, 14.11.2024
[3] Ebenda.
[4] Ebenda.
[5] Ebenda.
[6] Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Gesetzesentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, 18.12.2024.
[7] Schwangerschaftsabbruch – Ein theologisch-ethischer Diskussionsbeitrag der EKD zur Debatte um § 218 StGB.
[8] Ebenda, S. 9.
[9] Ebenda, S. 10.
[10] Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Gesetzesentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, 18.12.2024.
[11] Schwangerschaftsabbruch – Ein theologisch-ethischer Diskussionsbeitrag der EKD zur Debatte um § 218 StGB., S. 12.
[12] Ebenda, S. 13.
[13] Ebenda, S. 13.
[14] Ebenda, S. 15.
[15] EKD, Diskussionsbeitrag, S. 16.
[16] Ebenda, S. 17.
[17] Vgl. auch die Stellungnahme „EKD gegen Leben und Recht“ der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“: https://www.gemeindenetzwerk.de/?p=21531 (abgerufen am 5.3.2025).
[18] Diskussionsbeitrag der EKD, S. 18.
[19] Nancy Pearcey, Liebe deinen Körper – Sexualität, Gender und Ethik aus Sicht von Medien, Politik und Bibel, Betanien-Verlag, 4. Auflage 2024, S. 68.
[20] BVerfGE 88,203 (251f).
[21] Manfred Spieker, Biopolitik – Probleme des Lebensschutzes in der Demokratie, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2009, S. 17.
[22] In der Didache aus dem späten 1. Jhdt. heißt es: „Du sollst nicht das Kind durch Abtreiben umbringen und das Neugeborene nicht töten“. Ähnlich gebietet der Barnabasbrief (70–135 n.Chr.): „Töte das Kind nicht durch Abtreibung, noch … töte das Neugeborene!“
[23] Dietrich Bonhoeffer, Ethik, 8. Auflage, München 1975, Seite 187.
Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 18. März 2025 um 15:32 und abgelegt unter Ehe u. Familie, Gesellschaft / Politik, Kirche, Lebensrecht.