Plädoyer für ein israelbezogenes Verständnis und eine christusbezogene Auslegung der Offenbarung
Montag 10. März 2025 von Dr. Joachim Cochlovius

1.) Der Ausgangspunkt dieser Betrachtung ist die sog. Sinaiverheißung an Israel (2 Mose 19,5 und 6). Sie gibt Gottes Ziel mit dem jüdischen Volk an. Die Juden sollen ein königliches und heiliges Priestervolk werden. Gott will durch dieses Volk die Menschheit priesterlich segnen und königlich führen. Es liegt auf der Hand, dass dieses Ziel heute noch nicht erreicht ist. Warum, sagt 2 Mose 19,5. Erst muss das Volk wirklichen Gehorsam gegenüber Gott lernen. Israel braucht eine nationale geistliche Erweckung, bevor Gott mit diesem Volk ans Ziel kommt.
2.) Die merkwürdige Blindheit der meisten Juden für das Evangelium erklärt Paulus mit Jes 29,10, dass Gott ihnen einen „Geist der Betäubung“ gegeben hat (Röm 11,8). In Röm 11,25 spricht er von einer gottgewirkten „Verstockung“. Aber genauso deutlich führt Paulus auch aus, dass dieses Strafhandeln Gottes an Israel nicht von Dauer ist. Wenn Christus wiederkommt, wird er alle Gottlosigkeit von Israel abwenden und die Sinaiverheißung wahrmachen (Röm 11,26). Israel hat also noch eine großartige Zeit vor sich.
3.) Das Verstockungs- und Errettungshandeln Gottes an seinem auserwählten Volk ist nicht leicht zu verstehen. Immer wieder wurde im Christentum und im Islam behauptet, dass Gott das Volk der Juden verworfen habe und dass es ohne Zukunft sei. Leider hat seit der Zeit der Kirchenväter unter Christen immer wieder die sog. Enterbungstheologie Anhänger gefunden, wonach alle noch ausstehenden Israelverheißungen auf die Gemeinde Jesu übergegangen seien. Aussagen wie in 1 Petr 2,9 scheinen diese Auffassung zu stützen. Aber Röm 9-11 spricht eine klare Sprache. Gott hat Israel nicht verst0ßen (Röm 11,1).
4.) Jedem Bibelleser, der das Alte Testament mit seinen vielen Israelverheißungen ernstnimmt, stellt sich mehr oder weniger dringlich die Frage, was aus Israel wird. Viele fragen sich z.B., ob die Gründung des modernen Staates Israel 1948 ein rein politisches Geschehen war oder auf ein Eingreifen Gottes zurückzuführen ist. Die wachsende Israelfeindschaft in den Vereinten Nationen wirft ähnliche Fragen auf, ebenso die aktuelle Lage der Juden nach dem Hamas-Massaker am 7.10.2023. Viele Christen wünschen sich angesichts dieser Fragen klare biblische Antworten oder zumindest Leitlinien aus dem biblischen Wort. Hier kann ein israelbezogener Blick auf die Johannesoffenbarung helfen.
5.) Das „Buch der Offenbarung Jesu Christi“ (so heißt die Johannesoffenbarung eigentlich) wurde erst ab der Mitte des 4. Jahrhunderts zum Kanon der biblischen Bücher gezählt. Die Ostkirchen haben zu diesem Buch bis heute ein distanziertes Verhältnis, die syrisch-orthodoxe Kirche erkennt es gar nicht an. Martin Luther konnte mit der Offenbarung nichts anfangen. In der akademischen Theologie überwiegt die zeitgeschichtliche Auslegung der Offenbarung als Trostbuch für die verfolgten Christen im 1. und 2. Jahrhundert. Im Pietismus und im evangelikalen Bereich ist die sog. historische Auslegung verbreitet, wonach die sieben Sendschreiben sieben Stadien der Kirchengeschichte widerspiegeln. Im Allgemeinen herrscht unter den Bibellesern die Auffassung vor, dass die Offenbarung, insbesondere die ersten drei Kapitel, eine Botschaft Christi an die Gemeinde sei. Israelbezogene Auslegungen sind selten. Und doch schlummern in dieser Blickrichtung wertvolle Einsichten in Gottes Pläne mit Israel und mit der Welt. Wie kann man sich selbst den Blick öffnen für eine israelbezogene Auslegung der Offenbarung? Drei Hinweise:
6.) Wir müssen erstens die Selbstabsicht des letzten Buchs der Bibel ernstnehmen. Die Offenbarung will Endgeschichte „enthüllen“ („Enthüllung“ ist die richtige Übersetzung von „Apokalypse“). Der zentrale Satz steht gleich nach dem Eingangsgruß. „Siehe, er kommt mit den Wolken“ (1,7). Der Hauptinhalt des Buchs ist also die Wiederkunft Jesu und die damit zusammenhängenden Geschehnisse. Die zeitgeschichtliche und die historische Auslegung verbieten sich damit von selbst. Johannes schreibt, dass er „durch den Geist am Tag des Herrn“ war (1,10). Das ist nicht der Sonntag, wie oft zu lesen ist, denn nirgends wird im N.T. der Sonntag „Tag des Herrn“ genannt. Vielmehr greift Johannes hier einen feststehenden alttestamentlich-prophetischen Begriff auf, der die ganze Zeit am Ende unseres Äons meint. Auch die Christusvision, die Johannes anschließend schildert, hat klar endgeschichtliche Züge (1,13-18). Es ist der zum Gericht kommende Christus, den Johannes schaut. Die Feueraugen und die glühenden Füße sind Gerichtszeichen. Auch die Selbstaussage des Herrn, dass er „die Schlüssel des Todes und der Hölle“ hat (V. 18), ist ein klarer Hinweis auf das Gericht.
7.) Wir müssen zweitens die Aussagen über die Empfänger der Offenbarung sorgfältig prüfen. Wer sind die „Knechte“ von V. 1,1? Wer sind die „sieben Gemeinden“ von V. 1,4? Wem gelten die Verheißungen der sieben Sendschreiben? Die zentrale Aussage in V. 1,7 zeigt die Spur zum richtigen Verständnis. Da wird unter Bezugnahme auf Sach 12,10 die Wiederkunft des Herrn als weltumspannendes Ereignis beschrieben und die kommende gewaltige Nationalbuße des jüdischen Volks angekündigt. „Alle Stämme des Landes“ (so muss man im Anschluss an Sach 12,11-14 übersetzen) werden trauern über die große Nationalschuld Israels, nämlich dass es seinen eigenen sehnsüchtig erwarteten Messias dem Kreuzestod durch die Römer ausgelieferte. Damit fällt ein erstes Licht auf die „Knechte“. Es sind die angefochtenen und verfolgten Juden der letzten Zeit, die sich dem Falschmessias (dem „Antichrist“) nicht beugen und durch das Buch der Offenbarung göttlichen Trost empfangen. Auch die Sendschreiben erscheinen in einem neuen Licht, wenn wir sie unter der Israel-Perspektive betrachten. Die dort aufgezählten Verheißungen „Baum des Lebens“, das Verschontwerden vom „zweiten Tod“, der „neue Name“, der Sieg über die heidnischen Völkerheere, die „weißen Kleider“, die Bürgerschaft im „Neuen Jerusalem“ und das Mitregieren auf Christi Thron sind nämlich gar keine Verheißungen für die Gemeinde Jesu. Warum nicht? Weil die Gemeinde in der Glaubensgemeinschaft mit Christus schon längst Anteil am ewigen Leben hat, schon längst den neuen Namen, schon längst die weißen Kleider (Vergebung), schon längst die Himmelsbürgerschaft hat. Am endgeschichtlichen Kampf gegen die christus- und israelfeindlichen Völkerheere wird sie nicht beteiligt sein, denn wenn Christus kommt, wird sie zu ihm entrückt werden. Nimmt man noch die Tatsache aus den Sendschreiben hinzu, dass die Empfänger durchgehend nach ihren Werken beurteilt werden, während doch die Gemeinde rein aus Gnade errettet wird, dann ergibt sich schon aus diesen wenigen Beobachtungen, dass die Offenbarung an solche Juden gerichtet ist, die in der letzten Zeit unter der Herrschaft des Antichrist leben, dringend göttlichen Beistand brauchen und ihn durch die Offenbarung bekommen.
8.) Nehmen wir noch drittens die Endzeitrede Jesu in Matth 24 und 25 in den Blick. Neben dem Buch Daniel ist sie der wichtigste Schlüssel zum Verständnis der Offenbarung. Auch hier gilt es genau zu lesen. Die Jünger fragen Jesus nach der Zukunft des Tempels und nach den Zeichen für Jesu Kommen und für die Vollendung dieser Weltzeit (dieses Äons). Sie stellen diese Frage als Angehörige des jüdischen Volkes. Auch ihre Hauptfrage an Jesus vor seiner Himmelfahrt ist israelspezifisch (Apg 1,6: „Wirst du in diesem Äon Israel wieder herstellen?“). Dementsprechend sollten auch die Antworten Jesu erst einmal israelbezogen verstanden werden. Die endgeschichtliche Verführung Israels durch den Antichrist; der weltumspannende Judenhass; die innerfamiliären Spaltungen in der Frage, wer der Antichrist ist; der Aufruf, bis zur Vollendung des Äons, also bis zum Kommen Christi allen Versuchungen zu widerstehen; die Anweisung, in die judäischen Berge zu fliehen, wenn der Antichrist sich als Gott verehren lässt – all diese Zeichen werden erst dann richtig verstanden, wenn man sie israelbezogen versteht. Auch Matth 24,30b geht auf Israel, denn diesem Ausruf Jesu liegt Sach 12,10 zugrunde. Wie in Offb 1,7 geht es hier um die kommende große Nationalbuße Israels bei Jesu Wiederkunft. Ebenso gewinnt Matth 24,34 „Dieses Geschlecht wird nicht vergehen…“ erst dann den gemeinten Sinn, wenn der Satz als Garantie für die bleibende Existenz Israels verstanden wird. Das Gleiche gilt für die Gleichnisse von den zehn Jungfrauen, von den anvertrauten Zentnern und vom Endgericht in Matth 25. Es sind Mahnungen an die Juden, in der endgeschichtlichen Bedrängniszeit an der Hoffnung auf den vom Himmel kommenden Messias festzuhalten, und eine Mahnung an die Völker, Israel in der Bedrängnis beizustehen. Die Endzeitrede Jesu ist in vielerlei Hinsicht eine kurzgefasste Vorwegnahme der Offenbarung.
9.) In vielen Auslegungen wird aus Offb 1,19 abgeleitet, dass Johannes vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Geschehen aufschreiben soll. Meist wird ab dem 4. Kapitel das Zukünftige angesetzt. Doch diese Interpretation ist willkürlich. Wir haben an Offb 1,7 gesehen, dass im Buch der Offenbarung durchweg endgeschichtliches Geschehen angekündigt wird. Die sieben Gemeinden und die sieben Engel, an die Johannes sein Buch schicken soll, sind noch gar nicht vorhanden. Vor dem Kommen Jesu wird es sie geben. Dann werden die vom Antichrist und dem falschen Propheten bedrängten messiastreuen Juden aus diesem Buch Ermahnung und Trost, Mut und Hilfe bekommen. Offb 1,19 kann wie folgt übersetzt werden: „Schreibe auf, die du gesehen hast (nämlich die sieben Leuchter und die sieben Sterne) und was sie sind (was sie bedeuten) und was mit ihnen geschehen wird“. Man muss sich den Hergang des Offenbarungshandelns Gottes an Johannes wie folgt vorstellen: Zunächst empfängt der Apostel die Visionen (Kap. 4-22). Dann erscheint ihm Christus als Richter, erteilt ihm zwei Schreibbefehle (1,11 und 1,19) und diktiert ihm die Sendschreiben (Kap. 2 und 3). Abschließend verfasst Johannes die Einleitung 1,1-3, den Gruß 1,4-6 und berichtet von der Begegnung mit Christus.
10.) Wer sich zu einer israelbezogenen Auslegung der Offenbarung (und der Endzeitrede Jesu) entschlossen hat, muss sich die Frage stellen, was dieses apokalyptische Buch (und die sonstigen apokalyptischen Teile des Neuen Testaments) der Gemeinde Jesu heute sagen. „Was geht uns Israel an?“ könnte ja manch einer meinen. Nach 2 Tim 3,16 enthält alle von Gott eingegebene Schrift nützliche Lehre. Wo und was ist nun aber die „nützliche Lehre“ der apokalyptischen Aussagen? Ganz bestimmt nicht, dass sie unsere Neugierde nach den Abläufen der Endgeschichte befriedigen. In 1 Kor 10 schildert Paulus den Korinthern einige alttestamentliche Ereignisse, wo das Volk Israel in Sünde gefallen war und Gottes Strafgerichte erleiden musste. Er fügt hinzu, dass dies „als ein Vorbild“ und „uns zur Warnung“ geschah. Er will damit die falsche Glaubenssicherheit der Korinther infrage stellen. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass die Israeliten auch eine Taufe (Durchzug durch das Rote Meer) und auch ein Abendmahl (das Manna) hatten und trotzdem in Strafgerichte kamen. Ähnlich können auch wir aus dem künftigen endgeschichtlichen Schicksal Israels lernen, dass Gott auch an der Christenheit Strafgerichte vollziehen kann, wenn Christen sich antichristlichen Verführungen öffnen. In gleicher Weise sehen wir am Weg Gottes mit Israel aber auch, dass er seinen Verheißungen treu bleibt und dem messiastreuen Teil des jüdischen Volkes eine Volksbuße und die Einsetzung in die uralte Sinaiverheißung schenkt, ein heiliges und priesterliches Königsvolk zu werden. So können wir beides, Gericht und Gnade, aus der biblischen Apokalyptik lernen.
Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 10. März 2025 um 18:03 und abgelegt unter Gemeinde, Israel, Kirchengeschichte, Theologie.