Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Sonja Dengler: Männer nach Abtreibung

Montag 2. Oktober 2023 von Sonja Dengler


Männer nach Abtreibung

Anfangs unserer Beratungsarbeit war ich sehr zornig auf alle (!) Männer, weil sie zwar Lust hatten, zu schwängern, aber keine Lust, die Kinder großzuziehen – ihre Argumente: Eigenliebe und Selbstmitleid.

Also – dachte ich – haben DIE (!) Männer nicht nur keine Ahnung, was Abtreibung mit Schwangeren macht, sondern sie bleiben selbst auch unberührt von irgendwelchen Nachwirkungen. Entsprechend zickig ging ich mit ihnen in der Beratung um.

Diese falsche Haltung hat Gott ziemlich schnell und entschlossen korrigiert. Zeitlich unerwartet und sehr heftig zerbrach von einer Sekunde zur anderen mein in sich geschlossenes Männerbild. Was ist geschehen?

 

Der ganz normale Wahnsinn

Nun, es begann damit, dass alles auf den „ganz normalen Wahnsinn“ hindeutete:

Zum dritten Mal hatten wir ein Beratungsgespräch mit Mona – und nichts bei ihr erreicht. Ihre große schwarze Sonnenbrille nahm sie niemals ab, dazu trug sie eine Schirmkappe, sodass man fast nichts von ihrem Gesicht erkennen konnte. Nun wollte sie von uns einen Beratungsschein, damit sie abtreiben konnte. So schrieben wir eine schriftliche Begründung, warum Mona aufgrund ihres psychisch labilen Zustandes („ich leide unter Tunnelblick!“) nicht abtreiben dürfe. Sie kündigte wütend an, ihren Rechtsanwalt beizuziehen, weil sie das Gefühl hatte, dass wir „grundsätzlich gegen Abtreibung sind und damit sämtliche feministischen Errungenschaften zunichte machten!“

Verzweifelt bereiteten wir uns noch gründlicher als sonst vor: meine Mitarbeiterin sollte mit Mona reden, ihr unsere schriftliche Gegenargumentation überreichen und dabei würde sich uns dann hoffentlich eine letzte gute Idee auftun – ich sollte mich mit dem Rechtsanwalt auseinandersetzen, ihn möglichst aus dem Beratungsgespräch heraushalten. Wie? Keine Ahnung.

 

 

Eine harmlose Frage

Um 15 Uhr des Folgetages klingelte es und tatsächlich erschien die sonnenbebrillte Mona zusammen mit einem großen starken Mann. Ende vierzig, Anzugträger, Krawatte, fester Händedruck, selbstbewusste Körperhaltung.

Ein sehr heißer Sommertag trieb uns alle ordentlich ins Schwitzen, zumal das Beratungszimmer nach Süden lag, die große Glasscheibe versetzte uns sofort in gleißendes Wüstenklima. Rollläden gab es nicht, Vorhänge auch nicht. Der Rechtsanwalt fing sofort seinen Vortrag darüber an, warum wir verpflichtet seien, Mona einen Beratungsschein auszustellen – und die Diskussion zwischen ihm und mir nahm ihren Verlauf. Schlagabtausch folgte auf Schlagabtausch, er schaute mir unerschrocken in die Augen, wirkte überlegen-belehrend.

Aber auch ich hatte gute rechtliche Gegenargumente, deren Erwiderung ihm offenbar keine Mühe machte. Langsam kroch Verzweiflung in mein Herz – und endlich hatte ich sie, die rettende Idee: Eine verzwickte, systemische Frage sollte ihn aus seiner herablassenden Arroganz zwingen …

Zur exakten Formulierung brauchte ich bloß noch ein kleines bisschen „Luft“ und deshalb stellte ich ihm zu seiner Ablenkung eine harmlose Frage, auf deren Beantwortung es mir nicht wirklich ankam, die mir aber Zeit ließ, in Gedanken scharf zu formulieren: „Sie wissen ja noch nicht, dass wir hier über Kinder diskutieren, sind Sie eigentlich selbst Vater, wieviele Kinder haben Sie denn?“

 

… und ihre Folgen

Da geschah es: während ich mich innerlich zurückzog, um meine geschliffene Frage zu formulieren, passierte vor meinen Augen etwas Surreales.

Auf dem zwischen uns stehenden kleinen Couchtisch lagen plötzlich seine großen Männerhände, er stützte sich darauf ab und im Zeitlupentempo erhob er sich mit vorgebeugtem Oberkörper. Seine Gesichtsfarbe wechselte von zornig-rot zu käse-bleich.

Mit halbem Ohr vernahm ich, wie meine Mitarbeiterin ihm ein Glas Wasser eingoss: „Ist Ihnen schlecht? Trinken Sie einen Schluck, das ist bestimmt nur die scheußliche Hitze, aber wenn ich das Fenster öffne, kommt noch mehr Hitze rein.“

Mit bebenden Händen versuchte er, das Wasserglas zu ergreifen, stieß es jedoch um, die Nässe breitete sich aus, tropfte auf den Teppich. Seine Hände rutschten darauf aus und dabei immer mehr auf meine Tisch-Hälfte zu. Ob er handgreiflich wird? Er versuchte, mir etwas zu sagen, meine Frage zu beantworten. Doch kein Buchstabe kam über seine Lippen, er rang vergeblich um Worte. Sein Anblick rief mein Mitgefühl hervor: „Herr M, um Himmelswillen, habe ich was Falsches gesagt? Dann möchte ich mich entschuldigen, was ist los mit Ihnen???“ Gleichzeitig in mir ein einziger Dauerschleife-Gedanke: „Was hast du ihm angetan?!“ Ich ergriff seine Hände, eiskalt waren sie.

„Herr M … das wollte ich nicht … was ist los?“ Er bebte am ganzen Körper. Es war furchtbar heiß und es wurde immer stickiger, als er endlich ausrief: „Es war Ihre Frage! Es war Ihre Frage!“ „Entschuldigen Sie bitte, ich ziehe sie natürlich zurück, ich wollte nur nebenbei wissen, ob Sie selbst Kinder haben… es ist keine wirklich wichtige Frage!“

Was hatte ich bloß angerichtet?

 

 

Rätselhafte Tränen

Er starrte mich an, rang erneut verzweifelt nach Worten und dieses Mal gelang es ihm: „Das ist aber die Frage, die ich mein ganzes Leben lang vermeiden wollte, all die vielen Jahre ist mir das gelungen, ich bin gerade 51 Jahre alt geworden und immer ist es mir gelungen?!“

„Was ist Ihnen gelungen?“, frage ich. „Immer, wenn ich eine berufliche Besprechung hatte, bei Kollegen-Treffen oder bei privaten Besuchen zu Hause: Immer gelang es mir, diese Frage zu vermeiden, das kostete mich jedes Mal viel Kraft!“

„Ich verstehe nicht … warum ist das so eine schreckliche Frage?“ „Weil ich die Antwort nicht kenne, weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll!“, rief er und brach in Tränen aus.

Totenstille. Ich musste das Gespräch retten, irgendwie – aber: was passierte hier? Ich verstand nichts mehr und gab ihm demzufolge diesen Rat: „Sie können auf diese komplizierte Frage einfach mit einer Zahl antworten oder einfach sagen ‚ich habe keine Kinder‘ – was bringt Sie so in Verzweiflung?“

Die Hitze und das Schluchzen im geschlossenen Zimmer war kaum mehr auszuhalten, er weinte ununterbrochen, noch immer stand er halb vornübergebeugt vor mir, sich wieder auf dem Tisch abstützend.

 

 

Das Geständnis

Endlich schüttelte er den Kopf, immer noch am ganzen Körper zitternd: „Ich weiß die Antwort nicht! Weil ich im Studium meine damalige Freundin zur Abtreibung gezwungen habe, sie wollte das nicht machen, aber ich habe ihr damit gedroht, sie zu verlassen und da hat sie nachgegeben, war schon im voraus unglücklich und ich habe draußen vor der Tür gewartet, bis sie wiederkam. Danach sprach sie kein Wort mehr mit mir, hat ihr Jura- Studium abgebrochen und ist zu ihren Eltern zurück. Nie wieder habe ich etwas von ihr gehört und ich war erst sehr erleichtert. Und dann lernte ich nach meiner Ausbildung meine jetzige Frau kennen – wir haben geheiratet und ich erzählte ihr nichts von den nächtlichen Alpträumen seit der Abtreibung, ich erzählte ihr nichts von meinem toten Kind, dessen Tod ich zu verantworten habe, ich erzählte ihr nichts von meinen inneren Qualen – ich wollte nichts mehr davon wissen, verdrängte, verdrängte, verdrängte.

Meine Frau wunderte sich nur, dass ich so gerne Kinder haben wollte, von mir aus könnten wir noch mehr bekommen, wir haben jetzt 4 Kinder und ich erklärte ihr natürlich nicht, dass ich bei jeder Geburt hoffte, das neue Kind würde so aussehen wie das tote Kind, damit ich endlich zur Ruhe komme, weil es wiedergeboren wäre und ich nicht mehr als Kindermörder weiterleben müsse!“

 

 

Gequälte Seelen

Von Schluchzen und Weinen geschüttelt, erfuhren wir noch viele andere Details. Unter anderem konnte er eben niemandem sagen, was passiert war, weil er solch einen Zusammenbruch immer befürchtet hatte, das galt es unter allen Umständen zu vermeiden. Deshalb konnte er niemandem sagen, wie viele Kinder er hat:

  • Sollte er das tote Kind mitzählen?
    Dann müsste er aber erklären, dass es tot ist.
  • Sollte er es nicht mitzählen?
    Dann würde er es ein weiteres Mal töten.

Seine schreckliche Erkenntnis: diese alles zerstörende Frage durfte nie gestellt werden und er war der Einzige, der sie vermeiden konnte. Die Aufzählungen seiner Qualen nahmen kein Ende. Unfassbar, was sich vor meinen Augen abspielte – befriedigt einerseits, dass der Kindermörder solche Qualen litt (über so viele Jahre schon), bedrängte mich die Frage, was ich mit ihm tun sollte.

Meiner Mitarbeiterin war ich unendlich dankbar, dass sie trotz dieser Atmosphäre so geistesgegenwärtig war, Mona und ihr Kind zu retten. Herr M. legte dann das Mandat nieder und Mona, die entsetzt dem Drama beigewohnt hatte, wollte nicht mehr abtreiben.

Danach fing auch sie an zu weinen, nahm ihre Sonnenbrille ab und erklärte, dass sie die seit ihrer Abtreibung vor ca. einem Jahr tragen muss, danach sei der Tunnelblick bei ihr festgestellt worden. Dann nahm sie auch ihre Mütze ab und endlich konnten wir ihr Gesicht sehen: Auch sie eine gequälte Seele.

Irgendwann dazwischen war es draußen unbemerkt dunkel geworden, meine Mitarbeiterin fuhr Mona nach Hause.

Als Herr M. zum Verabschieden vor mir stand, umarmte ich ihn gegen meinen inneren Willen und riet ihm dringend, heute Abend noch seiner Ehefrau alles zu sagen – und mich morgen früh anzurufen, dann gäbe ich ihm einen Rat, was er ihr gegenüber weiter tun könne.

Und wieder gegen meinen inneren Willen (ich wollte, dass er leidet!) schlug ich ihm vor, dass ich darüber nachdenke, wie ich ihm aus diesem schrecklichen Dilemma heraushelfen könne.

Drei Tage Fasten und Beten machten mir klar, dass wir eine PAS-Therapie auch für Männer ausarbeiten werden – mein Wunsch, ihm und seiner Familie zu helfen, war größer als meine Befriedigung darüber, dass er litt. Noch heute, während ich mir das in Erinnerung rufe, klopft mir mein Herz – das war ganz knapp, dass ich beinahe Gottes Wegweisung verloren und mich verirrt hätte …

 

 

Männer und Abtreibung: „Millionen leiden“

Eine neue Studie zeigt langfristige negative Auswirkungen von Abtreibung auf Männer. Die National Men’s Abortion Study wurde von Support After Abortion, einer gemeinnützigen Organisation, die sich auf die Heilung nach Abtreibung spezialisiert hat, in Auftrag gegeben und vom US-Meinungsforschungsinstitut ShapardResearch in Oklahoma City durchgeführt. Für die repräsentative Studie wurden 1000 Männer über 18 Jahren befragt, von denen 100 das Kriterium erfüllten, persönlich ein Kind durch Abtreibung verloren zu haben. Davon definierte sich etwa die Hälfte der Männer als „Pro-Choice“ (= für Abtreibung) und die andere Hälfte als „Pro-Life“ (für das Leben).

Die Mehrheit der Männer gab an, negative Auswirkungen von ihren Abtreibungserfahrungen zu erleben, einschließlich Depressionen, Angstzustände, Reue, Trauer und Zorn.

Besonders interessant: Die tiefe Betroffenheit über den Kindsverlust besteht unabhängig von den persönlichen Ansichten der jeweiligen Männer über Abtreibung und unabhängig von der Tatsache, ob sie ein Mitspracherecht bei der Entscheidung hatten oder nicht.

Die Mehrheit der Männer (83 Prozent), die Abtreibung erlebten, suchten danach Hilfe (51 Prozent) oder gab an, sie hätten von Unterstützung profitiert (32 Prozent). Aber nur wenige (18 Prozent) wussten, wohin sie sich wenden konnten, um Hilfe zu bekommen.

7 von 10 Männern (71 Prozent) stellten an sich selbst eine nachteilige, ungünstige Veränderung nach ihrem Abtreibungsverlust fest, oft über Jahre hinweg. Bei manchen Männern trat der emotionale Schmerz rund um ein Abtreibungserlebnis sofort auf, bei anderen Jahre später.

Dieser Schmerz manifestierte sich auf viele Arten, wie bei jeder Trauer oder jedem Trauma. Männer berichteten in der Studie über Depressionen, Traurigkeit, Schuld, Reue, Ängste, Wut, Gedanken darüber, was hätte sein können, Leere, Drogenmissbrauch, ein Gefühl der verlorenen Vaterschaft und andere Emotionen.

Laut der Studie National Survey on Family Growth macht einer von fünf Männern bis zum Alter von 45 Jahren eine Abtreibung durch. Doch deren Co-Author Dr. Brian Nguyen geht dabei von einer „Unterzählung“ aus: Denn „nicht alle Männer sind sich der Schwangerschaften bewusst, die sie verursachen, und derjenigen, die mit einer Abtreibung enden.“ Stellen wir die mindestens 20 Prozent der Männer, die im Laufe ihres Lebens eine Abtreibung erleben, in Bezug zu den 71 Prozent, die dauerhaft negative Auswirkungen durch Abtreibung erfahren, so bedeutet dies, dass jeder 7. Mann mit den Folgen eines Kindesverlustes zu kämpfen hat.

Weil es im gesellschaftlichen Bewusstsein rund um Abtreibung in erster Linie um Frauen geht, spricht Greg Mayo, Vorsitzender von Support After Abortion, von einer „entrechteten Trauer der Männer“ und betont die Notwendigkeit, ein „Licht auf Männer werfen, die zu oft übersehen werden“. Denn „Millionen leiden“.

https://supportafterabortion.com/wp-content/uploads/2022/07/Support-After-Abortion-Mens-Research-White-Paper-VF3.2-1.pdf


Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung von Sonja Dengler, www.tiqua.org.

Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 2. Oktober 2023 um 6:00 und abgelegt unter Allgemein.