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Meine Zugänge – Fjodor Michailowitsch Dostojewskij zum 200. Geburtstag

Donnerstag 16. Dezember 2021 von Dr. Dieter Müller


Dr. Dieter Müller

Als ich 1954 „Schuld und Sühne“ las, und dann den „Idioten“, und darauf „Die Brüder Karamasow“, und schließlich auch „Die Dämonen“, da begegnete ich einem durch grauenhafte Tiefen geschleiften russischen Christen, der mir eine unheimlich-fremde Welt erklärte, in die ich, verwirrt, schon als Kriegskind hinein gezwungen wurde. In Dostojewskijs literarisch aufgerissenem Raum wilder russischer Christlichkeit begegnete ich noch einmal dem russischen Hauptmann Michail, vermutlich Atheist, der im Mai 1945 in Chaos und Angst eine deutsche Offiziersfrau und Mutter von Kindern ins Bett zwang – ich, zehn Jahre alt, sah es verwirrt mit Angst, und dieser sowjetische Offizier mußte sich wenig später seinerseits von seinem enthemmten Obersten inmitten deutscher Frauen und russischer Soldaten ohrfeigen lassen.

Alles deutsch Geordnete und vertraute Sicherheit Bietende löste sich in brutale Vitalität auf. Bei Dostojewskij tauchten diese verdrängten Erfahrungen meiner Kindheit wieder auf. Bei ihm traf ich die Erniedrigten und Beleidigten, von denen ich in mir selbst ängstigende, verwirrende Anteile spürte, oder den Lakaien Smerdjakow, in dem ich mich selbst verachtete, bei ihm begegneten mir die Mensch gewordenen Christus-Ikonen, der Fürst Myschkin oder Aljoscha Karamasow als ahnende Boten alles verstehender und alles versöhnender Liebe.

Ich tauchte bei Dostojewskij ein in die Welt der dunklen herunter gewirtschafteten Wohnungen, der Wucherer und lungenkranken Studenten, in der die Hure Sonja die Heilige ist und der Atheist, der sich in rationaler Logik entscheidet zu morden, Gott nicht entkommt. Denn Gott findet ihn mittels der Hure und zieht den Mörder auf dem heilenden Weg von Umkehr und Vergebung zu sich. Bei Dostojewskij fand ich die Welt vor dem gnädigen Gericht Gottes, in der sich die Gebrochenheit menschlichen Lebens an jeder seiner Gestalten studieren läßt. Ich tauchte ein in diese eschatologisch aufgerissene Welt vor Gottes Augen, die nach Erlösung schreit. In dieser Welt – und das ist am Ende die unsrige – kratzt man den aufgetragenen Lack ab. Wo sind Maß und Grenze? Ohne Gott ist alles erlaubt und möglich, lerne ich bei Dostojewskij, alles eine Frage der Macht.

Hier fand ich mich in ergreifenden Geschichten bei Lampen ohne Strom und einem Ofen ohne Kohle lesend und frierend – so war es 1946 oder 1947 – vor der flackernden Karbidlampe gedeutet. Hier waren die kleinen Leute in den engen Wohnhöhlen und den Treppenhäusern mit notdürftiger Beleuchtung, unter denen ich damals lebte. Die mit Nachbarn geteilte Toilette auf halber Etage mit der kleinen Gasflamme gegen das Einfrieren im Winter erlebte ich jetzt auch in der Distanz sprachmächtig und schmerzvoll Wirklichkeit besprechender Literatur. Als Gott mich zum Glauben rief, verschmolzen Dostojewskijs Menschen mit denen der Bibel, und die Bibel gewann für mich eine ostkirchliche Färbung. Dostojewskij wurde zum Bibel-Exegeten, durch den Gottes Worte sich in Menschen aus Fleisch und Blut verwandelten.

Wie wurde Dostojewskij?

Dostojewskij, dieser Ausnahme-Dichter mit dem enthüllenden, dem prophetischen Tiefblick in die Seele des Menschen, wurde am 11. September 1821 in Moskau geboren. Sein Vater stammte aus einem katholisch-orthodoxen Priestergeschlecht, hatte aber selbst mit dieser Tradition gebrochen und das Priesterseminar verlassen, um Arzt zu werden. Er war ein hart gewordener Mann, der als Militärarzt zu viel Schmerz und Sterben gesehen hatte. Gleichwohl, beide Eltern waren gläubige Christen, die Mutter eine „reine liebende Seele“, der Vater jedoch eine zunehmend gebrochene Existenz, der nach dem Tod seiner Frau – Fjodor war sechzehn Jahre alt – allen Halt verlor und am Ende wegen seiner grausamen Härte vielleicht sogar von seinen Leibeigenen im Alkoholrausch erstickt wurde. Mit achtzehn Jahren war Fjodor Dostojewskij Vollwaise. Er schreibt 1873 in der Rückschau im „Tagebuch eines Schriftstellers“: „In unseren Familien waren wir mit dem Evangelium beinahe seit frühester Kindheit vertraut. Ein jeder Besuch des Kremls und der Moskauer Kathedralen war für mich immer ein feierliches Ereignis.“ Und an anderer Stelle: „An jedem Sonn- und Feiertage mußten wir pflichtgetreu zum Frühgottesdienst gehen und am Abend vorher zur Abendmesse.“ Das hat ihn christlich geformt und nicht Widerwillen hervorgerufen.

Schon das Kind Fjodor sah täglich menschliches Leid in Armut und Krankheit. Sein Vater, der Militär-Arzt, hatte die armselige, düstere Dienstwohnung im Moskauer Armenspital. Sie bestand aus zwei Zimmern, einer Halle und Küche. Die Halle hatte ein Fenster und wurde durch eine halbhohe Bretterwand in zwei Teile geteilt. Der fensterlose Teil war Fjodors Kinderzimmer, das er mit seinem Bruder Michail teilte, ein kleiner dunkler Raum. Die Familie war nicht arm. Der Vater hatte zusätzlich eine Privatpraxis, verfügte über eine siebenköpfige Dienerschaft und besaß vier Pferde. 1831 konnte er ein kleines heruntergewirtschaftetes Gut kaufen. Hier verbrachten Mutter und Kinder einen großen Teil der Sommerzeit. Täglich allerdings sah Fjodor Dostojewskij im Hospitalpark die leid- und schmerzgeplagten Siechen sich über die Parkwege schleppen. Seine Kinderseele nahm früh das Leid der Menschen in sich auf.

Der kleinlich geizige Vater kaufte großzügig Literatur. Bildung war ihm und seiner Frau, Tochter einer wohlhabenden Moskauer Familie, wichtig. Es gab regelmäßige Lektüreabende, die Vater und Mutter bestritten. Später durften sich auch die Brüder Fjodor und Michail am Vorlesen beteiligen. Die Kinder lernten früh die großen Romane der Zeit kennen. Vor allem die großen französischen Schriftsteller faszinierten ihn, Fjodor Dostojewskij. Als junger Mensch las er in den Sommerferien alles, was er von Balzac in die Hände bekam. Voltaire stand Modell bei der Entwicklung der Gestalt des Iwan Karamasow. Auch in der deutschen Literatur war Dostojewskij zu Haus. Sein favorisiertes Drama waren Schillers „Räuber“. E.T.A. Hoffmann inspirierte ihn zur Entwicklung des Doppelgängermotivs.

In St. Petersburg bekam Dostojewskij eine Militäringenieurs-Ausbildung und begann erste literarische Arbeiten.

Durch die irdische Hölle geschleift

Dostojewskijs abgründige Höllenfahrt begann um vier Uhr früh am 23. April 1849. Er wurde verhaftet und in die St. Petersburger Peter-Pauls-Festung überführt und wie der gefährlichste Hochverräter in einer Einzelzelle eingeschlossen. Ihm wurde vorgeworfen, einen Brief des atheistischen Sozialisten Belinskij an Gogol im Freundeskreis vorgelesen zu haben. Nicht mehr! In diesem Brief griff Belinskij die autokratische Zarenherrschaft, die Leibeigenschaft und die Religion scharf an. Nach langen acht-monatigen Verhören weckte man Dostojewskij am 22. Dezember 1849 um sieben Uhr und fuhr ihn im Kastenwagen zum Semjonow-Platz. Es schneite. Man führte ihn und weitere Verurteilte auf eine errichtete Tribüne, das Schafott, und verlas das Urteil: „Das Militärgericht hat… den Ingenieur-Leutnant Fjodor M. Dostojewskij unter Aberkennung des militärischen Ranges und aller Vermögensrechte zum Tode … verurteilt.“ Man zerbrach die Offiziersdegen über ihren Köpfen und zog ihnen die weißen Sterbegewänder an. Jetzt trat ein Priester heran, bot die Beichte, von der nur ein Einziger Gebrauch machte, ging dann zu jedem Verurteilten und ließ ihn das Kreuz küssen. Jeder küßte es, selbst ein entschiedener Atheist. Dann wurden sie, ihrer sechs, an die Pfähle geführt. „Ich stand als sechster, aufgerufen wurden wir zu drei Mann, folglich war ich in der zweiten Reihe, und es blieb mir nicht länger als eine Minute zu leben…Da ertönte plötzlich ein Trommelsignal, man führte die an die Pfosten Angebundenen zurück und verlas uns, daß Seine Kaiserliche Majestät uns das Leben schenke,“ schrieb Dostojewskij noch am selben Abend an seinen vertrauten Bruder Michail.

Es begann eine vierjährige Höllenzeit als Sträfling in Sibirien, nachdem ihm die Zehnpfund schweren Eisenketten an die Füße geschmiedet worden waren, die er jetzt unablässig vier Jahre lang bei schwerster körperlicher Sträflingsarbeit tragen sollte. Das Leiden wollte nicht mehr von ihm weichen. Nach seiner Entlassung aus der Haft begann die Epilepsie seine Gesundheit zu untergraben. Er wurde spielsüchtig, litt in der Ehe, seine Einkommen waren immer zu gering, er wurde gejagt von seinen Gläubigern. Mit neunundfünfzig war sein Leben zu Ende.

Es ist erneut an der Zeit, Dostojewskij zu lesen

Dostojewskijs literarisches Genie, sein intuitiv gelenkter Tiefenblick in den Menschen waren verwurzelt in einer biographischen Leidensgeschichte, die Grauen auslöst. Vielleicht hat er gerade deswegen die Weltliteratur anthropologisch vertieft wie wenige. Selbst in Japan soll es mehr Übersetzungen seiner Werke geben als in irgendeinem anderen Land. Wer immer in Deutschlands Kultur-Elite Rang und Namen hatte, konnte sich ihm nicht entziehen. Selbst Nietzsche, dem Dostojewskijs Christusbindung ein Greuel war, gesteht in seiner „Götzendämmerung“, Dostojewskij sei der einzige Psychologe, bei dem er etwas zu lernen hatte. Für das geistige Marburg der zwanziger Jahre hielt der Philosoph Gadamer fest: „Die roten Piper-Bände der Dostojewskijschen Romane flammten auf jedem Schreibtisch.“ Auf Martin Heideggers Schreibtisch in Marburg standen die Bilder von Dostojewskij und Pascal. Hermann Hesse, Stefan Zweig oder Thomas Mann widmeten Dostojewskij Essays.

Dostojewskij hat die alles Leben bedrohenden Krisen der mit menschlichem Autonomie-Selbstbewußtsein aufgeblähten Moderne schärfer gesehen als andere. „Ohne Gott ist alles erlaubt“ ist sein durch die Geschichte nie widerlegtes Bekenntnis, denn ohne Gott ist alles eine Frage der Macht. Die Menschenversuche des 20. Jahrhunderts zeigen es überdeutlich, und die des 21. Jahrhunderts lassen es unter raffinierter maskierten, scheinbar menschenfreundlichen Verhältnissen erkennen. Der aus dem natürlichen Gleichgewicht gebrachte Mensch wird in der Regel nicht Engel, selbst wenn er die Schöpfung retten will, sondern sehr viel häufiger Dämon. Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot und viele andere in der Moderne sind grauenhafte Beispiele. Der Natur verleugnende Genderwahn verbirgt die dämonische Fratze unter einer menschenfreundlichen Maske. Dostojewskij sah es mit geschärftem prophetischem Blick voraus.

Vernichtend ist Dostojewskijs Urteil über den Sozialismus. Er sah sehr klar, daß der Sozialismus auf einem falschen Menschenbild beruht. „Der Westeuropäer redet von Brüderlichkeit wie von einer großen die Menschheit bewegenden Kraft und verfällt überhaupt nicht darauf, daß Brüderlichkeit sich von nirgendwo hernehmen lässt, wenn sie nicht als Wirklichkeit einfach vorhanden ist.“ „Da die Brüderlichkeit Ihnen nicht von Natur gegeben ist, will er sie künstlich herstellen.“ „In [West Europa] hat sich das Vorhandensein der Brüderlichkeit nicht gezeigt, sondern statt ihrer das Vorhandensein des Prinzips der Einzelperson, der Persönlichkeit der verstärkten Selbsterhaltung, der Selbstbehauptung, des Selbstbetriebs, der Selbstbestimmung innerhalb des eigenen Ich; das Prinzip, dieses Ich der ganzen Natur und allen übrigen Menschen entgegenzustellen.“ „Damit es Brüderlichkeit gibt, das Liebesprinzip, muß man lieben. Es muß einen instinktiv zur Brüderlichkeit hinziehen, zu Gemeinsamkeit und Eintracht.“

Für Dostojewski ist die einzige funktionierende Basis einer solchen, den Menschen erfüllenden Mitmenschlichkeit der christliche Glaube. Ein säkularer Humanismus beziehungsweise Sozialismus hingegen ist für ihn ein Widerspruch in sich selbst.

„Die Sozialisten wollen den Menschen neu erschaffen, ihn befreien, ihn ohne Gott und Familie darstellen. Sie glauben, daß sie ihr Ziel erreichen, wenn sie erst die wirtschaftlichen Verhältnisse verändert haben. Aber der Mensch läßt sich nicht ändern durch andere Rahmenbedingungen, sondern nur durch eine moralische Transformation.“ „Im Sozialismus gibt es nur Einzelmenschen, im Christentum eine sehr weitgehende Entfaltung der Persönlichkeit und des eigenen Willens“ schreibt er 1864/65 in „Christentum und Sozialismus“. „Der Kommunismus ist aus dem Christentum hervorgegangen, aus der Hochachtung vor dem Menschen. Aber statt selbst zu lieben, greifen die Ungeliebten zu Stöcken und wollen sich nehmen, was die Lieblosen Ihnen verweigern“, notiert er 1875/76.

In den „Brüdern Karamasow analysiert er: „Der Sozialismus ist nämlich nicht nur ein Problem, das den Arbeiter…berührt; es ist vor allem ein atheistisches Problem: es geht um die moderne Verkörperung des Atheismus, um einen babylonischen Turm, der ausdrücklich ohne Gott gebaut wird, nicht um den Himmel von der Erde aus zu erreichen, sondern um den Himmel zur Erde herab zu holen.“ In einem Brief hält er 1873 fest: „Der Sozialismus hat fast die ganze Generation bewusst und in der dem Unsinn nächsten unbewussten Form uniformiert und in der Gestalt der Niederträchtigkeit zerfressen… Man muss dagegen ankämpfen, denn alles ist verseucht. Meine Idee beruht darauf, dass Sozialismus und Christentum Antithesen sind,“ schreibt er 1873 in einem Brief.

Dostojewski hat durch seine Sensibilität und durch sein vierjähriges Leben unter Schwerstverbrechern in Sibirien die Gefährdungen des real existierenden Menschen realistisch eingeschätzt. Er konnte einen tiefen Blick in den Menschen hinein werfen. Auch heute ist seine leidenschaftliche Ablehnung des Sozialismus ernsthaft zu bedenken. Der Nationalsozialismus war ebenfalls eine Variante des Sozialismus. Der Stalinismus war im 20. Jh. die andere grauenhafte Variante des Sozialismus. Sozialismus hat seine historischen Wurzeln in der ambivalenten Französischen Revolution und ist zugleich wie Dostojewskij wahrnahm eine Perversion des Christentums, das seiner sozialethischen Aufgabe fast nie gerecht wurde. Eine Perversion der christlichen Soziallehre ist der Sozialismus deswegen, weil er, wie Dostojewskij sehr klar sah, glaubt, die Neue Welt ohne Gott heraufführen zu können.

Ein weiterer Grund, neu in Dostojewskij zu investieren, sind die faszinierenden Übersetzungen der vier großen Romane. Seit Swetlana Geier die großen Romane nach 1994 sprachbewußter übersetzte, wurde Dostojewskij in Deutschland endlich als Sprach- und Wortkünstler wahrgenommen. In Russland hatte man schon längst die „Polyphonie“ in Dostojewskis Romanen entdeckt und gewürdigt: Jede Figur spricht ihre eigene Sprache mit individuellem Stil, die auch kennzeichnende Versatzstücke aus der fremden Rede in sich aufnimmt. Die Wahrheit des Romans entwickelt sich in einem Konzert verschiedener Stimmen, die aufeinander nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch, geradezu konzertant Bezug nehmen.

Bei Swetlana Geier gewann jede der Romangestalten auch in der deutschen Übersetzung eine unverwechselbare sprachliche Identität. Durch sie wurde Dostojewski in seiner kreativen Sprachmacht sichtbar. Während der Buchtitel „Schuld und Sühne“ sofort verführerisch theologische Assoziationen hervorrief, ließ das sachliche, Dostojewskijs Russischem angemessenere „Verbrechen und Strafe“ den Raum, in dem sich Raskolnikows langer Weg zu Gott sühnend gehen und sehen ließ. Statt „Jüngling“ wählt Geier den Titel „Ein grüner Junge“ und trifft den Inhalt des Romans und seines Protagonisten präziser. Auch „Böse Geister“ scheint mir besser zu treffen, was Dostojewskij entfalten wollte.

Dr. Dieter Müller

Aus: Kirchliche Sammlung um Bibel und Bekenntnis, 42. Jahrgang, Nr. 3/2021

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 16. Dezember 2021 um 17:07 und abgelegt unter Allgemein, Christentum weltweit.