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Kanzelrede in der Kreuzkirche Bonn

Sonntag 20. August 2006 von Hans-Ulrich Klose


Hans-Ulrich Klose

Kanzelrede in der Kreuzkirche Bonn am 20.8.2006

Am 11.7.06 veröffentlichte die FAZ einen Bericht des Instituts für Demoskopie Allensbach unter der Überschrift „Wie sicher ist Deutschland?“ Darin ging es um die Einstellung der Bevölkerung zu Fragen der inneren Sicherheit. Zweierlei war bemerkenswert: zum Einen, daß die Menschen offenbar weniger auf den tatsächlichen Verlauf kriminellen Geschehens reagieren, wenn man so will: auf die Polizeistatistik, sondern vielmehr auf die Art und den Umfang von Medienberichten und Kommentaren, die sich mit spektakulären Verbrechen beschäftigen. Zum Anderen, daß das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen sich in den letzten zehn Jahren nicht eingetrübt, sondern aufgehellt hat. Zwar glaubt noch immer mehr als die Hälfte der Befragten, daß die Zahl der Verbrechen in Deutschland zunimmt; aber dieser Wert lag 1969 bei 80% und 2002 noch immer bei 71%.

Erstaunlich fand ich, daß die Rangfolge der Delikte, die von den Befragten am häufigsten genannt wurden, sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert hat. An der Spitze stehen: Kindesmißbrauch (68%), Vandalismus/mutwillige Zerstörung (61%) und Kinderpornographie (57%). In 1969 lautete die Rangfolge: Kindesmißbrauch (88%), Kinderpornographie (80%), Autodiebstahl (75%). Die Angst, Opfer von Autodiebstählen zu werden, hat in den letzten zehn Jahren also abgenommen; bei Vandalismus sind die Zahlen gleich geblieben (61%).

Ich habe, weil ich es etwas genauer wissen wollte, die polizeiliche Kriminalstatistik durchgesehen, nicht zu Vergleichszwecken, sondern um festzustellen, wie oft Kinder bis unter 14 Jahren Opfer von Gewalt (von Mord und Totschlag bis hin zu sexuellem Mißbrauch) geworden sind. Die Zahlen, die ich Ihnen jetzt vortrage, beziehen sich auf das Jahr 2005: Straftaten gegen das Leben (ohne Verkehrsunfälle): 257; Rohheitsdelikte (Raub, räuberische Erpressung etc.): 57.629; Körperverletzung: 43.566, darunter Mißhandlung von Kindern 3.377; Straftaten gegen die persönliche Freiheit (einschließlich Sexualdelikte): 9.819.

Zusammengefaßt waren also laut Polizeistatistik Kinder bis zu 14 Jahren 111.271 Mal Opfer von Straftaten. Als ehemaliger Jugendstaatsanwalt (meine aktive Zeit liegt allerdings lange zurück) weiß ich, daß die Zahlen tatsächlich sehr viel höher liegen. Die sog. Dunkelziffer bei Kindesvernachlässigung und –mißhandlung sowie bei sexuellem Mißbrauch von Kindern ist deutlich höher. Denn wir wissen, daß eine Vielzahl von Delikten sich im engeren Familienbereich ereignet, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, und nur in seltenen, krassen Fällen öffentlich bekannt wird. Die Berliner Catania gGmbH, eine gemeinnützige Organisation von Ärzten, die sich unter anderem um traumatisierte Kinder kümmert, glaubt, daß jedes fünfte Kind Opfer von Gewalt und aktiver oder passiver Mißhandlung wird – eine erschreckende Zahl.

An einige spektakuläre Fälle von Kindesvernachlässigung, die in den letzten Jahren die Öffentlichkeit beschäftigt haben, möchte ich hier erinnern: Im März 2002 läßt eine 24-jährige Mutter aus Bad Herrenalb ihre 6 Monate alte Tochter einfach zurück, weil sie – wie sie später erklärt – „ein neues Leben“ anfangen will. Das Kind verhungert. Im Februar 2004 verhungert ein 11 Monate altes Kind in Hanerau-Hademarsch (Schleswig-Holstein). Im März 2004 stirbt in Hamburg die siebenjährige Jessica, die von den Eltern jahrelang in einem abgedunkelten Zimmer ohne ausreichende Nahrung festgehalten worden war. Sie erstickt an Erbrochenem. Im Juni 2004 entdecken Polizisten in Cottbus die Leiche eines sechsjährigen Jungen (Dennis) in der Tiefkühltruhe der Eltern – er war verhungert. Im Juli 2004 stirbt in Hamburg die dreijährige Michelle an Unterernährung und Verwahrlosung.

Wenn solche Fälle bekannt werden, geht regelmäßig eine Welle der Erschütterung durch die Medien. Die Politik reagiert mit Sonderausschüssen, die Öffentlichkeit mit dem Ruf nach neuen Gesetzen, die Behörden wünschen sich mehr Personal bei den zuständigen Sozial- und Jugendämtern. Dazu kommen wechselseitige Schuldzuweisungen.

Was davon im Einzelfall zu halten ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich bin kein Freund von Schuldzuweisungen aus der Distanz. Mein genereller Eindruck ist, daß die zuständigen Ämter und die dortigen Mitarbeiter sich große Mühe geben, daß sie aber tatsächlich vielfach überfordert sind und in der Regel zu spät oder gar nicht eingeschaltet werden, weil sie keine Informationen und Hinweise erhalten. Die Verwandtschaft kümmert sich nicht, die Nachbarn sehen und hören nichts oder sehen weg, sozial Kontrolle findet nicht statt. Zur Erziehung eines Kindes aber braucht es ein ganzes Dorf, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Wo gibt es bei uns solche Dörfer mit funktionierenden Nachbarschaften, die Hilfe anbieten und soziale Kontrolle gewährleisten; die helfen, wenn Ehen auseinander gehen, wenn Eltern überfordert sind, mit ihrem eigenen Leben nicht zurecht kommen und ein Kind oft als zusätzliche Belastung oder Störenfried wahrnehmen. Nicht selten haben diese überforderten Eltern in der eigenen Kinderzeit bittere Erfahrungen machen müssen und übertragen später ihre in der Kindheit aufgestauten Haßgefühle auf die eigenen Kinder, mitleidslos, weil ohne Schuldgefühl.

Was können wir tun? Was müssen wir tun? Folgendes mindestens:

Viel Leid und manches Verbrechen könnte verhindert werden, wenn Menschen, Nachbarn, Kollegen, die von Kindern in Not wissen, sich an die zuständigen Ämter wenden, also ihre Scheu vor Anzeigen überwinden würden. Das kann auch ohne Namensnennung geschehen und hat mit Denunziantentum nichts zu tun. Wer die Behörden auf Probleme aufmerksam macht, tut dies nicht, um den Eltern zu schaden, sondern um Kindern zu helfen, und damit, indirekt, auch den Eltern.

Ämter und deren Mitarbeiter dürfen nie nur bürokratisch reagieren; sie müssen sich bei Auffälligkeiten sofort und vor Ort kümmern, statt im Nachhinein Regelverstöße durch Bußgeldverfahren zu ahnden.

Mißhandelte, vernachlässigte, mißbrauchte Kinder dürfen nicht nur körperlich, sie müssen auch seelisch/seelsorgerisch therapiert werden. Letzteres wird, so weit ich weiß, von den Kassen nur im Ausnahmefall finanziert. Weil das so ist, haben sich manchenorts private Initiativen gebildet. Als Beispiel nenne ich noch einmal die gemeinnützige gGmbH „Catania“, die sich um die Entwicklung von speziellen Traumatherapien für mißhandelte Kinder kümmert. Für alle, die interessiert sind, nenne ich die Anschrift: Catania gGmbH, Turmstraße 21 in 10559 Berlin (Tel. 030/30 39 06 70, Fax 030/30 61 43 71)

Die Bevölkerung, wir alle, sollten, wenn Hilfe nötig wird, etwas „amerikanischer reagieren: Nicht immer nur fragen was andere, was der Staat tun kann, sondern selber etwas tun. Ohne Amerika als generelles Vorbild propagieren zu wollen – in dieser Mentalitätsfrage könnten wir etwas von den Amerikanern lernen.

Die Politik sollte nicht nur in Zeiten von öffentlicher Aufwallung nach „Skandalen“ und appellativ über Werte reden, sondern konkrete Projekte gegen die verbreitete soziale Verwahrlosung ergreifen. Der sog. „Rütli-Effekt“ darf nicht einfach verpuffen; er muß Anlaß sein, nachzufragen und einzugreifen, wenn die Entwicklung in Schulen und anderswo aus dem Ruder läuft und soziale Brennpunkte entstehen.

Der eingangs zitierte Allensbach-Bericht in der FAZ vermutet, daß die Entwicklung an der Berliner Rütli-Schule den Blick der Öffentlichkeit auf Jugendkriminalität und Verwahrlosung gelenkt hat, und registriert ganz allgemein eine stärkere Hinwendung zu traditionellen bürgerlichen Werten. Ist das wirklich so? Zu wünschen wäre es, aber sicher bin ich mir keineswegs. Ich habe eher den Eindruck, daß die gewandelte Wertorientierung nostalgisches Wunschdenken zumeist älterer Semester ist, die mehr oder weniger hilflos auf negative Entwicklungen in der Gesellschaft reagieren. Als Marotte will ich das aber nicht abtun, im Gegenteil: Das Gefühl, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse sich in die falsche Richtung entwickelt haben und entwickeln, ist weit verbreitet. Auch Gefühle sind Fakten und müssen ernst genommen werden, vor allem, wenn sie durch die Faktenlage gerechtfertigt erscheinen.

Auf die Fakten der Kriminalstatistik habe ich hingewiesen. Jetzt will ich im zweiten Teil meines Vortrages über die Erkenntnisse der Bevölkerungswissenschaftler sprechen, weil ich glaube, daß die Demographie ein Indikator ist für den Zustand der Gesellschaft, für deren – wenn ich so sagen darf – humane Vitalität. Auch dieser Indikator ist für die Bundesrepublik Deutschland negativ.

Die Robert Bosch Stiftung hat dazu vor kurzem eine Studie unter dem Titel „Kinderwünsche in Deutschland“ vorgelegt, aus der ich einige, mir wichtig erscheinende Ergebnisse zitieren möchte. Der demographische Gesamtbefund ist klar: Die Geburtenziffern in Deutschland sind seit Jahrzehnten rückläufig; sie haben sich zwischen 1975 und 2005 mehr als halbiert. Die Sterbeziffern übersteigen die Geburtenziffern deutlich. Gleichzeitig hat die Lebenserwartung bei Frauen und Männern zugenommen. Im Ergebnis dieser Entwicklung nimmt die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ab und wird zunehmend älter.

Wie ist der starke Rückgang der Geburtenziffern zu erklären?

In der Öffentlichkeit werden verschiedene Gründe debattiert. Sie reichen von der Pille über materielle Probleme, die Infantilisierung der jungen Männer bis hin zum schon erwähnten Wertewandel. Der hat – wie die Bosch-Studie eindrucksvoll nachweist – stattgefunden. Im Einzelnen lesen wir dazu in der Studie:

„Elternschaft ist im Leben der meisten Menschen zu einem Wert unter vielen geworden.“ Im Einzelnen wird dazu aufgeführt: „Weder Männer noch Frauen sehen Kinder heute als unerläßlich für ein erfülltes Leben an. Die vorliegende Untersuchung zeigt: Kinder sind zu einem Wert unter vielen geworden, der das Leben mit Sinn erfüllen kann. Das muß nicht heißen, daß Kinder unwichtig sind, ihnen wird aber auch keine Sonderrolle in der eigenen Lebensplanung mehr eingeräumt. Eher zeigt sich hier eine zunehmende Wertetoleranz – jeder soll nach eigener Facon selig werden, und Kinder sind dabei eine Option unter anderen.“ Weiter wird in der Studie ausgeführt: Die Frauen hätten sich „von ihrem klassischen Rollenbild als Mutter weitgehend emanzipiert“. Die Hälfte der Frauen sei der Meinung, „daß Kinder für ein erfülltes Frauenleben nicht mehr notwendig sind“. In Deutschland habe es also in dieser Frage in den vergangenen Jahren einen eindrucksvollen Wertewandel gegeben. So sei der Anteil derjenigen, die meinen, daß eine Frau Kinder für ein erfülltes Leben brauche, zwischen 1990 und 2000 von 65% auf 36% gesunken. Heute liegt er bei 30%. Kaum anders sehe es bei den Männern aus. Nur etwas mehr als ein Viertel der Männer sähen in Kindern eine Voraussetzung für ein erfülltes Männerleben.

„Kinder werden“, so die Studie weiter, „in der allgemeinen Wahrnehmung eher mit Belastungen als mit einer Bereicherung des Lebens verbunden: Die meisten Befragten glauben, daß (weitere) Kinder in ihrem Leben nichts verändern würden. Wer doch mit Veränderungen rechnet, erwartet eher Verschlechterungen.“

„Kinder haben wenig Einfluß auf Lebensfreude und -zufriedenheit. Nur unter den Kinderlosen hat ein nennenswerter Anteil positive Erwartungen im Hinblick auf Lebensfreude, Partnerschaft und Situation im Alter. Sie bleiben aber in der Minderheit gegenüber denen, die von Kindern keine Veränderungen in diesen Lebensbereichen erwarten.“

„Familien genießen wenig Ansehen: Ob man in einer Familie mit Kindern lebt oder nicht, hat nach Ansicht der Befragten kaum Einfluß auf das Ansehen bei Freunden und Nachbarn.

Nur ein Teil der Kinderreichen meint, daß ein weiteres Kind ihr Ansehen verändern würde – und zwar zum Schlechteren.“

„Gegen Kinder spricht für viele Befragte, daß sie finanziellen Spielraum, Beschäftigungschancen und persönliche Freiheit einschränken: Vor allem Frauen erwarten solche Einschränkungen in hohem Maße.“

„Fast alle Befragten – ob kinderlos oder Eltern – haben ein klare Vorstellung von den Voraussetzungen einer Familiengründung: Stabile Beziehung zu einem Lebenspartner; Sicherer Arbeitsplatz mindestens eines potentiellen Elternteils.“ Die Studie stellt weiter fest: „Niedriger Kinderwunsch und häufiger gewünschte Kinderlosigkeit haben ein Ausmaß erreicht, das einen deutlichen Anstieg des Geburtsniveaus erschwert…“

Die Studie der Bosch Stiftung bestätigt, worauf die Bevölkerungswissenschaftler seit Mitte der siebziger Jahre hingewiesen haben, ohne daß Gesellschaft und Politik bereit gewesen wären, diese Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen: Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland verändert sich dramatisch. Wir wandeln uns zu einer kinderarmen Gesellschaft von Erwachsenen und Älteren. Während in einigen Ländern der Welt (zum Beispiel in den Ländern auf der Südseite des Mittelmeeres) die unter-21jährigen die Mehrheit in der Bevölkerung bilden, wird bei uns diese Bevölkerungskohorte auf unter 15% Anteil an der Gesamtgesellschaft absinken. Kinder werden zu absoluten Minderheit; wobei noch anzumerken bliebe, daß sich die Zusammensetzung der nachwachsenden Generationen deutlich verändert. Der Anteil von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund nimmt absolut und relativ zu. Vor allem in den großen Städten ergeben sich daraus Schwierigkeiten, die nicht nur in Berlin (in der Rütli-Schule), sondern vielerorts zu erkennen sind. Die Gesamtentwicklung ist problematisch, aber unumkehrbar. Veränderungen sind wegen des sog. Echo-Effektes nur über längere Zeiträume von fünfzig und mehr Jahren denkbar. Sind sie auch machbar?

Derzeit wird viel über Familienpolitik gesprochen. Und das ist gut so. Viel darf man sich davon allerdings nicht erwarten. In der Bosch-Studie heißt es dazu: „Die Familienpolitik hat wenig Spielraum, wenn sich immer mehr Menschen Kinder nicht einmal wünschen. Allerdings kann sie einige wichtige Rahmenbedingungen so verändern, daß Menschen, die Kinder haben wollen, sich diesen Wunsch leichter und schneller erfüllen können.“ Mehr nicht.

Eine andere politische Schlußfolgerung aber ist zwingend: Eine Gesellschaft, in der immer weniger Kinder geboren werden, muß jedenfalls alles tun, was möglich ist, um die wenigen Kinder optimal zu versorgen, zu pflegen, zu schützen, zu erziehen, auszubilden und in jeder vernünftigen Weise zu fördern. Wie aber soll das geschehen, wenn die Bildungsausgaben gekürzt, Stellen bei den Jugendämtern gestrichen und wenn Kinder eher als Störenfriede und Belastung gesehen werden, nicht nur von Eltern, sondern von der Gesellschaft oder Teilen dieser Gesellschaft? Es gibt – was viele nicht wissen oder wahrhaben wollen – regelrechte Kinderhasser; und es gibt Menschen, die – mit Verlaub – zu dumm sind, um zu begreifen, daß eine Gesellschaft ohne Kinder keine Zukunft hat.

Darf ich als Beispiel aus einem Leserbrief zitieren, der in der FAZ vom 26.7. abgedruckt war. Der Brief bezieht sich auf einen Artikel in eben dieser Zeitung vom 29.6. unter der Überschrift „Kinderwünsche“. In dem Brief heißt es: „Im Wirtschaftsteil Ihrer Zeitung war zu lesen, daß eine normal verdienende Familie mit zwei Kindern quasi keine Steuern zahlt. Ich (der kinderlose Briefschreiber) bin es also, der für das Kindergeld, den Familienzuschlag, die Freibeträge, die Zulagen zum Hausbau, die Krankenkassenbeiträge der Kinder, den Kindergarten, die Schulen, Universitäten und sonstige Vergünstigungen aufkommt. Manchmal wundere ich mich über die Unverfrorenheit von Eltern, die sich aus rein privaten Motiven fortpflanzen, aber die Kosten ihrer Fertilität der Gesellschaft aufbürden wollen.“ Und weiter: „Unser Land ist hoffnungslos überbevölkert: Arbeitslosigkeit, Verkehrschaos, Fluglärm, hohe Mieten und hohe Energiepreise sind die Merkmale. Es werden täglich weltweit etwa 700.000 Menschen geboren. Unvorstellbar. Und wir hier in Deutschland fördern das Wachstum der Bevölkerung.“

So kann man es auch sehen, weil man niemanden daran hindern kann, sich die Welt verquer zu denken. Ein Land aber, genauer ein Volk, daß Zukunft gewinnen und gestalten will, darf so nicht denken, darf solches Denken jedenfalls nicht zur Grundlage und Leitlinie seines Handelns machen.

Der drastische Rückgang der Bevölkerung in vergleichsweise kurzer Zeit wird unser Land – ich wiederhole – dramatisch verändern. Er kann durch Migration nicht ausgeglichen, bestenfalls gemildert werden, wenn wir die Zuwanderung vernünftig steuern. Wie viele Menschen in hundert Jahren in Deutschland leben werden läßt sich in Bandbreiten vorausberechnen: zwischen 45 und knapp 60 Millionen (Migration inklusive) statt heute 82 Millionen. Ich kann mir Deutschland mit rund 50 Millionen Menschen vorstellen. Aber den Weg dorthin mag ich mir nicht vorstellen. Es wird kein Weg bergauf sein, sondern ein ziemlich steiler Weg bergab, wie wir in Anfängen heute schon erleben. Das nicht zu sehen, nicht einmal zu ahnen (siehe den erwähnten Leserbriefschreiber) zeugt, milde formuliert, von unentschuldbarer Kurzsichtigkeit.

Ich breche hier ab, weil ich nicht polemisch werden will. Ich schulde Ihnen aber noch eine Antwort auf die Frage, warum ich mich für diesen Vortrag auf das Bibelwort im 10. Kapitel des Markus-Evangeliums beziehe. Ich hätte auch Kapitel 19 des Matthäus- oder Kapitel 18 des Lukas Evangeliums wählen können – die Geschichte mit den Kindern wird in allen drei Evangelien erzählt; nicht bei Johannes. Ich habe aber bewußt die Darstellung bei Markus gewählt. Warum? Vergleichen Sie selbst. Matthäus 19, Verse 13-15, lauten: „Da wurden Kinder zu ihm gebracht, daß er die Hände auf sie legte und betete. Die Jünger aber fuhren sie an. Aber Jesus sprach: ‚Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solcher ist das Himmelreich.’ Und er legte die Hände auf sie und zog von dannen.“ Bei Lukas 18, Verse 15-17, heißt es: „Sie brachten auch junge Kindlein zu ihm, daß er sie sollte anrühren. Da es aber die Jünger sahen, fuhren sie sie an. Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: ‚Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.’“ Bei Markus Kapitel 10 Verse 13-16, heißt es: „Und sie brachten Kinder zu ihm, daß er sie anrührte. Die Jünger aber fuhren die an, die sie trugen. Da es aber Jesus sah, ward er unwillig und sprach zu ihnen: ‚Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.’ Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.“

Sie erkennen gewiß den Unterschied. Während bei Matthäus und Lukas die Episode mit den Kindern ausschließlich als Hintergrund für eine Lehraussage dient, erscheint Jesus bei Markus auf anrührende Weise menschlich und kinderfreundlich. Er doziert nicht, die Jünger zurechtweisend, mit gleichsam erhobenem Zeigefinger. Er erklärt den Jüngern lediglich, warum er sich den Kindern zuwendet, und tut eben dies: Er herzte die Kinder, legte die Hände auf sie und segnete sie. Und zog nicht einfach von dannen.

Es ist diese Geste der Zuwendung und der Kinderliebe, auf die es mir vor allem ankommt. Ich möchte die Debatte, auch die sog. Wertedebatte ablösen von Nützlichkeitserwägungen, die die Familienpolitik anzustellen genötigt ist. Gegen solche Erwägungen ist nichts einzuwenden. Es darf aber, wenn es um Kinder geht, die tiefere Dimension menschlicher Existenz nicht verloren gehen. Weil das so ist, schließe ich mit zwei Zitaten aus einem jüngst erschienen Buch des Philosophen Ferdinand Fellmann. Sein Titel: „Das Paar“. Da ich nicht hochstapeln will, bekenne ich, daß ich das Buch noch nicht gelesen habe. Ich entnehme die Zitate einer lesenswerten Rezension in der FAZ vom 17.7.06.

Das erste Zitat lautet: „Zum Erwachsensein gehört mehr, als was sich die Ahnungslosen darunter vorstellen. Es ist in erster Linie die Erfahrung, das letzte Glied in einer Kette der Verantwortlichen zu sein. Als Erwachsener kann man sich für seine (Fehl-)Entscheidung nicht mehr hinter Vater und Mutter verstecken. Daß diese Erfahrung so bitter wird, hängt damit zusammen, daß Erwachsene nicht nur Probleme haben, die sich relativ leicht lösen lassen, sondern auch solche, mit denen man dauerhaft leben muß. Sie heißen „Sorgen“. Die meisten dieser Sorgen bereitet den Erwachsenen das Kind.“

Das zweite Zitat: „Die Veränderung der Welt und des Menschen kann niemand aufhalten. Es kommt nur darauf an, sie richtig zu interpretieren, damit wir den Glauben an die Liebe nicht verlieren.“

Einen besseren Schluß für diesen Vortrag habe ich nicht finden können.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Sonntag 20. August 2006 um 8:56 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik.