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Die Wiederentdeckung der verlorenen und verratenen biblischen Hoffnungsgeschichte bei Paul Schütz

Dienstag 14. März 2006 von Kirchenrat Hans Lachenmann (1927-2016)


Kirchenrat Hans Lachenmann (1927-2016)

Die Wiederentdeckung der verlorenen und verratenen biblischen Hoffnungsgeschichte bei Paul Schütz (1)

Der Messias Christus ist da. Nun ist der Horizont geöffnet. Hoffnung ist das Element, in dem sich die gefallene Schöpfung erhebt. Evangelium ist Prophetie. Seit Christus sind in der Welt Gewalten losgebrochen, die Welt von einer Veränderung in die andere stürzend. Wie über Katarakte, immer breiter, immer tiefer, stürzt die Geschichte ihren äußersten, ihren letzten Möglichkeiten entgegen. Endhorizonte tauchen vor der Menschheit auf. (Paul Schütz)

Die Hoffnungsgeschichte

Ein unsagbar kostbares Geschenk an die Menschheit ist die Hoffnungsgeschichte der Bibel. Sie endet nach Wirrnis, Kampf und Leiden mit der Vision des neuen Himmels und der neuen Erde ohne “Leid, Geschrei und Schmerz“, und mit der Verheißung: „Ja, ich komme bald“. Die große Hoffnungsgeschichte aber wiederholt sich in vielen kleinen Hoffnungsgeschichten der Bibel. Was haben beide miteinander zu tun, die Geschichte und die Geschichten? Im Englischen die history und die stories? Warum nennen wir den aus unbekannter Ferne kommenden und ins Ungewisse laufenden Zeitstrom eigentlich Geschichte und gebrauchen dafür dasselbe Wort wie für eine dem Kind erzählte Geschichte?

Geschichten

Menschen sind hungrig nach Geschichten. Offenbar brauchen wir sie wie die Luft zum Atmen und das tägliche Brot. Kinder sind ganz Ohr, wenn sie auf Mutters oder Vaters Schoß aus ihrem Mund eine Geschichte hören. Bleibt ihnen solches versagt, sind sie von der „Glotze“ nicht wegzukriegen. Sie sind geradezu süchtig nach Geschichten. Auch später bleibt ihnen der Hunger nach Geschichten, sei es im Kino, im Theater, in Groschenromanen, in Krimis oder in den Meisternovellen Thomas Manns. Warum ist das so? Was geschieht mit uns beim Hören einer Geschichte?

Wir werden durch jede Geschichte in die uns Menschen zukommende Zeitstruktur eingewiesen. In der Mathematik ist die Zeit schlicht die Funktion t, analog einer anfangs- und endlosen Geraden. Sie kennt keinen qualitativ hervorgehobenen Punkt der Gegenwart, den Augenblick, und deshalb auch noch nicht die Scheidung von Vergangenheit und Zukunft. Sie ist ein gleichmäßig dahinfließender Strom: ein Kontinuum. Vielleicht entspricht dieses Verständnis von Zeit dem seit Jahrmillionen stehenden Fels, vielleicht auch der Blume, vielleicht sogar dem noch träumenden Kind im Mutterleib. Schlafend und träumend, so wachsen wir ins Leben hinein. Doch nun in der Geschichte: ein Ereignis, überraschend, zum Staunen oder zum Entsetzen, die Begegnung mit der wunderschönen Frau oder mit dem entsetzlichen Ungeheuer. Der Zeitstrom bricht sich gleich dem Lichtstrahl in einem Prisma und wird in eine neue Richtung gelenkt. So wird aus dem Zeitstrom die menschliche Zeit, die als Gegenwart das Überraschungsfeld der Zukunft von der schon festgestellten Vergangenheit scheidet.

Sodann zeigt die Geschichte die Konsequenz dieser Zeitstruktur. Sie kann gut ausgehen: am Ende der Sieg über den Verderber und die glückliche Hochzeit. Sie kann in Jammer und Leid enden. Sehnsüchtig erwarten wir das happy end – sind enttäuscht, traurig, verwirrt, vielleicht wütend, wenn die Geschichte ein schlimmes Ende nimmt. Dann steht vor uns die Frage aller Fragen: Kann man dem Sein trauen, daß es gut ist? Zwischen dem Sein und dem Nichtsein ist nach dem Philosophen Schelling nur eine hauchdünne Grenze. Daher die Urangst in uns Menschen, ins Nichts zu fallen. Daher die Frage: Wird am Ende alles gut sein? Wartet am Ende das schwarze Loch? Die glückliche Geschichte nährt jedes Mal das Urvertrauen in die Güte des Seins, die schlimme schwächt es.

Damit weist uns die Geschichte in die Gegenwart ein als den Ort, da sich Glück und Unglück, Leben und Tod entscheiden. Es gilt, das Glück beim Schopf zu packen, der Verführung zu widerstehen, das Rechte zu tun. So prägt uns die Geschichte, die „story“, zu wirklichen Menschen. Wir können nun nicht mehr blind im Zeitstrom mitschwimmen; wir sind dazu gerufen, die Augen zu öffnen, zu sehen, was ist, und dann das zu tun, was dem Leben dient, das aber zu meiden, was es zerstört.

Diese Struktur einer Geschichte gilt auch für die biblischen Geschichten. Die Redewendung „Es begab sich…“ durchzieht die Bibel als ein wiederkehrendes Leitmotiv. Da beruft Jesus den Fischer Simon am See Genezareth. Erschrocken über den reichen Fischzug, überwältigt von der Gegenwart Jesu, verläßt er Boot, Arbeit und sicheres Brot und folgt dem Herrn auf seinem Weg. Und es geschieht, was Jesus dem zweifelnden Täufer Johannes zuruft: „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird das Evangelium verkündet“ (Matte. 11, 5). Das Evangelium ist eine Kette von Geschichten, die den Menschen in die neue Lebenssituation einweisen. Ãœberraschendes geschieht: Befreiung von der Last der Vergangenheit, der Ruf in die Freiheit, die Nähe des Gottesreiches. Es ist kaum zu ermessen, was die Frage für den Weg eines Menschen bedeutet: sind es die Hoffnungsgeschichten der Bibel, die seine junge Seele prägen? Sind es andere, böse Geschichten? Geschichten sind keine Illustrationen für abstrakte Wahrheiten, kein Hilfsmittel für die Einfältigen, erst recht kein harmloser Zeitvertreib. Sie gewinnen – heilend und befreiend oder aber versklavend und zerstörend – Macht über unsere Seele.

Geschichte

Die verschiedenen Schriften des Alten und Neuen Testaments sind uns in der Weise als Kanon überliefert, daß sie den ganzen Weltenlauf als Geschichte enthüllen. Die Bibel ist es, die den aus dunklen Vorzeiten kommenden und ins Unbekannte fließenden Zeitstrom zuerst als Geschichte verstanden hat. Das Wort selbst kennt die Bibel nicht, wohl aber die Sache. Andere Religionen und Kulturen verstehen den Zeitstrom als einen fortgesetzten Kreislauf gleich dem Wechsel der Jahreszeiten. Mit dem Wort Geschichte aber ist tatsächlich ausgesagt, daß die Geschichte dieselbe Struktur besitzt wie eine dem Kinde erzählte Geschichte.

Sie beginnt mit der Genesis: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde…“. In der Offenbarung kommt das Ziel in Sicht: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr“ (Offb. 20, 1). Es wird nicht unterschieden zwischen Natur und Geschichte, das eine die stehende Kulisse, das andere die wechselnden Szenen des großen Welttheaters. Es ist die eine und selbe Geschichte. Auf den Menschen hin – als Mann und Frau zu Gottes Bild geschaffen – ist die Welt geordnet. Des Menschen Schicksal ist auch das Schicksal der Kreatur. Der Mensch ist Herz und Mitte der Schöpfung. Christus aber, der neue Mensch, ist der Erlöser und Vollender beider.

Die ganze Weltgeschichte ist Heilsgeschichte. Sie hat wie jede Geschichte ein Thema: „Welt ging verloren, Christ ist geboren: Freue dich, freue dich, o Christenheit!“ Es ist eine Rettungsgeschichte: der Kampf Gottes für sein Geschöpf gegen die Verderbensmächte. Zugleich eine Liebesgeschichte: der Schmerz des Schöpfers um sein verlorenes Geschöpf, seine Suchen und Ringen, zuletzt seine Hingabe im Opfertod des Sohnes. Die Geschichte spitzt sich zum Ende hin dramatisch zu bis zu ihrem Ziel, dem Weltgericht – dem Tag, da alles endlich ans Licht kommt – und dem Sieg der Gottesliebe über Hass und Tod. Das Apostolikum ist dazu die Kurzfassung. Der Ort des Menschen aber ist der letzte Akt des Dramas, unmittelbar vor der Schlußszene.

Die Bibel ist das Buch der Überraschungen: Die Berufung Abrahams, Moses und der Propheten. Später Johannes der Täufer. Die Christgeburt, Kreuz und Auferstehung. Jedes Mal ein Ereignis, das den Zeitstrom unterbricht und in Vergangenheit und Zukunft scheidet. Dazwischen aber der Mensch, gerufen zu Umkehr und Glauben, zur Ausrichtung seiner ganzen Existenz auf die größte aller denkbaren Überraschungen: das Reich Gottes.

Die Geschichte mit ihrem zeitlichen Anfang und Ende gleicht einer Insel im Ozean, rings umschlossen von dem „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ der Gotteswirklichkeit, dem „Himmel“, der unserem Zugriff entzogen bleibt. Das Ewige aber ist nur aussagbar in Bildern, so vom verlorenen Paradies und vom kommenden Freudenreich. Es gilt: „Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben“(1. Kor 2,9).

Markus nennt am Anfang das Thema der Verkündigung Jesu: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Verändert euch in eurem Sinn und glaubt an das Evangelium“ (Mk. 1,15). So wie eine Geschichte Macht hat, einen Menschen in seinem Denken, Fühlen, Wollen und Handeln zu prägen, so nun in höchster Potenz, vervielfacht, die Geschichte. Das Evangelium vom Reich öffnet den Zustrom einer gewaltigen, belebenden Macht über die Seelen der Menschen. Sie drängt Apostel und Evangelisten hinaus aus den engen Grenzen der Heimat in die Fremde, zu allen Menschen. So wächst die Kirche als Anfang der neuen Menschheit. In den verstreuten Gemeinden versammeln sich Menschen zum Hören auf Gottes Wort, zum gemeinsamen Gebet und zum Lob Gottes. Sie vereinen sich im heiligen Mahl mit ihrem Herrn und rufen ihm schon entgegen „Maranatha“ – Unser Herr komm! (1. Kor 16,22) Es ist die Macht des heiligen Geistes. Sie befähigt zum Tun des Guten, zum Kämpfen und zum Ertragen, macht sogar zum Martyrium bereit. Diese Macht fürchten Kaiser und Tyrannen. Sie verändert die Welt.

Die verlorene Hoffnungsgeschichte

„In der Christenheit ist keine Erwartung mehr. Es ist gerade das nicht mehr, was das Evangelium zum ‚Freudenmysterium’ macht, das nicht nur dem einzelnen gilt, sondern der Natur, der Geschichte, allen Geschlechtern der Menschheit, den einstigen und den kommenden. Die christliche Botschaft hat ihre Universalität verloren. Sie hat das Wort verloren, das der ganzen Schöpfung, den Kosmos mit eingeschlossen, das ‚allem Fleisch’ die Hoffnung zusagt, es werde der Weg Gottes – um mit Paulus zu reden – das All dem Freudenmysterium der Vollendung entgegenführen.“ (2)

Mit diesen Worten beklagt Paul Schütz den Verlust der biblischen Hoffnungsgeschichte. Eine andere Geschichte hat sie vernichtet. Was von wenigen Einzelnen entdeckt und von den Gebildeten diskutiert wurde, die kopernikanische Wende, das Weltbild Keplers, Galileis und Newtons, später Albert Einstein und die Ergebnisse der modernen Astronomie und Astrophysik, das zählt heute zum Allgemeinwissen der Menschen. Ein Besuch im Stuttgarter Planetarium, Zeitschriften und Sachbücher, zeigen unseren Planeten – in der biblischen Rede von „Himmel und Erde“ das Gegenüber des Himmels – nunmehr als eine Winzigkeit im unermesslichen, sich immer weiter und rascher ausdehnenden Weltraum mit Milliarden von Galaxien, interstellaren Staubwolken, explodierenden Supernovae und fernen Materienebeln. Was die Riesenteleskope erfassen, sind Lichtsignale, die aus den Tiefen von Millionen und Milliarden Lichtjahren zu uns vordringen. Soweit reicht die Geschichte unseres Universums zurück bis zum „Urknall“ vor 14 Milliarden Jahren. Darin – sehr spät – die Geschichte des Lebens auf unserem winzigen Planeten, von den Vorformen des Lebens an ein breiter werdender Strom des Lebendigen, an dessen Ende die Geschichte des Menschen.

Diese Geschichte hat die biblische Hoffnungsgeschichte als ein „Märchen aus uralten Zeiten“ entlarvt. Zuerst waren es die wenigen Aufgeklärten, die sich daraus verabschiedeten. Heute geschieht das mit der Masse der Zeitgenossen. Diese Geschichte ist das Ergebnis dessen, was wir sehen, erfassen, im Experiment beweisen können, was den Gesetzen und Grundsätzen unterliegt, die uns Mathematik und Logik vorgeben, der „exakten“ Naturwissenschaft: objektiv, neutral, für jedermann einsichtig. Gott kommt darin nicht vor. Kann es gar nicht. Nur die Notwendigkeit gilt, die Kausalität. Freiheit darf nicht sein; sie wird als „Zufall“ registriert. „Zufall und Notwendigkeit“ lautet der Buchtitel des französischen Nobelpreisträgers Jacques Monod. (3) Darin begegnet uns die Geschichte des Menschen im Universum in folgendem Satz: „Wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muß der Mensch endlich aus seinem tausendjährigen Schlaf erwachen und seine totale Verlassenheit, seine Fremdheit erkennen. Er weiß nun, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen“. (4)

Gegen diese Vertreibung aus dem Haus der Hoffnung in die Nacht wehrt sich die Seele des Menschen, denn sie kann ohne Hoffnungsgeschichte nicht leben. Hartnäckig halten Christen an der biblischen Hoffnungsgeschichte fest. Widerstandslinien werden befestigt. Aber der Druck wird übermächtig. Die Gegenargumente scheinen unschlagbar zu sein. In der Not wird die Bibel zur letzten Widerstandslinie. Dazu muß man sie zur unfehlbaren Instanz erklären. Der Glaube an die Irrtumslosigkeit der Bibel wird faktisch zum ersten Glaubensartikel vor allen anderen. Die Bibel wird darüber zum bombensicheren Betonbunker. Die göttliche Stimme aus ihren Worten aber erstickt in fruchtloser Rechthaberei.

Moderne evangelische Theologie wählte den anderen Weg. Die biblische Hoffnungsgeschichte wurde aufgegeben, Natur und Geschichte den modernen Wissenschaften überlassen. Das Thema „Gott und die Seele“ war dem Glauben geblieben. Schon im Mittelalter war es in den Vordergrund gerückt: das postmortale Los der Seele und die von der Kirche gewährte Hilfe zur Errettung der Seele. Die Reformation knüpfte mit der Frage nach dem gnädigen Gott und der Botschaft von der Rechtfertigung allein durch den Glauben daran an. Die entschiedenste Konzeption auf dieser Spur war später die Existenztheologie Rudolf Bultmanns mit dem Programm der Entmythologisierung. Was Bultmann zur Universalgeschichte zu sagen hat, fasst er in „Geschichte und Eschatologie“ zusammen: „Schau nicht um dich in die Universalgeschichte; vielmehr mußt du in deine eigene persönliche Geschichte blicken. Je in deiner Gegenwart liegt der Sinn der Geschichte, und du kannst ihn nicht als Zuschauer sehen, sondern nur in deinen verantwortlichen Entscheidungen. In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische Augenblick zu sein. Du mußt ihn erwecken.“ (5) Durch dieses enge Nadelöhr soll nun die biblische Hoffnungsgeschichte getrieben werden. Ob das den „Zigeuner am Rande des Universums“ wohl zu trösten vermag? Ob es ihm wohl hilft, sein Leben zu bestehen? Es bleibt beim Diktum von Paul Schütz: „In der Christenheit ist keine Erwartung mehr.“

Die verratene Hoffnungsgeschichte

In „Charisma Hoffnung“ spricht Paul Schütz von der „Aufspaltung der christlichen Substanz“, und zwar der gefährlichsten, die wir bislang hatten. „Waren die vergangenen Spaltungen von 1054 und 1517 noch in der Christenheit geschehen und von ihr zusammengehalten, so ist die Spaltung Kierkegaard-Marx ein Vorgang, der ein Kernelement des Evangeliums, nämlich die Prophetie vom Reich, an die kollektiven Mechanismen verloren hat. Dieses Kernelement ist aus der Christenheit herausgestürzt und von den ‚falschen Christi’ vom Boden aufgehoben worden. Die individualistische Religion ist der Rest, der uns verblieb“ (6).

So haben wir es erlebt. Die zwei Großideologien Marxismus und Nationalsozialismus haben die verlorene „Prophetie vom Reich“ vom Boden aufgehoben und an sich gerissen. Die Seele des Menschen braucht eine Hoffnungsgeschichte. Deshalb taucht die verlorene Hoffnungsgeschichte der Bibel wieder auf – als Plagiat. Subjekt der Hoffnungsgeschichte ist nicht mehr Gott, sondern der Mensch. Mit dem Subjektwechsel wird die Hoffnungsgeschichte politisch. Sie bildet nun den Kern der politischen Ideologien. Einmal mit dem Ziel der klassenlosen Gesellschaft und des kommunistischen Paradieses nach langen Zeiten der Entfremdung, der Not und des Klassenkampfs. Im anderen Fall erstrahlt nach dem schicksalhaften Kampf auf Leben und Tod der Endsieg der nordischen Edelrasse über die angebliche Finsternis der jüdischen Verderbensmächte.

Wie ein Hurrikan über dem Ozean laden sich die beiden Ideologien mit Energien auf, mobilisieren und fanatisieren die Massen. Sodann kommen sie mit ihrer ungeheuren Zerstörungskraft über Völker und Länder, Gräber, verheerte Länder, zerstörte Seelen und verwirrte Geister hinterlassend. So wurde das Jahrhundert der Zivilisation und des Fortschritts zum Jahrhundert der größten Verbrechen und Katastrophen.

Die Katastrophe begann im heiligen Russland, setzte sich fort in Deutschland, dem Land der Bibel und der Reformation. Es gab wohl auch treues Aushalten, mutigen Widerstand und Martyrium. Aber das Unglück war nicht aufzuhalten. Es fehlte die versiegte Energiequelle aus der biblischen Hoffnungsgeschichte. Im Protestantismus kam die Idee auf, die Kirche an den Energiestrom der gerade aktuellen politischen Hoffnungsgeschichte anzuschließen und so wieder zum Leben zu erwecken. So begann die lange Geschichte des Verrats der biblischen Hoffnungsgeschichte.

„Das „1000jährige Reich“ des Nationalsozialismus ging in einem schauerlichen Finale nach 12 Jahren zu Ende. Die Frist der Sowjetunion zwischen der Oktoberrevolution 1917 und dem Zusammenbruch des Systems im Frühjahr 1991 währte länger. Beide „Hoffnungsgeschichten“ erwiesen sich als Lügen. Damit endete die Zeit der großen politischen Visionen. Statt Ernüchterung und Neuorientierung an der Realität folgten jedoch Resignation – und die „Spaßgesellschaft“. „Ich will alles, ich will alles, und das sofort“ lautet die neue Devise. Das „Ich“ – frei von der Pflicht für das Du und das Wir – und das „sofort“ – ohne Verantwortung für das Erbe der Väter und ohne Rücksicht auf das Leben kommender Generationen – will „alles“, nämlich für sich und seinen kleinen Erdentag.

Die Heilszeit, auf die man warten, für die man zuerst arbeiten, kämpfen und leiden muß, wird herrisch gefordert: „paradise now“. Es bedarf keiner Hoffnungsgeschichte mehr. Die sexuelle Revolution beseitigt alle Schranken der Scham und des Anstandes. Sie will die von den Cherubim „mit dem flammenden und blitzenden Schwert“ bewachte Tür zum Paradies aufbrechen. Das „paradise now“ fordert – wie bei einer Sucht – immer neue Steigerungen des Vergnügens, immer radikalere Tabubrüche. Das Grundgesetz des „paradise now“ aber ist die Égalité: Alle müssen sie gleich sein; die Polarität von Mann und Frau, dazu der Abstand von Eltern und Kindern müssen verschwinden. Auch die Unterschiede und Gegensätze der Religionen dürfen nicht sein. „Diskriminierung“ – also unterscheiden – ist die schlimmste aller Sünden, Toleranz die höchste Tugend. Wer dagegen verstößt, wird an den Pranger gestellt und mundtot gemacht. (7) Es ist die „neue Ideologie des Bösen“, auf die der verstorbene Papst Johannes Paul II. in „Erinnerung und Identität“ nach den beiden schon bekannten „Ideologien des Bösen“ – Marxismus und Nationalsozialismus – zu sprechen kommt. Sie ist „heimtückischer und verhohlener“ und setzt das Zerstörungswerk nun unter Berufung auf die Menschenrechte fort. Als Konkretionen nennt der Papst die „legale Vernichtung gezeugter, aber noch ungeborener menschlicher Wesen“ und die Anerkennung homosexueller Verbindungen „als eine alternative Form von Familie, der auch das Recht der Adoption zusteht.“ (8)

Die Aggression der „neuen Ideologie des Bösen“ richtet sich – gewaltlos, juristisch abgesichert und politisch korrekt – gegen Gottes Ikone in der Welt, den Menschen als Mann und Frau, dazu von Gott beauftragt und gesegnet, sich zu mehren, die Erde zu bauen und zu bewahren. Es ist in der Bibel die Grundordnung der Menschenwelt, zugleich die verletzlichste Stelle des Menschen und der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Sie anzutasten ist hochriskant. Sucht und Depression sind unmittelbare Symptome des Frevels. Der Zerstörungsprozess vernichtet nachhaltiger als die beiden Großideologien des vergangenen Jahrhunderts unsere gemeinsame Zukunft. Was den Nazis nicht gelang, scheint der „neuen Ideologie des Bösen“ möglich zu sein: der von ihr bewirkte Geburtenrückgang übertrifft schon jetzt den Bevölkerungsverlust beider Weltkriege. Pierre Chaunu beendet die deutsche Fassung seines Buches „Un futur sans avenir“ im Hinblick auf „Das deutsche Modell“ mit dem Satz: „Dieses Modell der größten Industrienation Europas, der Heimat Luthers, Bachs, Kants, Mozarts, Goethes und Beethovens, ist das Modell des stillschweigenden Todes binnen 50 Jahren, es ist das Modell des, namens der geheiligten Prinzipien des Individualismus, tatenlosen Zusehens, wie dessen maßlose Übersteigerung die Freiheit und die Person zerstört.“ (9)

Die wiederentdeckte Hoffnungsgeschichte

Was Jacques Monod im Hinblick auf das Universum und seine Geschichte beschreibt, das ist so trostlos, so verzweifelt, daß es kein Mensch darin aushalten kann ohne verrückt zu werden. Darum hat es der Mensch vorgezogen, in selbsterdachten Hoffnungsgeschichten seine Zuflucht zu suchen. Sie haben sich als „Ideologien des Bösen“ erwiesen.

Das Werk von Paul Schütz ist ein einziges Zeugnis, daß es dennoch keinen Grund zum Verzweifeln gibt, vielmehr Anlass zur Hoffnung. Keinen Grund zur Traurigkeit, sondern zur Freude, die alle Saiten wieder zum Klingen bringt. Keinen Grund zur Resignation, sondern zum Mut, das Leben und die Herausforderung der Zeit zu bestehen. Kein Grund zu Klage und Fluch, sondern zum Dank aus befreiten Herzen. Und dies ebenfalls im Hinblick auf das Universum und seine Geschichte, auf unserem Planeten die Geschichte des Lebendigen und des Menschen. Darin unser kurzes Leben, vor dessen Ende uns graut. Kein Rückzug auf das Thema „Gott und die Seele“. Nicht ein Teil der Wirklichkeit, sondern die ganze Wirklichkeit! Übertragen in die Maßstäbe und Dimensionen dessen, was wir heute von der Wirklichkeit erkennen: die wieder entdeckte Hoffnungsgeschichte der Bibel. (10)

Paul Schütz betrachtet die Geschichte nicht als Historiker. Dieser befasst sich mit der Feststellung und Rekonstruktion des Vergangenen. Er gleicht dem Geometer, der über seine Landkarte gebeugt einzeichnet, was er zuvor festgestellt und vermessen hat. Er ist wie alle Wissenschaftler Detail-versessen; alles muß exakt sein, dokumentiert, belegt. Was seine Landkarte nicht enthält, nicht enthalten kann, ist die Brandungslinie zwischen dem Unveränderlichen der Vergangenheit und dem Offenen der Zukunft, die Gegenwart, erfüllt von Leben, Hoffnungen, Ängsten und dem Druck, sich entscheiden zu müssen.

Paul Schütz betrachtet die Geschichte auch nicht als Geschichtsphilososoph. Dieser erforscht die Vergangenheit im Hinblick auf darin wirkende kausale Kräfte und auf einen Gesamtsinn. Das geschieht aus höherer Warte und mit dem Anspruch, Sinn und Ziel der Geschichte denkend erfassen zu können. Doch der Philosoph verspricht mehr als er halten kann. Denn die Vergangenheit ist nur die eine Hälfte der Geschichte, der andere Teil, die Zukunft, entzieht sich seinem Feststellen, Messen und Verstehen. In der Zukunft aber liegt der Schlüssel für die Vergangenheit und das „Mysterium der Geschichte“.

Für beide, den Historiker und den Geschichtsphilosophen, gilt: Sie stecken nicht drin. Der Ort der Wahrheit ist für Paul Schütz da, wo der Mensch Geschichte leibhaftig erfährt und erleidet, da sich seiner entsetzten Seele der Schrei entringt: „Daß es das gibt!“. Der Ort auf der Brandungslinie zwischen Vergangenheit und Zukunft wird durch die eigene Biographie bestimmt. Darin auch das Erleiden des Zeitgeschehens: Kriege, Umbrüche und Katastrophen. Er „steckt drin“, unausweichlich, als Erleidender und als Handelnder. Und dieses Drinstecken geschieht „im Leibe“, im Erfahren der Süße des Lebens, in den Verwundungen und der kreatürlichen Angst vor dem Tod. Hier gilt es, die Geschichte zu „bestehen“.

Gerade an diesem Ort, da der Mensch die Geschichte zu „bestehen“ hat, das Todeslos ungeschönt vor Augen, alle Fluchtwege in die Traumwelten und die Süchte abgeschnitten, er selbst nichts als eine gefallene Kreatur mit ihrer Angst und ihrer ungestillten Sehnsucht, bleibt ihm keine andere Möglichkeit zu leben, „es sei denn – aus Glauben.“ Und zwar „aus Glauben an den, der die Schranke zerbrochen hat und ‚den Tod im Triumph vor der Welt zur Schau getragen hat.’“ „Die endliche Wirklichkeit ist der Ort seiner Offenbarung.“… „Endliche Wirklichkeit, d.h. jetzt: der Zimmermanns-Sohn vom Jahre 1, das heißt jetzt der Auferstandene vom Jahr 33, offenbart unten im Schacht unseres Alltags, in der Grube unserer Verwesung, in der endlichen Zeit“ … „Gott ist auf Erden gegenwärtig. Nicht als Welt-Geist, sondern im Fleisch seines Sohnes.“ (11)

Wo sich die ewige Gotteswelt und unsere zeitliche Welt ohne schützende Verhüllung berühren, da steht das Kreuz des Gottessohnes, Zeichen des Gerichts und des Heils. Wie ein Blitz in der Nacht enthüllt es die Wahrheit, wie es steht zwischen Gott und dem Menschen. Hier geschieht der Durchbruch zur Auferstehung. Heilkraft für Seele und Leib strömt hinein in die Not des Lebens. Horizonte weiten sich. Die Jesusgeschichte vom Jahr 1 bis zum Jahr 33 wird durchsichtig für die Geschichte von Jäh. 1,1: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott“ bis zum Ziel: „Damit Gott sei alles in allen“ (1. Kor 15 28). Dazwischen aber: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh. 1, 14).

Das Evangelium ist uns als erzählte Geschichte überliefert. Sie führt zielsicher dorthin, wo der Durchbruch im Kreuz des Sohnes geschieht. Dort verknüpft sie sich mit unserer eigenen Geschichte, in der wir „drinstecken“. Hier öffnet Gott in der Auferweckung am dritten Tage die im Tod verschlossene Welt für den Zustrom des ewigen Lebens. Die Verknüpfung dieser Geschichte mit unserer eigenen Geschichte aber geschieht „im Glauben“.

Kein Privatissimum der Seele mit ihrem Gott, es gilt der Welt! Denn von vorne, von der Zukunft her, dringt das Reich der Himmel herein in unsere Zeit. Paul Schütz nennt diesen Vorgang „Parusia“, nämlich „die Gegenwärtigkeit des Zukünftigen“. Sie löst eine unerhörte Dramatik aus, wirkt Heil, wo sich der Mensch im Glauben dem Kommenden öffnet, wirkt Verderben, wo er sich im Unglauben gegen seinen Schöpfer verhärtet. In beidem aber ist Gott am Werk, selbst in den Krisen und Katastrophen der Geschichte. Sie gewinnen positive Bedeutung „als Reinigung, Beiseiteräumen von Hindernissen, als Öffnung für das Kommende.“ (12)

Die Dramatik zeigt sich im Phänomen der Beschleunigung. Die Zeit rinnt nicht gleichmäßig wie die Sandkörner in der Sanduhr. Sie beschleunigt sich zusehends. Paul Schütz schildert diese Dramatik in eindrücklichen Bildern. Sie gleicht dem Fall des Meteoriten, der vom größeren Gestirn angezogen, mit zunehmender Geschwindigkeit dem Ziel entgegenstürzt. „Die Kriege und die Revolutionen unserer Epoche sind nur die Vorexplosionen, sind nur die Frühzündungen des Aufschlags am Ende“. (13) Eine riesige Angst erhebt sich, „ die Angst derer, die im Sturzflug an die Zeitmauer und an die Raummauer“ heranjagen“ (14)

Der Mensch auf der Brandungslinie zwischen Zukunft und Vergangenheit, der mitten „drin steckt“ und dem hier die „Gegenwärtigkeit des Zukünftigen“ begegnet, erlebt die Zeit anders als der Wissenschaftler. Die Zeit treibt die Dinge nicht in strenger Kausalität von der Vergangenheit in die Zukunft, nur unterbrochen vom Zufall, der im Zusammenwirken mit der Notwendigkeit sodann die Vielgestaltigkeit des Lebens und die als Evolution verstandene Geschichte zusammenwürfelt. Die Parusia, die Gotteswirklichkeit ist es, die den aus der Vergangenheit kommenden Lauf der Dinge unterbricht. Paul Schütz unterscheidet von der „linearen“ oder „kausalen Zeit“ die „parusiale Zeit“, die im Augenblick hereinwirkt, den festgelegten Gang der Dinge verändernd.

Paul Schütz hat über das Phänomen des Kontingenten gründlich nachgedacht. (15) Er war ein universal gebildeter Mensch, stand im Gespräch mit der Naturwissenschaft, etwa mit Werner Heisenberg, Pascual Jordan, Viktor von Weizsäcker, der Geisteswissenschaft und der Literatur seiner Zeit. Er erkennt in allen Bereichen des Wirklichen, angefangen von den Lichtquanten über die Mutationen in den Genen, bis zum Menschen, durch die Jahrmilliarden und Millionen hindurch eine beständige, dann sich steigernde und sich überstürzende Zunahme von Kontingenz. Was aber dem „exakten Naturwissenschaftler“ – wie Jacques Monod – als „Zufall und Notwendigkeit“ erscheint, zeigt sich als das schöpferische Element, das die Welt aus den Uranfängen mit immer mehr Unwahrscheinlichkeit, Freiheit und Bewusstsein auflädt, immer reichere Formen schafft bis in die Gegenwart, da der Mensch „das kontingente Wesen“ frei seine Welt gestaltet. Die „parusiale Zeit“ verwandelt den gleichförmig fließenden Zeitstrom in Geschichte.

Jacques Monod hatte erklärt: „Der reine Zufall, nichts als der Zufall, die absolute, blinde Freiheit als Grundlage des wunderbaren Gebäudes der Evolution… ist die einzig vorstellbare Hypothese… Und die Annahme (oder Hoffnung), daß wir unsere Vorstellungen in diesem Punkt revidieren müssten oder auch nur könnten, ist durch nichts gerechtfertigt.“ (16) Diese „einzig vorstellbare“ Hypothese ist jedoch ein Konstrukt, bei dem jeder Mensch erkennen kann, daß er in dieser Welt gar nicht vorkommt. Der Naturwissenschaftler erscheint hier so sehr an die engen Spielregeln der exakten Naturwissenschaften gefesselt, daß er einem stockunmusikalischen Menschen gleicht, der beim Erklingen einer Melodie nur undefinierbare Geräusche wahrnimmt und taub bleibt für die wunderbare Musik des Lebens.

Hören wir sie aus den Worten von Paul Schütz: „Sie ist offene Schöpfung. Schöpfung als Möglichkeit, als zukünftige, noch unausgeschöpfte Möglichkeit jenes unausdenkbar Unmöglichen, das eben bei Gott Möglichkeit ist. Dieses: Gemeinschaft aus Abstand, dieses Gegenüber als Spannung, diese Partnerschaft von Vor-Bild und Nach-Bild, und jetzt und neu und anders qualifiziert: von männlich und weiblich, ja weiter und weiter das All gliedernd durch Scheidung von Tag und Nacht, von Flüssigem und Trockenem, von Licht und Dunkel, und aus dieser Spannung heraus sich entfächernd die Stämme, die Arten, die Ströme der Geschöpfe. Dies alles geladen mit der Dynamik zu sein, im Sein zu verharren, im Sein sich zu mehren, ja mit der Freiheit, ihr Sein zu wagen, so oder so, immer neu und anders zu sein. Die Freiheit als werdendes Sein, als Sein, das immer reicher an Erfindung, das immer vollkommener an Gestalt werden kann. Die Erde selbst geladen mit Macht, Sein zu spenden. Zweimal geht das Wort an die Erde als ein Wesen, ja als eine Person: ‚Es lasse die Erde sprießen!’ Schöpfung, das heißt kein Kosmos, verschlossen in der Statik eines ordo. Schöpfung, das heißt: Gott will Geschichte haben mit seinen Geschöpfen, Geschichte, in der Schöpfung weitergehen soll, ja in der Schöpfung erst zu ihrer Hauptsache kommen soll, in der der Hauptlauf noch aussteht, das Unahnbare erst kommen soll: das kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat“. (17)

Dem Menschen, der in der Geschichte „drin steckt“, zeigt sich zugleich unverhüllt das Doppelgesicht der Welt, die rätselhafte Ehe des Guten mit dem Bösen in allen Dingen. Wenn das Kreuz des Gottessohnes der Berührungspunkt zwischen Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit ist, dann zeigt sich an dieser Stelle der tiefe Riss, der durch alles hindurchgeht. Dann tut der Mensch die Augen auf und erkennt: „Mit der Zeit ist ein Unglück geschehen. Die Zeit, die ursprünglich Gotteszeit, die ewige Zeit ist und im Evangelium ‚Fülle der Zeiten’ heißt, sie ist der Sitz der Entzweiung, der Vergängnis, des Todes geworden. Die ‚Fülle der Zeiten’ ist als Geschichte zerfallende Zeit geworden.“ (18) Die Bibel setzt deshalb unmittelbar nach den zwei Schöpfungsberichten den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies. In den Worten von Paul Schütz: „Und dann das Unausdenkbare: ein Bruch in unvordenklichen Zeiten und Räumen. Ein Unheil, minotaurisch in den innersten Herzkammern der Schöpfung. Vom Mythos der Völker in rätselhaften Chiffren – wie aus galaktischen Fernen – uns signalisiert.

Dieses Hinwegsinken des Paradieses in sich zuziehende Horizonte, dieses unser Zurückbleiben! Dieses sich Vorfinden in dieser unserer Weltwirklichkeit, nach den Worten der Bibel auf dem Acker, der Dorn und Distel trägt, mit dessen Brot wir schon den Staub essen, zu dem wir wieder werden sollen! Dieser Vorgang ist das Überraschende schlechthin, unverstehbar im Blick auf seinen Sinn, unaufklärbar im Hinblick auf seine Ursache. Hier wird die Bildersprache des Mythos wie über Abgründen zum gnädig verschleiernden Spiel. Das macht uns zu schaffen. Das walzt keine Theologie glatt. Da bleibt nur noch der Glaube als Gehorsam“. (19)

So spricht Paul Schütz vom Rätsel des Bösen und vom Sündenfall und setzt ihn in den Anfang des Zeitenlaufs, als den Beginn unseres Äons, der in jeden Augenblick seiner Geschichte hineinwirkt. Adam ist nicht der biologische Vater des Menschengeschlechts. „Adam – das ist die Gesamtheit der Menschen, die der Schöpfer hier gleichsam quer durch alle Zeiten und Räume als ein Eines und Ganzes in Adam vereint sieht … Adam ist die Universalgestalt der ganzen Schöpfung. Er ist das Universum Mensch. Der Kosmos Mensch, der im Fall in Trümmer ging, sich aufgesplittert hat in der Völkerwelt und durch die Zeiten hindurch sich ausgestreut hat und ausstreut…“. (20) Deshalb lebt in den Völkern die Urerinnerung an das verlorene Paradies und den himmlischen Menschen, von dem wir nur ein „Splitterstück“ sind. Wir erfahren das in der „Verzwistung des Geschlechts“, der Liebe zwischen Mann und Frau, die sich in Sucht und Streit verkehrt und so viel Not hervorruft. In der Bibel ist es der Fluch, der in den Wehen und der Erniedrigung der Frau erfahrbar wird. Die Liebe von Mann und Frau bedarf daher der Heilung in der bei Paul Schütz sakramental verstandenen Ehe. (21)

Die Geschichte aber enthüllt sich nun als Sündenfall „per saecula saeculorum“, als katastrophischer Geschichtsgang bis zum Zerbruch: „Das also gibt es in der Schöpfung: die Rebellion des Lebens, den Ausbruch in die blinde Wut der Sucht. Der Mensch ist der Allsucht verfallen. Er will auch den Abgrund ausgenießen.“ (22)

Das Kreuz aber ist der Ort der Versöhnung. Der Schöpfer selbst durchkreuzt das Unheil. „Gott läßt sich nämlich nichts, was er geschaffen hat, entreißen. Er holt es sich wieder, und hätte es unsere Sucht bis in die Hölle verschleppt.“ (23) „In Christus nimmt Gott dieses Unheil wieder auf sich. Er ‚zieht’ es wieder auf sich, das heißt auf Christus hin. Er zieht es in ihm zusammen, lädt es wieder auf ihn und nimmt es in Christus gefangen und führt es als Sieger gefesselt wieder zurück in den Abgrund seiner Gottheit“. (24) So ist er „das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“ (Joh. 1,29).

Was Paul Schütz in kühnen, eindringlichen Sätzen ausspricht, ist der Dreitakt von Schöpfung, Sünde und Erlösung. Sie sind drei Vorzeichen, die den Lauf der Zeit und deren Ende in Weltgericht und Neuschöpfung bestimmen. Im Menschen und seiner Geschichte wird das offenbar. Obgleich der Mensch erst ganz am Ende der langen kosmischen Geschichte auftaucht, er ist kein „Zigeuner am Rande des Universums“, er ist die Mitte des Universums: „Ich kann es nicht beweisen, aber ich weiß es einfach, vielleicht aus der Anamnesis her, das die Erde die Mitte des Universums ist, und der Mensch auf ihr der geheimnisvolle Schnittpunkt, in dem sich Mikrokosmos und Makrokosmos berühren, und der zugleich geheimnisvolle Brennpunkt aller spirituellen Reiche und Mächte.“ (25) Die Geschichte enthüllt sich so als ein „Interim“ zwischen dem „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ der Gotteswelt in die sie wieder durch die letzte Krise hindurch zurückgenommen wird.

Das Märchen vom Hasen und vom Igel

Der Igel ist immer schon am Ziel, so sehr auch der Hase hin und her rennt, um Erster zu sein. So könnte man die Konkurrenz zwischen biblischer Hoffnungsgeschichte und Naturwissenschaft erzählen. Astronomie, Astrophysik und Evolutionsbiologie haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Welt und die Geschichte des Lebendigen erkundet. Es schien, als ob die Hoffnungsgeschichte der Bibel von der säkularen Geschichte damit schon als ein „Märchen aus uralten Zeiten“ entlarvt sei. Die Folgen sind bekannt.

Es war im Jahr 1915, als Albert Einstein das als konstante räumliche und zeitliche Unendlichkeit vorgestellte Universum durch seine eigene Entdeckung, die Allgemeine Relativitätstheorie, gefährdet sah. Ließ diese doch eine bislang völlig undenkbare Veränderung von Raum und Zeit zu. Die Einführung einer von ihm vorgeschlagenen „kosmischen Konstanten“, die dem Übel abhelfen sollte, hat er später als „den größten Fehler seines Lebens“ bezeichnet. Zeigte sich doch schon bald darauf an der bekannten Rotverschiebung im Spektrum der Gestirne, daß die befürchtete Veränderung tatsächlich stattfindet. Sie führte zu dem heute allgemein anerkannten Bild einer Welt, die zusammen mit Raum und Zeit vor 14 Milliarden Jahren im „Urknall“ ihren Anfang nahm und sich seither nach allen Richtungen ausdehnt, und zwar mit zunehmender Beschleunigung. Nun weiß man: unsere Welt ist nicht ewig, sie hat einen Anfang – wie jede Geschichte. Die Bibel aber weiß schon lange: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“

Jacques Monod erzählte noch in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts seine story vom Menschen als dem Zigeuner am Rande des Universums, der seine Existenz nur einem verrückten Zufall zu verdanken habe. Seit einigen Jahren diskutieren die Gelehrten über das AP, das „anthropische Prinzip“, das genau das Gegenteil sagt: Schon ganz am Anfang waren die vier Naturkonstanten so unwahrscheinlich fein abgestimmt, daß am Ende der Mensch auftauchen mußte. Das Verhältnis von Mensch und Kosmos muß neu definiert werden. Es sieht so aus, als ob das Universum schon von Anfang an auf das Auftauchen des Menschen angelegt sei. Es ist wie ein riesiger Brutkasten, dazu bestimmt, in einem langen Prozess am Ende den Menschen hervorzubringen. In einer weit ausholenden, sich dem Ende zu beschleunigenden Zeitkurve taucht deshalb der Mensch – gewissermaßen in den letzten Sekunden des Weltentages – auf.

In der Bibel aber erscheint Adam schon immer am letzten Tag der Schöpfungswoche, kurz vor dem Sabbat. Gott hat ihn als Mann und Frau sich zum Ebenbild geschaffen, als die Hauptperson der Schöpfung.

Jacques Monod und viele Evolutionsbiologen reden noch heute von Zufall und Notwendigkeit als der alleinigen Ursache der Evolution. Heute ist das Zutrauen in die kreative Kompetenz des Zufalls und der Selektion im Schwinden und es wird heftig über ID (Intelligent Design), eine planende Intelligenz, diskutiert, die das erklären könnte, was immer rätselhafter wird. Eigentlich darf das jedoch gar nicht sein, da dies die Spielregeln der exakten Naturwissenschaft verletzt. Die Bibel leitet in ihrem ersten Kapitel die Schöpfungswerke schon immer mit dem Satz ein: „Und Gott sprach“. Und auch das Neue Testament weiß, daß Gott alle Dinge trägt mit seinem „kräftigen Wort“ (Hebr. 1,3). Die zunehmende Beschleunigung der Ausdehnung des Weltraums erscheint völlig rätselhaft. Eigentlich müsste man von alleine drauf kommen, daß es eine unendliche Beschleunigung nicht gibt. Muß sie nicht – wie jede beschleunigte Masse an der Lichtgeschwindigkeit – an der „Raummauer“ und der „Zeitmauer“ ihre Grenze finden? Muß nicht die Quantität dann in neue Qualität umschlagen? „Die Grenzen der Zeit und des Raumes weichen vor dem Menschen nicht mehr ins Unendliche hinaus. Sie stürzen auf ihn zu. Sie stürzen um so schneller auf ihn herein, je stürmischer sein Fortschritt ist, je kühner er sich gegen die Grenzen hin bewegt“. (26) Doch das würde bedeuten, daß die Geschichte des Universums nicht nur einen Anfang, sondern auch ein Ende hätte. Und daß dieses Ende nahe bevorstehen müsste. Doch das darf nicht sein! (27)

Die Predigt Jesu aber beginnt mit dem Satz: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes nahe herbeigekommen“(Mk. 1, 15). Aber das würde dann auch dem zweiten Satz sein Recht geben: „Verändert euren Sinn und glaubt an das Evangelium.“ Soweit geht heutige Erkenntnis nicht, auch wenn es mit Händen zu greifen ist, daß die Parabelkurve der Geschichte unseres Universums sich aus der Horizontalen kommend schon einkrümmt in die Vertikale: es ist die Rückkehr der Zeit – des Interims – in die Ewigkeit. Daß der Hase den Igel doch noch einholt, ist unwahrscheinlich. Im Märchen stirbt er an Erschöpfung. Bei uns wird man nicht damit rechnen können, daß ein Mensch auf den Wegen der exakten und objektiven Wissenschaft die biblische Hoffnungsgeschichte entdecken wird – und sie dann gar „beweisen“ könnte. Dazu muß er seinen Platz über den Dingen verlassen, dorthin gehen, wo er in der Geschichte selbst „drinsteckt“ und dort das Evangelium hören.

Wir aber können neu die biblische Hoffnungsgeschichte entdecken, trotz des „garstigen historischen Grabens“, auf den der Leser stoßen muß, trotz des Fragmentcharakters, trotz aller Fragwürdigkeiten der Bibel. Sie ist weder „irrtumslos“ noch perfekt. Aber sie ist einfach wahr. Nicht blinde Buchstabentreue wird dem Buch gerecht, sondern das offene Wahrnehmen dessen, was uns im Buchstaben gezeigt ist: Die Realitätsdichte, die Glaubenserfahrung der Menschen, die bildhafte, den Dingen und Menschen nahe Sprache, die tiefe Weisheit, die Prophetie, die mit den letzten Dingen auch die ersten umfasst, die wahre Geschichte unserer Welt, in der wir „drin stecken“, und in allem die „Leise Stimme“ die unser Herz und Gewissen erreicht, Gedanken und Verstand erleuchtet und die Horizonte weit macht. Dann kann es geschehen, daß das eigene kleine Leben sich mit der großen Heilsgeschichte verknüpft: das Größte, was uns Menschen wiederfahren kann. Dann öffnet sich die Welt nach vorne. Es geschieht „metanoia“, die umfassende Neuorientierung. Unser Leben wird, wie in jeder Geschichte, die uns seit Kindertagen erzählt wurde, eingegliedert – nunmehr in die dem Jünger gemäße Zeit. Sie endet nicht im Tode, sondern im „Freudenmysterium“ der Ewigkeit. Diese Geschichte muß sich nicht verstecken, sie will öffentlich erzählt werden, den einen zum Verdruss, da ihre Rechnungen nun nicht mehr stimmen, anderen aber zur Freude. Sie erweist sich als die Türe in die Freiheit.

Anmerkungen

1 Vortrag bei der Tagung der Paul-Schütz-Gesellschaft am vom 24.-26. Februar 2006 in Marburg.

2 P. Schütz, Charisma Hoffnung, Ges. Werke II, 1963, S.480.

3 Jacques Monod, «Le hasard et la nécessité, Paris 1970» , deutsch : «Zufall und Notwendigkeit», München 1971.

4 A.a.O. S. 211.

5 R. Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 1958, S. 184.

6 P. Schütz, a.a.O. S. 441.

7 „Unsere Vorstellungswelt ist beschlagnahmt, unsere Kräfte aufgezehrt vom Leben im neuen’Paradies’. Die klassenlose, rassenlose, die völkerlose Weltgemeinschaft kommt. Und mit dieser paradiesischen Egalité die Ideologie, die diese ‚konkrete Utopie’ dogmatisiert. Zweifellos, dies ist der Trend. Kein Platz mehr für irgendein anderes Denken als eben nur dies.“ So Paul Schütz schon 1968 in: Warum ich noch ein Christ bin, 1969, S. 130.

8 Johannes Paul II. Erinnerung und Identität, Augsburg 2005, S. 26.

9 Pierre Chaunu, Die verhütete Zukunft, 1981, S. 202f.

10 „Durch die Welt muß man die Bibel lesen und durch die Bibel hindurch die Welt. Sie entschlüsseln einander. Sie geben einander Realität. Das christliche Zeitalter ist zu Ende. Ein neues Blatt ist aufgeschlagen. Wie ein Palimpsest ist seine Partitur zu entziffern, auf dem „Bibel“ und „Welt“ übereinander-ineinander geschrieben sind“ (P.Schütz, Warum ich noch ein Christ bin, 1969, S. 45).

11 P. Schütz, Der Mythos vom Menschen, Ges. W. II, S. 81.

12 P. Schütz, Widerstand und Wagnis, Moers 1982, S.186.

13 P. Schütz, Universalgeschichte als Heilsgeschichte, in: Ges. W. II, S. 422.

14 P. Schütz, Charisma Hoffnung, a.a.O. S. 487.

15 P. Schütz, Wie ist Glaube möglich? Krise und Chance des Christentums im Zeitalter der Wissenschaft, in: Widerstand u. Wagnis S. 121-186.

16 J. Monod, a.a.O. S. 141f.

17 P. Schütz, Schöpfungsmythos u. Weltwirklichkeit Ges. W. II. S. 393f.

18 P. Schütz, Das Mysterium d. Geschichte, Ges. W.II, S. 121.

19 P. Schütz, Schöpfungsmythos u. Weltwirklichkeit, Ges. W.II, S. 394f.

20 P. Schütz, Universalgeschichte als Heilsgeschichte, Ges. W. II, S. 418.

21 „Diese Hilfe hat die Kirche Mann und Weib in einem besonderen Akte zu geben: in der Trauung. Sie traut hier die beiden in die Gemeinschaft des Ebenbildes wieder hinein…. Die Kirche hilft in der Trauung Mann und Weib, daß das, was in der Ehe geschehe, heraufgehoben werde in seine Gottesbestimmung. Sie hilft ihnen, daß ihre Ehe christlich werde, nämlich, daß der Schöpfungsvorgang, der zwischen beiden webt, aus dem Frevel seiner Gottesferne herausgehoben werde und seine Urbestimmung wiedererlange.“ P. Schütz, Das Evangelium, Ges. W. I, 372f.

22 P. Schütz, Das Mysterium d. Geschichte, Ges. Werke II, S. 169.

23 A.a.O. S. 200.

24 A.a.O. S. 174.

25 P. Schütz, Von Geist und Leib Gottes, Ges. W. II, S.542.

26 P. Schütz, Was ist der Mensch, Ges. Werke IV, S. 104.

27 Paul Schütz aber fragt: „Könnte es sein, daß die biologische Welt als Ganzes und mit allen ihren Möglichkeiten nur eine Schöpfungsstufe ist, die überwunden werden soll? Die schon in der Signatur jenes heraklitischen ’Der Streit der Vater aller Dinge’ über sich hinausweist? Ein unhaltbarerer Stand der Dinge, der in seiner Unerträglichkeit gleichsam explodiert? Der nicht über sich hinaus kann, nur hinausweist in der klaffenden Geste der Ohnmacht, in immer gewagteren Aufstiegen immer gefährlichere Abstürze riskierend? Der in diesem Wollen und Nichtkönnen in der größten Leidenschaft eines permanenten Revoltierens, eine einzige Signatur ist, geladen bis an den Rand mit Hinweisungskraft auf einen neuen Schöpfungsgang, dessen Ziel im Evangelium ‚Reich der Himmel’ heißt“? Paul Schütz, Warum ich noch ein Christ bin, S. 227.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 14. März 2006 um 17:17 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Theologie.