Gemeindenetzwerk

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Predigt: Die Heilung des Blindgeborenen

Sonntag 12. März 2006 von Erzbischof Janis Vanags


Erzbischof Janis Vanags

Die Heilung des Blindgeborenen
Predigt
(gehalten am 12. März 2006 in der St. Petrikirche in Riga).

„Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?“ Jesus antwortete: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an íhm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“ Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: „Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich!“ Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder. Die Nachbarn nun und die, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sprachen: „Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte?“ Einige sprachen: „Nein, aber er ist ihm ähnlich.“ Er selbst aber sprach: „Ich bin’s.““ (Joh. 9,1-9)

Schaut doch! Da gibt es einen Menschen und der hat ein Problem. Er ist blind. Er bettelt. Die Menschen identifizieren ihn nach diesen Merkmalen. „Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte?“ fragen sie. Für sie ist dieser ein Mensch, „der dasaß und bettelte.“ Einige der Umherstehenden fragen sogar nach den Ursachen: „Hat dieser gesündigt oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?“ Und hier spricht Christus ein wesentliches Wort aus, das die Rolle des Menschen beschreibt oder sogar definiert: „An ihm sollen die Werke Gottes offenbar werden.“

Es war ein blinder Jude, der dasaß und bettelte. Gottes Werke sollten an ihm offenbar werden. Ich bin ein Bischof, der von der Kanzel aus spricht. Gottes Werke sollen an mir offenbar werden. Du bist vielleicht ein Student, der heute einen freien Tag hat. Gottes Werke sollen an dir offenbar werden. Vielleicht bist du ein Journalist, der über aktuelle Themen berichten muß. Gottes Werke sollen an dir offenbar werden.

Schaut doch um euch herum. Da sehen wir viele Menschen. Dort ist vielleicht ein Unternehmer, der mit Arbeit überlastet ist und es nicht vermag aufzuhören. Oder eine Mutter mit vielen Kindern, die nicht weiß, wie es weitergehen soll. Oder ein Funktionär, der nicht weiß, wie er sich bei dem nächsten offiziellen Feiertag am 16. März verhalten soll. Oder ein Künstler, der sich Sorgen macht um die Ausstellung seine Werke, wenn die St. Petrikirche wieder ihren ursprünglichen Status als Eigentum der Kirche erhält.

Es gibt so viele Weisen, wie wir in dieser Welt leben. Und doch vereinigt uns alle unsere gemeinsame Rolle als Menschen, die Christus so beschreibt: „Gottes Werke sollen an uns, an jedem von uns, offenbar werden.“ Das ist die geistliche Dimension unserer Existenz. Deshalb leben wir als von Gott geschaffene Menschen in einer von Gott geschaffenen Welt. Nicht damit wir durch irgend etwas Religiöses unser Leben verschönerten und ergänzten, sondern daß die Werke Gottes an uns offenbar würden. Und das ist nicht lediglich eine Veredelung der Persönlichkeit, sondern doch wohl eher eine Befreiung, Entdeckung, Verwandlung.

Die Menschen fragen Jesus nach dem Mann, an dem Er die Werke Gottes offenbart hat: „Ist das nicht der, welcher dasaß und bettelte?“ und überlegen weiter: „Nein, er sieht ihm wohl ähnlich, ist aber ein anderer.“ Er ist derselbe, und doch so sehr verändert. Wir leben und wirken ein jeder an seinem Ort in dieser Welt – und wenn wir uns gegenüber ganz ehrlich sind, dann gibt es keine Sünde, die wir in einer bestimmten Lebenslage nicht auch begehen könnten. Das Wort Christi spricht über uns und über den Sinn unseres Lebens etwas ganz wesentliches aus. Wir leben, damit die Werke Gottes an uns offenbar würden, und wir uns in unserem Wesen änderten., damit wir unseren göttlichen Auftrag erkennen, um zu entdecken, daß Gott den Menschen Ihm zum Bilde geschaffen hat. Deshalb leben wir.

Wie geschieht das? Wie verrichtet Gott Seine Werke am Menschen? Im Predigttext finden wir die eine Stelle: „Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden.“ Versuchen wir uns das vorzustellen! Das ist alles so natürlich, wie dieses Werk Gottes ausgeführt wird, doch dieses ungewöhnliche körperliche Handeln Jesu spricht eine ganz wichtige Wahrheit aus, ein zentrales Prinzip, das dem Werk Gottes zu Grunde liegt.

Wir stellen es uns oft vor, daß Gott ganz bestimmt auf eine unsichtbare, sehr ätherische, allem Materiellen widersprechende Weise sein Werk tut; daß geistliche Dinge nur auf der Ebene unfaßbarer Ideen und Gefühle geschehen. Aber hier spuckt Jesus auf die Erde, vermischt seinen Speichel mit der Erde zu einem Brei und streicht diesen dem Blinden auf die Augen. Kann man sich überhaupt ein irdischeres und körperlicheres Handeln vorstellen? Und doch verändert es die Persönlichkeit und das Leben eines Menschen von Grund auf. Ganz gegen die astralen Erwartungen esoterischer Kreise redet Gott mit den Menschen in wichtigen Augenblicken auf sichtbare, hörbare und spürbare Weise.

Das eine ist wohl wahr – Gott ist mit den Augen nicht zu erblicken und mit den Händen nicht zu greifen. In dieser Hinsicht sind wir alle blinde Bettler – wir sehen nicht, wir bitten nur. Wir sind von Gottes Initiative abhängig – wird Er mit uns kommunizieren, wird Er sich uns offenbaren, wird Er sich uns schenken, werden wir zu Ihm Zugang haben? Gott hat das auf eine sehr körperliche Weise getan – Er wurde Mensch. Das Wort ward Fleisch. Er wurde als Mensch geboren, starb als ein Mensch, Er ist auferstanden, wie alle Menschen am Jüngsten Tage auferstehen werden. Der ungläubige Thomas berührte mit seinen Händen die Wundmale Christi. Da erfüllte sich das 700 Jahre davor ausgesprochene Prophetenwort: „Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Christi Leben, Lehre und stellvertretendes Opfer durch Seinen Tod, mit dem Er unsere Sünden erkaufte. Das alles war so sichtbar und spürbar wie der Brei auf den Augen des Blinden. Auf diese Weise war Christus das Licht der Welt. Nicht auf irgendeine unfaßbare Art, sondern ganz konkret, ganz sichtbar, ganz spürbar wie der Brei auf den Augen des Blinden.

Wenn der uns aufgestrichen wird, dann geschieht das Werk Gottes an uns. Dann erhalten wir unsere Bestimmung, Ebenbild Gottes zu sein, und das ewige Leben zurück, zu dem wir Zugang haben, wenn Christus auch uns mit diesem Brei bestrichen hat. Wer wir auch sein mögen, dieses Werk Gottes muß an uns geschehen, damit wir nicht umsonst gelebt haben mögen. Wo finden wir die Werke Gottes, die an uns noch geschehen müssen? Kann man sie sehen, kann man sie finden, kann man sie erfassen? Christus war das sichtbare Ebenbild des unsichtbaren Gottes. Gottes unsichtbare Werke tat er auf sichtbare Weise. „Wer mich sieht, der sieht den Vater,“ sagte Er. Er war sichtbar, hörbar, spürbar und daher zugänglich, wirklich zugänglich. Die Menschen konnten Gott näher kommen dadurch, daß sie sich Ihm zu Füßen setzten, Ihm zuhörten, mit Ihm zusammen aßen und tranken. Gott hatte in der Ewigkeit die Absicht, mit den Menschen auf menschliche Weise zu kommunizieren. Jesus was Sein Repräsentant in der Geschichte.

Hier könnte nun bei unserem Bericht ein Problem auftauchen. Alles das hat sich in der Vergangenheit abgespielt. Jesus war unter den Menschen. Er war sichtbar, war hörbar, war zugänglich. Doch dann fuhr Er auf gen Himmel. Und was nun?

Vielleicht ist jetzt die von den Esoterikern hoch gelobte Zeit gekommen, daß Gott mit uns nur durch Ideen, Dogmen und okkulte Erfahrungen kommuniziert? Jesus hätte vielleicht noch irgendwelche feurige Vibrationen in den Äther hinausblasen können, damit Seine Nachfolger über Generationen diese noch anpeilen und mit ihnen vibrieren könnten. Doch er hat immer betont: „Ich muß wirken die Werke dessen, der mich gesandt hat. Ich rede und tue nichts aus mir selbst, sondern aus dem Vater. Ich bin Sein Wort und wirke die Werke meines Vaters.“ Und wie Gott für Ihn sichtbare Dinge offenbart hat – so nahm Er den Menschen an und ließ in ihm Seine Vollkommenheit Fleisch werden, so nutzte auch der Sohn Dinge der Erde und verlieh denen Seine göttliche Natur. So zum Beispiel bei diesem Brei (der sicher alles andere als appetitlich war), den er dazu gebrauchte, um dem Blinden die Augen zu öffnen und Gott zu ehren, und um die Nähe Seines Reiches zu verkündigen. Hätten wir diese Schriftstelle etwas weiter gelesen, dann hätten wir erfahren, daß dieser blinde Bettler allen Menschen und allen Schriftgelehrten seiner Zeit voran geht, um Christus zu bekennen.

So verwandelte Christus diesen Menschen mit der Hilfe einer ganz unedlen und unappetitlichen Substanz. Und dann nahm Er Brot und Wein und reichte diese im Abendmahl als Seinen sakramentalen Leib und Sein Blut, damit Seine Leute weiterhin zusammen mit Gott essen und trinken könnten. Er ließ Seine Jünger Wasser nehmen und damit zur Wiedergeburt im Heiligen Geist taufen. Und deshalb ist es nur zu gut zu verstehen, daß Er, als Er zum Vater zurückkehrte, der Welt etwas sichtbares, hörbares und spürbares hinterließ und uns damit den Zugang zu Ihm schuf. Was hat Er getan?

Er hat Seine Kirche gegründet. In ihr verbarg Er – oder ganz im Gegenteil – offenbarte Er (je nachdem wem) alles, was Ihm vom Vater anvertraut war. Alles, was zur Seelen Seligkeit notwendig ist. Das, was an keinem anderen Ort zu finden ist – weder am Meeresstrand oder unter einer edlen Eiche, noch auf den Himalajahöhen, sondern nur in der Kirche. An anderen Stellen kann man vielleicht etwas anderes finden. Doch Christi Gegenwart in Seinem Wort, der Predigt und den Sakramenten, das Opfer Christi, mit dem Er unsere Schuld erkauft, uns Vergebung und Erlösung von unserer Sünde geschenkt hat durch die von Christus uns übertragene Macht der Schlüssel – das alles kann man nur in der Kirche finden und ergreifen. Ich bin mir dessen bewußt, daß vielen das nicht gefallen wird. Und das hat auch seinen Grund. Die reale historische Kirche sieht nicht immer sehr blendend aus. Auch viele, die zu ihr gehören, haben unschöne Dinge getan, Dinge, derer wir uns gewiß nicht rühmen können, und die unser Volk seit dem 13. Jahrhundert begleiten. Dinge, die einen heute zusammenzucken lassen und einem Angst machen von der Vorstellung, an die Kirche denken zu sollen. Zeitweise läßt die Kirche wirklich den Vergleich mit dem Bespucken der Erde durch Gott zu – und das war ja auch damals kein appetitlicher Anblick. Dennoch laßt es uns in unser Gedächtnis rufen, daß diese keineswegs edle Masse, mag sie auch eine noch so unedle und sogar ekelerregende Substanz darstellen, dem Blinden die Augen geöffnet, seine Persönlichkeit verwandelt und aus dem Bettler einen Botschafter Gottes gemacht hat. Wie auch die Geschichte aussehen mag, so hat die Kirche dennoch unserem Land das Evangelium von Jesus Christus gebracht, es bewahrt und weitergegeben, und damit die Menschen und unser Volk erleuchtet.

Wie auch die historische Kirche manches Mal ausgesehen haben mag, so dient sie durch die Jahrhunderte hindurch als der heilende Brei Christi, und das ist die Hauptsache. Christus sagt über die Kirche noch größere Dinge. Ihr werdet euch doch noch sicher an die Stelle aus der Apostelgeschichte erinnern, in der Saulus, der später zum Apostel Paulus wurde, die Offenbarung Christi erfährt, die ihn blendet und erblinden läßt, und er dabei eine Stimme vernimmt, die ihm sagt: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Das ist Christus, der ihn anredet.

Haben wir überlegt, was das bedeutet, daß Saulus die Kirche, die Gemeinde verfolgt, aber Christus sagt: „Du verfolgst mich.“ Jesus identifiziert sich mit Seiner Kirche. Mit diesen Worten sagt Er: „Ich bin Meine Gemeinde, ich bin die Kirche.“ Heute sind die Menschen große Einzelgänger. Sie mögen sehr gerne für sich allein sein. Sie sagen: mein Leben, meine Beziehung zu Gott, mein Glaube. Mein Glaube ohne irgendeine Zugehörigkeit. Die Betonung des persönlichen Glaubens hat ihre Ursachen, ebenso wie die Betonung der persönlichen Beziehungen mit Gott.

Wir wissen es: Der Glaube ist eine Art, die von Gott geschenkte und von Christus erkaufte Erlösung zu empfangen. Wer da glaubet und getauft ist, der wird selig. Nicht mit guten Werken können wir das ewige Leben verdienen, sondern Gott schenkt es denen, die an Seinen Sohn Christus glauben und Ihm nachfolgen. Der Gerechte lebt aus dem Glauben. Heute sagt man oft: „Es ist doch nicht wichtig, woran der Mensch glaubt, die Hauptsache ist doch, er glaubt überhaupt an etwas.“ Doch der rettende Glaube ist nicht der Glaube an irgend etwas Undefinierbares. Rettender Glaube ist etwas sehr Konkretes – es ist der Glaube an Christus und der Gehorsam gegenüber Seinem Wort. Und über die Kirche sagt Christus: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“

Wieder identifiziert Er sich mit Seiner Gemeinde. Beachten wir bitte, daß Er nicht sagt: „Ich bin die Wurzel und ihr der Baum, Ich bin der Baumstamm und ihr die Äste.“ Er sagt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ Und wenn dann der Apostel Paulus sagt, daß es an denen, die in Jesus Christus sind, nichts zu Verdammendes mehr gäbe, dann sollten wir fragen: Was heißt das, in Jesus Christus zu sein?

„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ Das sagt Er über Seine Gemeinde, das sagt Er über Seine Jünger. Anhand dieser Worte Christi sollten wir die heute weit verbreitete Ansicht, die Kirche sei eine Erfindung von Menschen, und daß man, um zu glauben, zu keiner Gemeinde zu gehören brauchte, kritisch hinterfragen. Nach den eigenen Worten Christi ist ein Glaube ohne Zugehörigkeit oder ein Weinstock ohne Reben unfruchtbar.

Die Heilige Schrift geht noch weiter. Sie nennt die Kirche den Leib Christi. Bei Seiner Himmelfahrt hinterließ Christus auf Erden Seinen Leib, die Kirche, der Er den Heiligen Geist schenkte, damit sie auf Erden Sein Werk fortsetzen könnte. Man kann Christus in Seiner Fülle weder voll begreifen noch erfassen außerhalb Seines Leibes, wie das Cyprian im 4. Jahrhundert sagte: „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil.“ Das müssen wir so verstehen, daß es außerhalb von Christus, das heißt doch außerhalb der Kirche als dem Leibe Christi nicht das Heil geben, und man nicht ganz in Christus sein kann.

Doch in der Folge der sichtbaren Dinge und Werke Gottes gibt es noch eine ganz natürliche Sache, die für uns heute von besonderer Bedeutung ist. Ein Glaube ohne Werke bleibt tot. Seit Urzeiten hat die Kirche ihrem Glauben Ausdruck gegeben mit der Sorge um die Unglückskinder und Armen, der Sorge um Frieden und Gerechtigkeit, der Sorge darum, daß Menschen besser und leichter leben könnten. Diese Dinge bleiben oft im Verborgenen. Jesus selbst hat es den Seinen oft an das Herz gelegt: Posaunt nicht vor euch her, was ihr alles Gutes getan habt. Der Glaube an Christus hat sich oft auf die Entwicklung der Kultur und des Bildungswesens ausgewirkt. Doch es gibt auch eine ganz besonders sichtbare und spürbare Art dessen, wie sich der Glaube verbreitet hat, – seit Urzeiten hat die Kirche damit ihren Glauben bekannt, daß sie Gotteshäuser erbaut hat. Man pflegt von der unsichtbaren Kirche zu sprechen. Dabei gibt es nichts zu mystifizieren. Wenn ich den geschäftigen Zentralmarkt in Riga an einem Werktage verlasse, dann werde ich dort keine Kirche entdecken, auch wenn dort die Hälfte der Leute, die sich dort als Käufer oder Verkäufer zu schaffen machen, einer Kirche zugehören. Dennoch ist dort die Kirche zugegen, auch wenn man sie mit den Augen nicht erkennen kann.

Auch wenn wir in einer fremden Stadt eine Kirche suchen, werden wir sie nicht gleich auf dem Bahnhof oder auf der Straße erblicken, auch wenn überall um uns herum Gemeindeglieder sind. Und dann halten wir Ausschau nach einem Gotteshaus. Ein Gotteshaus ist in Stein abgebildeter Glaube, der oft die Form des Kreuzes darstellt. Eine Kirche gibt Zeugnis. Deshalb die Entrüstung unseres Herrn Jesus über die Verweltlichung der Kirche. Christus, der geduldige und demütige, geriet nur ein einziges Mal so außer sich vor Zorn, daß Er eine Peitsche in die Hand nahm. Das geschah, als Er im Tempel auf viele Wechsler und Händler an ihren Tischen stieß. Mein Haus soll ein Bethaus sein. Ihr aber habt es zu einer Mördergrube gemacht. Er ließ sie keine unnützen Dinge in den Tempel tragen. Übertreibt Er da nicht? Wie hätten die Händler da jemandem gefährlich oder lebensbedrohend werden können?

Ich bin in einem atheistischen Staat geboren und aufgewachsen. In der Schule wurde ich mit atheistischer Propaganda vollgestopft, doch auf dem Wege zur Schule mußte ich an mehreren Kirchen vorbeigehen. Mein Weg des Glaubens begann damit, daß ich eines Tages als Kind die Tür der St. Josefskirche in Liepāja öffnete. Da versuchte ich mir vorzustellen: Wie wäre es, wenn ich an der Tür hätte eine Eintrittskarte kaufen müssen? Wer weiß, ob ich dort hineingegangen wäre, denn das Geld brauchte ich doch für das Brötchen und den Kompott. Und als Kind waren diese Dinge mir sehr wichtig. Aber, wenn ich dennoch eine Eintrittskarte gekauft hätte und dort weiter hineingegangen wäre, und es hätte sich dann herausgestellt, dass dieses ein Museum war, in dem man antike Gegenstände besichtigen konnte? Oder daß es sich um eine Ausstellungshalle handelte? Vielleicht wäre das für mich ganz interessant gewesen und ich wäre vielleicht noch einmal wiedergekommen. Aber sicher hätte ich dort nie Christus entdeckt und wäre aus einem ungeratenen Jungen zu einem niederträchtigen Mann herangewachsen. Und vielleicht würde meine Seele in die Hölle kommen.

Wie gut war es doch, daß die Tür, die ich damals geöffnet hatte, als ich etwa acht Jahre alt war, mich direkt in ein Gotteshaus hineinbrachte. In der Zeit des Wiedererwachens gab es den Film „Sündenbekenntnis“, in dem das noch viel schärfer ausgedrückt wurde: „Wer braucht überhaupt einen Weg, wenn dieser nicht zum Tempel führt?“ Daher die Entrüstung unseres Herrn Jesu, daher die Mahnung des Apostel Paulus: Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Er zerstören. Deswegen ist es das einzige Interesse der Kirche, daß die St. Petrikirche wirklich ein Gotteshaus würde. Daß sie zum Zeugnis für Christus würde, damit jemand, der die Tür öffnet, hier auch wirklich der Gegenwart Gottes begegnete. Dieses und kein merkantiles Interesse, wie es in manchen Zeitungen angepriesen wird, ist unsere Sorge. Die St. Petrikirche soll ein Haus Gottes sein.

Damit die Dinge nach ihrer normalen und natürlichen Ordnung geschehen, daß ein Geschäft ein Geschäft sein mag, ein Konzertsaal ein Konzertsaal, daß es in einem Museum antike Gegenstände zu betrachten gibt, so soll im Gotteshaus der lebendige Gott gegenwärtig sein. Denn überall leben noch so viele Menschen, in deren Leben die Werke Gottes noch nicht offenbar geworden sind. Alles Übrige kann natürlich auch sein. Erinnern wir uns doch daran, wo die Kantate „Gott, dein Land brennt!“ damals zur Zeit des Wiedererwachens zum ersten Mal erklang. Nicht in Konzertsälen, sondern in Kirchen. Wohin man zum ersten Mal die rot-weiß-rote Fahne trug und aufstellte? Auch vor allem in Kirchen. Die Kirche kann und möchte mit ihren Menschen zusammen leben, doch zuerst kommt das Allererste! Erinnern wir uns doch daran, was Noah tat, nachdem er aus der Arche gestiegen war, und um sich herum nur eine Wüstenei erblickte! Die ganze Zivilisation und Kultur mußte neu aufgebaut werden, und Noah erbaute einen Altar. Das Allererste zuerst! Gott helfe uns! Gott segne Lettland!
(Bemerkung des Übersetzers: Diese letzten Worte sind die ersten Worte der lettischen Nationalhymne. J.B.)
Amen

Aus: Svētdienas Rīts, Zeitung der Evangelisch-lutherischen Kirche Lettlands. Übersetzer: Johannes Baumann.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Sonntag 12. März 2006 um 16:37 und abgelegt unter Predigten / Andachten.