Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Wahrheit und Toleranz

Mittwoch 11. Januar 2017 von Dr. Jürgen Spieß


Dr. Jürgen Spieß

Nach Lessing haben alle Religionen einen gemeinsamen Kern. Dieser Kern ist die tätige Liebe. Streitobjekt in der Ringparabel aus Lessings Stück „Nathan der Weise“ sind drei Ringe, bei denen man nicht mehr feststellen kann, welcher der echte Ring ist. In dieser Parabel erben drei Brüder einen Ring; die drei Ringe sehen alle gleich aus, aber nur einer ist echt. Es stellt sich schließlich auch heraus, dass es unbedeutend ist, welcher Ring der echte ist. Der Kern der drei Religionen Christentum, Judentum und Islam ist tätige Liebe. Man kann in der Liebe tätig sein, egal, ob der Ring, den man trägt (bzw. die Religion, an die man glaubt), echt ist oder nicht. Man braucht ihn dazu nicht. Dieses Bild von den drei Ringen hat viele Zuschauer und Leser bis heute überzeugt.

1. Ring oder Seil?

Alle Bilder haben eine große Suggestivkraft und nehmen einen Teil der Antwort vorweg. Das gilt auch für Lessings Bild von den Ringen. Hätte Lessing ein biblisches Bild genommen, dann sähe der logische Schluss der Parabel anders aus. Hätte er stattdessen zum Beispiel das Bild eines Seils gewählt, verliefe die Diskussion erheblich anders. Nehmen wir einmal an, drei Leute wollen einen Berg besteigen und brauchen dazu ein Seil. Sie haben drei Seile zur Auswahl, aber nur eines ist ein echtes, strapazierfähiges Kletterseil. Fadenscheinige Seile nützen dann nichts. Von der Frage, welches Seil das echte, tragfähige ist, hängt beim Bergsteiger das Leben ab. So leichtfertig kann man mit der Wahrheitsfrage im religiösen Bereich nur umgehen, wenn man glaubt, dass nichts davon abhängt. Dann kann man auch sagen: Egal, welcher Ring der richtige ist, ich bin tätig in der Liebe; das ist es ja, worauf es ankommt, und da ist die Frage nach dem Ring oder der wahren Religion eigentlich unwesentlich.

Wenn man aber das Beispiel des Seils wählen würde, dann wüsste man: Von der richtigen Wahl hängt alles ab. Wenn es zwei falsche Seile gibt, könnte mich mein Freund irrtümlich mit einem schnell zerreißbaren Seil sichern wollen. Im Hebräischen heißt „glauben“, dass man etwas als fest, als zuverlässig akzeptiert und sich darauf verlässt. Nur dann werden wir Bestand gewinnen. Der Mensch hat sich ja nicht selbst geschaffen und ist deshalb darauf angewiesen, dass er sich irgendwo festmacht. Das Leben liegt nicht in uns selbst, wir haben es nicht hervorgebracht, auch nicht unser eigenes Leben. Wir sind geschaffen worden. Und durch den Sündenfall haben wir uns vom Ursprung des Lebens getrennt. Deshalb liegt für uns alles daran, dass wir uns wieder am Leben festmachen, um selber bestehen zu können und Bestand zu haben.

2. Was ist eigentlich Toleranz?

Von Toleranz zu reden hat nur in Gewissensfragen Sinn, aber nicht in Wissensfragen. Diese beiden Dinge werden häufig vermischt. Toleranz kommt vom Lateinischen „tolerare“, etwas erdulden. Toleranz bedeutet ursprünglich, dass man eine Last trägt, indem man einen anderen toleriert, ihn annimmt trotz unterschiedlicher Meinung. In Gewissensfragen ist Toleranz wichtig. Sie bedeutet, dass man die Person achtet, obwohl man anderer Meinung ist. Aber in Wissensfragen ist Toleranz unsinnig. Nehmen wir an, jemand glaubt, zwei und drei seien sechs. Dann wäre es nicht unbedingt ein Zeichen von Toleranz, wenn man ihn Häuser und Brücken bauen ließe, weil die Sache aufgrund seiner Berechnungen wahrscheinlich ziemlich übel ausgehen würde. Und was heißt Toleranz, wenn jemand sagt: «Ich muss in die Hauptstadt Russlands» und sich ein Ticket nach Kiew kauft? Soll man ihn auf den Irrtum aufmerksam machen? Er wird es ja schließlich bei der Ankunft schon merken, dass er nicht dort angekommen ist, wo er hinwollte. Goethe hat gesagt, Toleranz dieser Art heiße, dass man den Menschen nicht ernst nehme. In der Sache, in Wissensfragen, ist Toleranz unsinnig. „Zwei und drei sind fünf“ – was heißt da Toleranz? Kiew ist nicht die Hauptstadt Russlands. Auch ein Staat kann nicht in allen Punkten tolerant sein, zum Beispiel in der Frage der Gewalt, die gegen Menschen ausgeübt wird. Er muss seine Bürger gegen Gewalt schützen, notfalls mit Gewalt. Da gibt es eine Grenze der Toleranz.

Im Zusammenhang mit dem angloindischen Schriftsteller Salman Rushdie wurde seinerzeit eine wichtige Debatte in der europäischen Presse geführt. In England hatte jemand in einem Buch behauptet, wer nach islamischem Recht Blasphemie begehe, sei auch in England des Todes schuldig. Der Westen müsse das islamische Recht respektieren. Der Westen sage doch immer, er sei multikulturell. Dann müsse er auch diese Kultur respektieren. Dem steht entgegen, dass im Gegensatz zu vielen arabischen Ländern in Europa die Meinungsfreiheit für ein so hohes Menschenrecht angesehen wird, dass es über das Recht der Tötung wegen Blasphemie im Islam geht. Wir sagen eben nicht: Alle Kulturen sind gleich und alle haben die gleiche Berechtigung. Das glaubt kein Mensch. Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski hat dazu geschrieben: „Wer immer in Europa sagt, alle Kulturen seien ebenbürtig, würde es normalerweise dennoch nicht schätzen, dass man ihm für einen Steuerbetrug die Hand abhackt oder ihn der öffentlichen Auspeitschung – beziehungsweise im Falle einer Frau der Steinigung – unterwürfe, falls er mit einer anderen Person als der rechtmäßigen Gattin (beziehungsweise dem Gatten) schliefe. Wenn man in einem solchen Fall sagt: ‹Das ist das Gesetz des Korans, man muss die anderen Traditionen respektieren›, so sagt man in Wirklichkeit:‹Das wäre entsetzlich für uns, aber für die Wilden ist es richtig›.“

Man äußert folglich nicht so sehr Respekt als vielmehr Verachtung für andere Traditionen, und zur Beschreibung dieser Einstellung ist der Satz „alle Kulturen sind ebenbürtig“ am wenigsten geeignet. Der Gedanke, alle Kulturen seien gleich zu achten, ist in der Realität nicht durchzuhalten. Diesen Luxus kann man sich nur in Europa leisten, weil man mit den anderen Kulturen nichts zu tun hat und selbst nicht von ihnen betroffen ist. So jedenfalls sieht es Kolakowski. Auch hier werden Grenzen der Toleranz sichtbar. Wenn alle Kulturen gleich zu achten sind, dann gibt es in vielen Fällen keinen Schutz für die Opfer. Nur wenn wir übergeordnete Werte akzeptieren wie die Menschenrechte, haben wir ein Argument gegen die Täter.

3. Ist der Hinduismus eine tolerante Religion?

Ein Beispiel, auf das beim Thema Toleranz immer wieder positiv hingewiesen wird, ist der Hinduismus. Oft wird er als Inbegriff der Toleranz dargestellt. Gandhi sagte einmal: „Ich kann nicht sagen, dass, weil ich Gott auf diese Weise gesehen habe, die ganze Welt ihn auf diese Weise sehen müsse. (…) Die Religion eines anderen Menschen ist für ihn ebenso wahr, wie es die meine für mich ist. Ich kann nicht über seine Religion richten. (…) Es gibt keine Religion, die absolut vollkommen wäre. Alle sind sie unvollkommen oder mehr oder minder unvollkommen.“ Das klingt tolerant. Ist hier nicht jeder respektiert? Hat man hier nicht auf ein Urteil verzichtet, das keinem zusteht, weil wir doch alle nur Menschen sind? Ist das nicht ein Modell für den Dialog der Religionen? Ist das nicht ein Modell für ein friedliches Verhältnis der Religionen, in dem alle zu ihrem Recht kommen?

Darauf kann man antworten: Ein Jude und ein Christ wissen vom konkreten Gotteshandeln in der Geschichte. Ein Hindu erklärt uns glatt: Das kannst du gar nicht wissen. Schon hier stehen wir vor der Entscheidungsfrage: Gibt es eine Offenbarung oder nicht? Woher weiß der Hindu eigentlich, dass ich nichts Definitives von Gott wissen, über ihn aussagen kann? Ist nicht gerade derjenige intolerant, der es schon vorher ganz genau weiß: Es kann keine persönliche Offenbarung Gottes in der Weltgeschichte geben? Ist nicht gerade derjenige intolerant, der schon vorher genau weiß: Es kann uns in Jesus Christus nicht Gott persönlich begegnet sein? Müsste sich demgegenüber nicht gerade ein toleranter Mensch hier ganz zurücknehmen? Müsste er nicht sagen: Das muss ich offen lassen? Es könnte sein, dass Jesus Christus der einzige Weg ist!

In der Begegnung von christlichem Glauben und Hinduismus geht es nicht etwa um die Konfrontation einer intoleranten, dogmatischen mit einer toleranten und undogmatischen Religion. Vielmehr hat auch der Hinduismus sein Dogma: das Dogma der prinzipiellen Unerkennbarkeit Gottes. Dieses steht im zentralen Widerspruch zum biblischen Zeugnis vom Handeln und Reden des dreieinigen Gottes in der Geschichte der Menschheit. Wir stehen vor einem letzten, unüberwindbaren Gegensatz der Grundüberzeugungen. Wer sich auf das hinduistische Grunddogma einlässt, hat keine Möglichkeit, den Kern des christlichen Glaubens ernst zu nehmen oder gar anzunehmen. Man kann nicht sagen, dass der Hinduismus oder der Pluralismus tolerant wären. Die Toleranz des Hinduismus ist eigentlich nur tolerant gegenüber der hinduistischen Auffassung, nicht gegen irgendeine andere Auffassung.

Auch die Toleranz des Pluralismus ist nur tolerant gegenüber dem Pluralismus, nicht gegen irgendeine andere Auffassung. Und zwar kommt die Intoleranz im Pluralismus und Hinduismus immer da zum Tragen, wo eine andere Weltanschauung oder Religion sagt: Das, was ich sage, ist die Wahrheit. In dem Moment werden Hinduismus und auch Pluralismus intolerant. Sie sagen, das stimmt nicht. Das lassen sie gerade nicht gelten. Der Pluralismus geht davon aus, alle Religionen seien kulturabhängig. Dieser Vorwurf stimmt am ehesten beim Pluralismus selbst. Er hat sich entwickelt, als man etwa im wirtschaftlichen Bereich überall wählen konnte. Dieses Prinzip der Wahlmöglichkeit hat man auch auf den religiösen Bereich übertragen. Gerade der Gedanke des Pluralismus ist ein offenkundiges Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung, in der Menschen die Erfahrung machen, dass wir in allen Bereichen unseres Lebens wählen können. Das übertragen viele auf die Gottesfrage. Diese Übertragung gelingt nur deshalb, weil man davon überzeugt ist, dass von der Gottesfrage nichts abhänge. Es geht nicht um das Seil, sondern nur um den Ring, weil der Kern der Religion die tätige Liebe ist. (Wobei diskutiert werden müsste, ob die tätige Liebe wirklich der Kern der Religion ist.)

4. Alle Religionen gleich?

Wer sagt, alle Religionen seien gleich und wollten das Gleiche, hat sich noch nicht einmal oberflächlich mit ihnen beschäftigt. Denn selbst bei oberflächlichster Betrachtung der Religionen wird man feststellen, dass es Unterschiede gibt, die nicht kompatibel sind. Zum Beispiel besteht ein ganz wesentlicher Unterschied darin, ob man denkt: „Die Materie ist schlecht; wir wollen aus der Materie, aus dem Leiden und der Realität ins Nirwana entfliehen und hoffen auf dieses Aufgehen im Nichts“ – oder ob man sagt: „Die Materie ist gut, es gibt eine leibliche Auferstehung der Toten.“ Das sind zwei unterschiedliche Konzepte. Wie ein Satz über ein historisches Ereignis nur wahr oder nicht wahr sein kann, so kann auch in dieser Frage nur gelten: Entweder ist das eine wahr oder das andere. Es kann nicht beides wahr sein. Wahrheit kann nicht mit Gewalt durchgesetzt werden. Man kann niemanden mit Gewalt dazu zwingen, zu glauben, dass zwei und drei fünf ist. Wer sagt, das sei sechs, ist auch mit Gewalt nicht zu einer anderen Meinung zu bringen. Das heißt nicht, dass man sich nicht vor Leuten schützen muss, die sagen, zwei und drei ist sechs. Man sollte sie keine Brücken und Häuser bauen lassen. Aber Wahrheit kann nicht erzwungen werden. Deshalb muss man Meinungsäußerungen gegenüber tolerant sein, aber nicht unbedingt den Konsequenzen gegenüber, die sich aus diesen Meinungen oder aus Denkhaltungen ergeben. Eine unbegrenzte Toleranz kann kein Staat einfach hinnehmen, er muss bestimmte Grenzen setzen. Folglich kann Toleranz nicht der oberste Maßstab sein. Es muss auch Grenzen der Toleranz geben, und zwar in Wissens- und Sachfragen, weil es unsinnig ist, alle Wissensaussagen einfach tolerant hinzunehmen. Ebenso muss es Grenzen der Toleranz geben, weil sonst die Menschenrechte verletzt werden. Bei grenzenloser Toleranz gibt es keinen Schutz der Opfer oder der Schwächeren.

Dr. Jürgen Spiess, Jg. 1949, verheiratet, eine Tochter; Beruf: Historiker, Leiter des Instituts für Glaube und Wissenschaft mit Sitz in Marburg (www.iguw.de); Wohnort: Marburg; Hobby: Lesen.

Quelle: Ethos, 11/2016 (www.ethos.ch)

Die Zeitschrift Ethos erscheint zwölf Mal jährlich und kann hier abonniert werden. 

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 11. Januar 2017 um 16:21 und abgelegt unter Theologie, Weltreligionen.