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„Zwischen Leid und Freude“

Mittwoch 19. März 2008 von Erzbischof Janis Vanags


Erzbischof Janis Vanags

Zwischen Leid und Freude
Interview mit dem lettischen Erzbischof Janis Vanags
(Evang.-luth. Kirche Lettlands)

Mit Jānis Vanags sprach Līga Blaua.

Was bedeutet Ihnen die Passionszeit, diese Zeit des Nachdenkens?

Die Fastenzeit von vierzig Tagen vor Ostern – das ist auf irgendeine Weise etwa der zehnte Teil der 365 Tage eines Jahres. Wenn man früher für die Arbeit der Kirche eine Gabe spendete, dann gab man auch den zehnten Teil seines Einkommens. In diesem Fall spenden Menschen Gott den Zehnten vom Wertvollsten, was sie haben – von ihrer Zeit. Und das, was ein Mensch Gott spendet, das gewinnt er eigentlich für sich selbst. Vor kurzem sagte mir einer meiner Amtsbrüder mit großer Freude, daß für ihn die Fastenzeit die schönste Zeit des Jahres sei. Weshalb? Wir möchten oft in unserem Leben etwas ändern, haben aber dafür keine Motivation. Nun, wie soll man auch eines schönen Tages einfach etwas hervorholen und ändern? Doch wir Christen kennen die Betrachtung der Versuchung Jesu, dessen, was er leiden mußte, um uns heimzuführen und zu erretten. Das ist wirklich eine Motivation zum Aufräumen unseres inneren Lebens oder unseres Lebens überhaupt. Deshalb ist die große Fastenzeit vor Ostern eine sehr günstige Zeit, um unsere Beziehungen zu Gott, zu unseren Mitmenschen und unsere Einstellung zu unserem eigenen Leben neu zu ordnen. Ebenso ist die Adventszeit eine Fastenzeit vor dem Christfest.

Jeder Autofahrer weiß, wie wichtig nach einigen Tausend Kilometer der Wartungsdienst für das Auto ist, bei dem alles nachgeprüft und das Öl gewechselt wird. Ohne das geht es nicht. Wenn man das nicht tut, dann fängt die Mechanik an zu streiken und geht am Ende völlig zu Bruch. Und wenn ein Auto solch einen Wartungsdienst braucht, wie viel mehr ist eine lebendige Seele auf ihn angewiesen! Besonders in einer Zeit wie in der, in welcher wir heute leben, wenn es um uns herum so vieles gibt, was zur Zerstreuung, zu leerer Belustigung und leerem Vergnügen lockt. Belustigung ist eine leere Freude, ebenso wie das Verlangen, etwas zu feiern, wo es gar nichts zu feiern gibt. Das bringt Leere und diese Leere bleibt hängen und schwächt den Menschen mehr als sie ihn stärkt. Doch wenn der Mensch die Motivation entdeckt hat, dem Ruf Christi zu folgen, dann wird er mit einer tiefen und ungetrübten Freude beschenkt. Wer das versucht und erlebt hat, der weiß – es gibt keine größere Freude als die, mit Gott in Eintracht zu leben.

Doch gibt es auch die kleinen menschlichen Freuden des Alltags, die Ihnen sicher auch bekannt sind.

Zweifellos, und die sind nicht weniger wichtig. Ich blicke auf meine Tochter Elizabete und denke, wie die Kinder ihre Eltern überragen, und das ist eine Freude. Elizabete ist für uns in unserem Leben stets ein Aktivposten in allem, was sie tut und wo sie Möglichkeiten entdeckt, sich selbst zu äußern. Sie studiert Kommunikationswissenschaften, aber dazwischen gelingt ihr viel anderes. Kürzlich kam sie aus St. Petersburg zurück, wo sie an einem internationalen Wettbewerb teilnahm. Manches Mal fragt sie mich nach Dingen, von denen ich in meinem Leben nie etwa gehört habe. So muß ich gelegentlich meinen Absturz von meinem eigenen Podest erleben, denn immer war Vati der Kluge, den man nach allem befragen kann und der alles weiß. Das ist nicht mehr der Fall, aber das ist auch angenehm.

Eine der Alltagsfreuden in unserer Familie ist auch, wenn unser Sohn Gatis das Abendessen zubereitet. Er hatte viel Zeit investiert, um die Kunstmalerei zu erlernen. Das ist ihm auch gut gelungen, aber jetzt ist er von der Kunst des Kochens völlig hingerissen. Zu Hause bereitet er allerhand interessante Gerichte zu, so daß wir oft zu einem Abendessen kommen wie in einem Restaurant. Auch das gelingt Gatis sehr gut. Eigentlich gelingt ihm alles, was er mit Interesse und Freude anpackt. Ab und an höre ich, daß sich Hausfrauen darüber beklagen, daß sie in der Küche drei Stunden bei schwerer Arbeit verbringen mußten, daß aber nach einer halben Stunde davon nichts mehr zu sehen gewesen sei. Doch dieses Werk der Liebe schafft auch eine gute geistige Atmosphäre, Liebesbeziehungen und den häuslichen Abendfrieden. Die gemeinsamen Mahlzeiten sind eine der bedeutendsten Formen der Nähe zueinander, die überhaupt möglich sind.

Seit dem 10. Dezember ist der Platz Ihres Sohnes Krists leer, und das ist doch ein schweres Leid…

Wir wissen, daß Krists heimkehren wird. Wenn nicht zu uns, dann in das Haus des Himmlischen Vaters… Ich kann es nicht erklären, wie das ist, aber wenn ich auf das Leben von Krists blicke, dann weiß ich: wenn es Gottes Wille ist, ihn zu sich zu rufen, dann wäre das jetzt seit seiner Kindheit die beste Zeit, dieses zu tun. Wenn wir zurückblicken, dann kommt es uns fast vor, als hätte er sich auf etwas Entscheidendes vorbereitet. Kurz vor seinem Verschwinden wollte Krists zu seiner lieben Großmutter fahren und dann dort in unserem Landhaus allein leben. Das war ungewöhnlich. In jüngster Zeit hat Krists oft die Bibel und die Schriften der alten Kirchenväter gelesen. Man konnte ahnen, daß er in sich einen inneren Sieg erkämpfte und sich von etwas befreite, was ihn behinderte. Früher gab es in seinem Leben Abschnitte, bei denen er viel Zorn und Skepsis gegenüber seiner Umwelt empfand. Jetzt hatte er sich von dem allen gelöst. Manches mal äußerte er sich dahin gehend, daß es ihn gar nicht mehr interessierte oder er darin einen Wert erkannte, womit sich Menschen in ihrem Alltag befaßten. Es ist gut möglich, daß er, wenn er noch weitere fünfzig Jahre zu leben hätte, ein sehr schweres Leben haben würde. Gott schenkt dem Menschen immer die beste Lösung zur am besten geeigneten Zeit.

Aber es ist doch so schwer, zu akzeptieren, daß der Sohn neben einem fehlt. Ich weiß, wie das ist… Dieser Kummer hört nicht auf.

Das betrifft nicht nur den Fall von Leben oder Tod. Aber es ist doch so, daß bei dem Warten auf einen Zug oder Bus der daheim Gebliebene nach seinem Abschied vom Abgereisten vier Fünftel des Abschiedsschmerzes trägt. Derjenige, der sich auf den Weg macht, hat bereits neue Gedanken und eine neue Realität, aber dem, der zurückbleibt, dem tut es weh. So ist es immer. Krists fehlt uns sehr, und es fällt uns schwer, uns vorzustellen, was wir noch zusammen unternehmen könnten, und wie es sein würde, wenn es ihn weiter geben würde. Wir werden immer daran denken müssen, wie wir uns anders hätten verhalten sollen. Doch es ist für uns eine große Hilfe, daß wir zu Hause alle Dinge ganz offen und herzlich aussprechen können. Krists wurde vom Gedanken gequält, daß durch ihn oder durch seine Anwesenheit bei uns in unser Haus oder unsere Familie irgend etwas Böses hereinkommen könnte. Er fragte uns immer wieder und war darum besorgt, ob er uns nicht Unrecht getan hätte. Das war für uns eine wertvolle Gelegenheit, ihm noch kurz vor seinem Verschwinden zu versichern, daß er unser geliebter Sohn ist und immer sein wird. Man darf nicht zögern, einem lieben Menschen das zu sagen, was wesentlich ist. Manches Mal ist es so, daß wir in einem Augenblick unseren Emotionen freien Lauf lassen, aber das Wichtige bei uns behalten. Als warteten wir auf den geeigneten Augenblick, der dann nicht kommt. Und nachher bedauern wir es.

Halten Sie es für möglich, daß sich Krists selbst etwas angetan haben könnte?

Nein, das glaube ich nicht. Krists glaubte an ein Leben nach dem Tod und empfand sehr deutlich das Vorhandensein einer geistigen Welt. Als wir miteinander einmal darüber sprachen, sagte er, daß Selbsttötung für einen geistlichen Menschen keine Lösung sei. Krists war in diesen Dingen in unserer Familie vielleicht derjenige, der darüber am ernsthaftesten nachdachte. Die letzten Jahre lebte er in einem großen Gottesbewußtsein. Davor, ja da gab es Abschnitte in seinem Leben, in denen er destruktive Dinge unternahm; doch dann sagte er eines Tages: das, was er täte, sei eines geistlichen Menschen unwürdig und behindere sein Wachstum. Er legte von einem Tag zum anderen Gewohnheiten ab, mit denen andere Menschen oft Jahre lang zu kämpfen haben. Zum Beispiel das Rauchen. Zu unserem Kummer „verpaffte“ Krists einst zwei Schachteln am Tag, und hörte damit mit den Worten, das sei eines Menschen unwürdig, in einem Augenblick auf.

Es ist wohl so, daß Krists in jüngster Zeit gedanklich sehr beschäftigt war. Dabei ging er so tief, daß er, wenn man ihn etwas alltägliches fragte – z.B. hast du schon etwas gegessen? – nicht antwortete, und man fühlen konnte, daß er sich konzentrieren wollte, und daß man ihn aus einer großen Tiefe hochziehen mußte, um ihn auf die Ebene zu heben, von der aus ich mit ihm redete. Und dann fragte er mich: „Weshalb fragst du mich etwas so Unwichtiges? Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun.“ Und wenn ich ihn dann fragte: „Was tust du?“, antwortete er: „Ich denke nach.“ Sollte Krists am Leben sein, dann könnte er von den sogenannten Realitäten des Lebens weit entfernt sein. Die erschienen ihm völlig unwichtig.

Könnte das eine Erklärung dafür sein, daß Krists von sich kein Lebenszeichen gibt?

Wenn wir die Hoffnung haben, daß Krists noch auf dieser Welt weilt, dann ist das für mich die einzige einleuchtende Erklärung. Einmal sagte mir jemand, daß er in einer ähnlichen Situation überzeugt gewesen sei, daß alle wüßten, wo er sei und was er täte, und daß es nicht notwendig sei, von sich eine Nachricht zu geben. Wenn ich gefragt werden würde, ob ich es mir vorstellen könnt, daß Krists unter normalen Verhältnissen uns das nicht sagen würde, dann kann ich nur sagen – nein, das kann ich mir nicht vorstellen.

Sie hoffen und warten doch immer noch weiter – vielleicht, vielleicht…

Wir hoffen… obwohl… uns diese Hoffnung recht vage erscheint. Bei der Polizei war es ein sehr sachkundiger Beamter, welche die Ermittlungen leitete. Er hatte sogar viele Möglichkeiten erkundet, auf die wir selbst gar nicht gekommen wären. Aber auch er kam zur Erkenntnis, daß er auf Grund seiner reichen Erfahrungen und professionellen Kenntnisse sagen müßte: Eine große Wahrscheinlichkeit, daß Krists noch unter uns weilen könnte, besteht nicht mehr…

Jetzt ist ja die akute Phase des ersten Monats vorbei. Damals war es so – sobald jemand anrief und sagte, daß es Krists gewesen sein könnte, den er gesehen hatte, liefen wir sofort zu der Stelle hin und suchten sie zusammen mit Freunden und Gemeindegliedern ab. Doch allmählich haben wir gelernt, die Signale zu beurteilen – wer das wohl beurteilen könnte, und wer nicht. Einmal rief jemand an, der sagte, daß er vor zwei Tagen oder vor einer Woche Krists dort oder an einer anderen Stelle gesehen hätte. Ich bin ja von Herzen dankbar, daß Menschen uns helfen möchten. Aber sollte er es wirklich gewesen sein, dann nützt es gar nichts, wenn der Betreffende erst zwei Tage danach anruft. Richtig wäre es gewesen, in dem Augenblick ihn anzusprechen.

Diese Erfahrung trägt dazu bei. daß wir noch mehr zusammenhalten und auf das Leben und den Glauben noch viel konkreter blicken. Jetzt kann ich erfahren, wie es ist, „auf der anderen Seite zu stehen“, und mich fragen, ob das, was ich in einer solchen oder ähnlichen Situation anderen gesagt habe, jetzt mir selbst eine Hilfe sein könnte. Könnte! Ich weiß nicht, wie wir damit zurecht kämen, wenn wir nichts über Gott wüßten. Alle unsere Quellen sind in Ihm. Im Alltag erkennt der die eine Seite des Lebens, aber da ist doch auch die geistliche Nahrung, Alles, was auf dieser Welt geschieht, hat doch auch eine geistliche Bestimmung als Hintergrund. Wenn etwas sehr Schmerzliches passiert, dann können wir es gewöhnlich nicht akzeptieren und nur schwer mit unserer Vorstellung vom liebenden Gott in Einklang bringen.

Dennoch hat uns Gott in einem solchen Augenblick den besten von allen Wegen geschenkt, um uns vor etwas noch Schlimmerem zu bewahren und uns einem höheren Gut näher zu bringen. Davon bin ich fest überzeugt. Wenn es uns gegeben wäre, den jenseitigen Sinn unseres täglichen Geschehens zu erkennen, dann würden wir unser Leben ganz anders beurteilen und auch anders leben. Davon hat Krists oft gesprochen. Wenn Gott ihn zu sich genommen haben sollte, dann glaube ich, daß Krists bei dem Vater ist, der ihm alles erklären können wird, was er wissen wollte. Daß er schließlich zur Erfüllung und zum Frieden gekommen ist. Und daß er mir viel zu sagen haben wird, wenn wir eines Tages wieder miteinander vereint sind. Aber bis dahin muß ich noch bis zu meinem Ende weiter leben und meine Tage mit Gott erfüllen.

Da ich weiß, daß Ihr Interesse und Ihre Begeisterung in Ihrer Jugend der Chemie gehörten, möchte ich Sie fragen, wie und wann Sie Gott angeredet hatte?

Dogmatisch ist der Glaube ein Geschenk Gottes, und ich erhielt es von oben her. Das Studium der Chemie bestätigt das nur. Soweit ich mich an meine Kindheit zurück erinnere, hatte ich gegenüber Gott immer eine große Ehrfurcht und fühlte mich zu Gott, dem Glauben und der Kirche sehr hingezogen. Ich kann nicht sagen, weshalb und wie das alles geschah, denn niemand hat mir etwas Besonderes beigebracht und erzählt. Meine Eltern waren Lehrer. Meine Mutter unterrichtete Musik und mein Vater Deutsch, und während der Sowjetzeit durften sie überhaupt nicht zur Kirche gehen. Doch erweckten sie bei mir keine antikirchliche Haltung. Ich habe schon sehr früh das Lesen erlernt. Als ich fünf Jahre alt war, konnte ich das fließend, und mit sieben Jahren konnte ich bereits alte Drucke lesen. Ich erinnere mich, daß ich, als ich so alt war und wir bei Großmutter auf dem Lande lebten, aus Großmutters Regal ihr Gesangbuch herausgezogen hatte und darin heimlich hinter einem Holzstapel gelesen habe. Ich habe fast gar nichts verstanden, war jedoch überzeugt, daß ich damit etwas außerordentlich Gutes, Notwendiges und Wichtiges täte. Das sind meine ersten Erinnerungen dieser Art. Mit meiner Kindheit verbinden sich auch meine ersten Begegnungen mit der Kirche. In der Nähe des Marktes von Liepāja befindet sich die katholische St. Josefs Kathedrale, in die ich hineinzuschleichen pflegte. Mysterium tremendum bedeutete mir damals mehr als das, was ich aus den Reden entnehmen konnte, die dort gehalten wurden. Das Haus Gottes und Seine Gegenwart darin, die Liturgie und die ganze Atmosphäre, das alles nahm mich gefangen und ging mir bis in die Knochen. In der Schule trug ich ein Kreuzchen, das mir die Lehrerin wegnahm. Später bekam ich es zurück. Ebenso ging es mir mit einer Bibel, die man mir auch in der Schule konfiszierte und im Atheismus-Museum der Schule ausstellte. Aber nicht lange. In einem Büro der Schule gab es einen Schrank, in den man sie hineinpackte. Von dort aus ließ ich sie wieder mitgehen. Damals war ich in der achten Klasse. Aber große Unannehmlichkeiten hatte ich wegen dieses meines Interesses in der Schule nicht.

Hat Ihnen Chemie eigentlich als Fach oder wegen Ihres Lehrers Akermanis gefallen?

Das kann ich heute gar nicht mehr so genau sagen, wie ausschlaggebend damals Chemie als Fach oder die Persönlichkeit meines Chemielehrers waren. Er war wirklich ein großartiger Lehrer. Aus heutiger Sicht betrachtet, möchte ich ihn vielleicht als Autorität ansehen. Er arbeitete damals mit Methoden, die in der Schule damals verboten waren. Er verstand es sehr wirksam, die Kenntnisse des Einzelnen zu testen. In einer Stunde kam jeder aus der Klasse einmal dran, manche oft ein zweites Mal. Andere Lehrer beschwerten sich: wenn nach ihrer Stunde Chemie ist, dann hört bei ihnen niemand zu, denn unter dem Pult haben sie das Chemiebuch aufgeschlagen und pauken Formeln und Verfahren. Doch Lehrer Akermanis verstand es, uns zu überzeugen, daß Lernen sehr interessant sein kann. Er war überhaupt eine interessante Persönlichkeit. Er spielte Kontrabaß, trieb Sport und reiste, und konnte dabei alles sehr interessant schildern. Bis zur siebenten und achten Klasse war ich ein schlechter Schüler. Als ich sagte, daß es mein Wunsch sei, Chemie zu studieren, haben die Lehrer gelacht: was ich mir bloß einbildete! Doch das geschah tatsächlich. Drei Jahre nach dem Ende des Studiums habe ich dann auch in einer Schule Chemie unterrichtet.

Und dann haben Sie die Schule verlassen?

Eigentlich wurde ich entlassen. Die Direktorin der Schule war mir sehr wohlgesonnen, bewilligte mir als jungem Lehrer ein außergewöhnlich hohes Gehalt und sorgte dafür, daß ich bald eine Wohnung bekam; aber bereits damals hatte ich mich am kirchlichen Leben beteiligt und nebenbei Theologie studiert, und wußte genau, was das für Konsequenzen haben könnte. Ich ging zur Direktorin und berichtete ihr alles, zeigte ihr Fotos, auf denen ich bereits als Helfer des Pfarrers von Aizpute zu erkennen war. Sie nahm das alles recht ruhig auf, aber sie bat mich, ein Entlassungsgesuch aus dem Schuldienst einzureichen. Die Zeit des nationalen Erwachens rückte langsam näher. Das war damals das Jahr 1985. Es ist schon merkwürdig. Ich erinnere mich an den ersten und letzten Tag meines Lehrerdaseins noch ganz genau, Die erste Veranstaltung, an der ich als Lehrer mit meiner Klasse teilnehmen mußte, fand vor dem Fernseher statt. Wir sahen uns Breschnjews Bestattung ab. Und am letzten Tag verabschiedete ich mich als Lehrer vor dem Fernsehen bei dem Anschauen der Bestattung von Tschernjenko. So wurde ich mit Chopins Trauermarsch in der Schule begrüßt und verabschiedet. Meiner Schulleitung kann ich nichts vorwerfen. Alle waren mir gegenüber sehr kollegial. Aber nun war ich arbeitslos und mußte mir etwas suchen, ich hatte eine Familie zu versorgen. Meine beiden Söhne waren bereits auf der Welt. Ich fand keine andere Arbeit als die eines Fensterreinigers auf einem Bahnhof. Dabei war es interessant, Menschen mit einem ähnlichen Schicksal zu begegnen – Akademiker, die wegen ihres Glaubens keine andere Arbeit bekommen konnten. Da gab es einen hoch gebildeten Baptisten, mit dem zusammen ich die Fenster reinigen durfte.

Eine zweite Stelle, an der Christen während der Sowjetzeit arbeiten durften, war die Reinigung des Abflußwassersystems. Um noch etwas hinzu zu verdienen, richtete ich mich auch dort ein. Doch ich wurde dabei erwischt, daß ich zwei Stellen nebeneinander hatte, was damals nicht erlaubt war. Man stellte mich vor die Wahl zwischen den beiden Stellen. Dazu gab man mir eine Woche Zeit. und das war eine schwere Entscheidung. Mit dem Fensterreinigen konnte man mehr verdienen, aber bei dem Chloren des Abwasserablaufs hatte man mehr Pausen, die man zum Lernen nutzen konnte. Am 8. Dezember mußte ich meine Entscheidung kund tun. Der Tag rückte immer näher und ich quälte mich mit den Überlegungen herum. Doch plötzlich kam ein Anruf aus dem Konsistorium, in dem man mir mitteilte, daß ich am 8. Dezember meinen Dienst als Pfarrer der Kirchengemeinde Saldus antreten sollte. Ich müßte mich zur Ordination einfinden und danach nach Saldus begeben. So wurde alles ohne mein Mitwirken entschieden – mir war die Entscheidung zwischen den Jobs als Fensterreiniger oder Abflußreiniger abgenommen und wir zogen nach Saldus.

Vor einigen Jahren schrieb ich einen Beitrag in „Ieva“ über den Glöckner Žanis in Saldus. Er war ein ganz besonderer Mensch, aber gerade deshalb sehr interessant. Er sprach von Ihnen als von einem Menschen, der ihm in seinem Leben sehr wichtig war, der ihn verstanden und ihm geholfen hätte. Er berichtete über sein dramatisches Schicksal und ich erzählte ihm, worüber mein Herz weinte. Ich weiß nicht, ob Žanis das tun durfte, aber er stieg mit mir auf den Glockenturm und läutete für meinen lieben nicht mehr vorhandenen Sohn, der so weit weg war, daß ein Begegnung mit ihm nicht mehr möglich erschien.

An den Glöckner Žanis kann ich mich gut erinnern. Vielleicht waren wir die Einzigen, die ihn Žanis nannten. Sonst kannte man ihn in Saldus unter dem Namen Frīdis, doch dieser Name sagte ihm gar nicht zu. Er hatte drei Vornamen: Žanis Teodors Alfreds. Das, was Sie mir über ihn erzählt haben, erscheint mir wie ein Wunder Gottes. Eigentlich waren damals mit ihm viele unzufrieden. Er war so eine Art Quasimodo von Saldus. Er roch immer nach Rauch und war stets verrußt, denn er arbeitete ehrenamtlich bei der Feuerwehr. Oftmals kam er nach einem Brand in die Kirche herein wie einer, der selbst abgebrannt war, ging dann laut stampfend durch den Mittelgang bis zum Altar und kniete vor dem Läuten nieder. Und in einem Augenblick seines Lebens konnte Žanis Ihnen den Himmel näher bringen. Das ist ja das größte Wunder Gottes, daß Er oft solche Werkzeuge in Seinen Dienst nimmt und sie auf diesem Wege anderen Menschen zusendet, von denen wir nie annehmen, daß sie uns etwas geben könnten.

Wie haben Sie Ihre Baiba kennen gelernt?

Sie kommt aus Livland, aus der Gegend um Sigulda. Wir lernten einander noch als Schüler bei der Hochzeit eines Freundes kennen. Man könnte das als einen der merkwürdigen Wege Gottes bezeichnen, denn an dieser Hochzeit mußte ich gar nicht unbedingt teilnehmen. Sie kamen eigentlich, um meinen Freund Valdis einzuladen, und da ich in dem Augenblick auch zufällig anwesend war, wäre es ihnen vielleicht peinlich gewesen, wenn sie mich nicht mit eingeladen hätten, und so bezogen sie mich in die Einladung mit ein. Die Hochzeit fand auf einer grünen Wiese statt, nicht weit von der Kirche von Allaži. Und dort erblickte ich ein Mädchen, das so schön war, daß mein Herz stark zu klopfen begann. Dabei erwies es sich später, daß Baiba mich auch entdeckt und in den Blick genommen hatte.

Jetzt muß ich ein wenig nachdenken, welches unser eigentlicher Hochzeitstag gewesen ist. War das der 18. August 1979, wie es im Register des Standesamtes festgehalten ist, oder 5 Jahre danach, als wir an einem entsetzlich kalten Wintertag in der Kirche von Cīrava getraut wurden. Davor ließ sich Baiba konfirmieren und ich ließ mich taufen und konfirmieren. Wir waren beide zum Glauben gekommen, und deshalb war uns das sehr wichtig. Aber wenn wir über Liebe sprechen, dann müssen wir durch verschiedene Phasen hindurchgehen. Jedenfalls ist das bei Baiba und mir der Fall.

Zu welchem Beruf ist Baiba ausgebildet worden?

Sie ist Kunstgärtnerin. Baiba hat immer schon, wie man sagt, grüne Finger und einen grüne Daumen gehabt. Sie mag alles, was etwas mit Natur und Pflanzen und Blumen zu tun hat. Im Dorf Vecpils hatte mein Großvater ein Haus, das ich geerbt habe. Dort gibt es etwa 50 Apfelbäume. Als Großvater und Tante Anna starben, verlor das Haus seine Anziehungskraft, so daß wir es fast verkauft hätten. Gott sei Dank, daß Er uns vor diesem Fehler bewahrt hat! Baiba hat dort wieder Leben hineingebracht. Sie ist zur Seele des Hauses geworden. Sie richtete den Blumengarten von Tante Anna wieder neu her. Tante Anna war die zweite Frau meines Großvaters. Meine Großmutter starb, als ich drei Jahre alt war. Ihre Bestattung gehört zu meinen ersten Kindheitserinnerungen. Ich erinnere mich, daß ich einen abgepflückten Strauß Dahlien auf ihr Grab gelegt hatte.

Wer steht Ihnen zur Seite, wenn Sie Schweres durchzustehen haben? Zu wem gehen Sie, wenn Sie seelsorgerliche Hilfe brauchen?

In schweren Augenblicken ist mir nicht nach Reden zu Mute. Es redet in mir nicht. Ich schweige dann lieber. Natürlich rede ich mit den mir nahe stehenden Menschen, mit meiner Familie. Doch im christlichen Glauben ist die Beichte sehr wichtig. Es ist mir eine große Erleichterung meines Gewissens, wenn ich dabei auch den Rat eines Amtsbruders zu meinen Problemen hören kann. Andererseits ist man immer einsam, wenn man ein leitendes Amt bekleidet. Das ist einfach so! Es gibt einen Witz über einen Mönch, der zum Bischof ernannt worden ist. Als im Refektorium die Ernennungsurkunde vorgelesen wird, sagt einer seiner Nachbarn zu ihm: „Herzlichen Glückwunsch, Pater! Von jetzt an bekommst du nie mehr eine schlechte Mahlzeit in deinen Magen oder ein wahres Wort in dein Ohr.“ An diesem Witz ist wirklich etwas Wahres dran. Wenn ich eine Kirchengemeinde besuchen möchte, dann fällt es mir oft schwer, die eigentliche Situation dieser Kirchengemeinde zu erkennen, denn der Alltag sieht anders aus als am Tage des Bischofsbesuches. Die Kraftquelle eines Pfarrers ist dessen enger Kontakt zu seiner Kirchengemeinde. Ich als Bischof habe keine eigene Kirchengemeinde, aber ich habe mit meiner Familie in unserer schweren Situation gespürt, welche Stärkung wir von den Kirchengemeinden in Lettland erfahren haben. Und nicht nur in Lettland. Die Gemeinschaft der Christen ist etwas, was Völker und Grenzen überspannt.

Ich weiß, daß für Krists und für uns in Afrika und Amerika gebetet wird. Wir allein würden alles nie schaffen, denn unsere Kräfte und Möglichkeiten haben ihre Grenzen, doch ich bin davon tief überzeugt, daß wirklich alles in Gottes Hand ist. Und wenn es etwas geben sollte, was wir unseren Lieben in diesem Leben nicht geben können oder konnten, dann können wir uns darauf verlassen, daß Gott alles richten wird, was wir selbst nicht vermögen oder vermocht haben.

Dieses Interview wurde am 19. März 2008 in der lettischen Zeitschrift „Ieva“ veröffentlicht.

Übersetzung aus dem Lettischen: Johannes Baumann

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 19. März 2008 um 15:09 und abgelegt unter Christentum weltweit, Interview.