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Constantin von Tischendorf und der Codex Sinaiticus

Mittwoch 11. MĂ€rz 2015 von Pfr. Hans-Wolf Baumann


Pfr. Hans-Wolf Baumann

Zum 200. Geburtstag von Constantin von Tischendorf

2015 begehen wir den 200. Geburtstag (18. Januar) eines Forschers und Wissenschaftlers, der weit ĂŒber die Grenzen seines Landes bekannt geworden ist: Constantin von Tischendorf. Seine Geburtsstadt, Lengenfeld im sĂ€chsischen Vogtland, erinnert mit einem „Tischendorfplatz“ und einer „Tischendorfstraße“ an den berĂŒhmten Sohn der Stadt. Sein Geburtshaus, das einst in der Bachaue nahe der heutigen Tischendorfstraße stand, ist 1859 durch einen Brand in Schutt und Asche gelegt worden.

Nach einem Kirchenbucheintrag wurde Tischendorf in der Stadtkirche zu Lengenfeld durch Pfarrer Johann Gottlieb Böhm getauft. Taufpate war Christian Tille, der seit 1812 als zweiter Pfarrer in Lengenfeld amtierte. Bei dem großen Stadtbrand von Lengenfeld 1856 wurde der gesamte mittelalterliche Stadtkern mit Kirche, Schule und GerichtsgebĂ€ude (das ehemalige Rathaus) vollkommen zerstört. Die Kirche, wie sie heute steht, wurde 1864 am gleichen Ort wieder errichtet. Das  spĂ€ter neu erbaute Gemeindehaus neben der Stadtkirche trĂ€gt ĂŒber dem Eingangsportal deutlich lesbar die Inschrift: „Dem Andenken Constantin von Tischendorfs“. Im Aufgang zum großen Saal erinnert die Besucher ein Bild an den berĂŒhmten Mann, dem dieses Haus gewidmet ist. Zur Einweihung des Tischendorfhauses am 1. Juli 1928 hielt Pfarrer Dr. theol. Ludwig Schneller (Köln), ein Schwiegersohn Tischendorfs, den Festgottesdienst. Auch eine Enkeltochter Tischendorfs, Frau Dr. Elisabeth Behrend (Hannover), war zugegen. In Leipzig hat man am Haus in der Eisenbahnstraße Nr. 8, wo Tischendorf mit seiner Familie von 1863 bis zu seinem Tode 1874 wohnte, eine kleine Gedenktafel angebracht (auch wenn der Straßenverlauf heute nicht mehr den Gegebenheiten des 19. Jh. entspricht). Sein Grab auf dem Leipziger Johannisfriedhof, wo auch viele andere berĂŒhmte Leute begraben sind, wurde in den 70er Jahren wegen einer geplanten Neubebauung beseitigt. Der Grabstein und die Grabplatte konnten damals durch Lengenfelder BĂŒrger gerettet und neu neben dem Eingang (linke Seite) der Lengenfelder Friedhofskapelle aufgestellt werden. An der Außenwand rechts neben dem Eingang befindet sich auch die Grabplatte von Tischendorfs Eltern.

Bedeutung Tischendorfs

Was hat Tischendorf so berĂŒhmt gemacht? Warum erinnern wir uns heute noch an ihn? Was verbindet sich mit seinem Namen?

Tischendorf hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, alte Bibelhandschriften zu vergleichen, um einen möglichst genauen und ursprĂŒnglichen Text zu gewinnen. Vor allem wollte er die Bibelkritiker seiner Zeit widerlegen. Diese Aufgabe hat er meisterhaft erfĂŒllt. Viele Bibliotheken in Deutschland und Europa suchte er auf, um alte Handschriften zu finden und zu prĂŒfen. Selbst weite und gefĂ€hrliche Reisen in den Orient scheute er dabei nicht, weil er wusste, dort schlummern an abgelegenen und unbekannten Orten noch Schriften aus frĂŒhchristlichen Jahrhunderten. Bei dieser Suche stieß er in einem alten Kloster auf der Sinai-Halbinsel auf eine der Ă€ltesten Bibelabschriften, die fast das gesamte Alte Testament und das vollstĂ€ndige Neue Testament in Griechisch enthĂ€lt. Nach ihrem Fundort erhielten diese auf Pergament geschriebenen BlĂ€tter den Namen „Codex Sinaiticus“.[1] Die BlĂ€tter wurden von Tischendorf in mĂŒhevoller Kleinarbeit abgeschrieben, zur sicheren Aufbewahrung dann sogar mitgenommen und liegen heute gut bewacht in Bibliotheken von Leipzig, London, Petersburg und auch im Katharinenkloster (Sinai). In den letzten Jahren konnten sie durch die Zusammenarbeit von Fachleuten mit großem finanziellen Aufwand digitalisiert und im Internet weltweit zugĂ€nglich gemacht werden (www.codex-sinaiticus.net).

Schon zu Lebzeiten wurde Tischendorf berĂŒhmt und geehrt. FĂŒr seine Verdienste erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, Medaillen, Orden und von verschiedenen UniversitĂ€ten den Ehrendoktor, ja, er wurde sogar in den Adelsstand erhoben. Die Leipziger UniversitĂ€t, an der er einst mit seinem Theologie- und Sprachenstudium begann und die seine Berufung zum Professor wegen angeblich unzureichender Sprachkenntnisse zunĂ€chst ablehnte, bezeichnete ihn spĂ€ter als ihren wĂŒrdigsten Lehrer. In Fachzeitschriften und Zeitungen wurde er als Forschungsreisender und Entdecker wertvoller Handschriften gefeiert. Mit zahlreichen Gelehrten und Forschern seiner Zeit stand er in Kontakt, etwa mit dem Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859). Auch der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861), der wĂ€hrend seiner Regierungszeit (1840–1861) die Verfolgung der Altlutheraner beendete und die lutherischen Pfarrer aus der Haft entließ, nahm an Tischendorfs Reisen regen Anteil. Er soll gesagt haben: „Wo Tischendorf hinkommt, da findet er auch etwas.“

Das Familienwappen, das im Zusammenhang mit der Adelsverleihung 1869 durch den russischen Zaren Alexander II. (1818–1881) entstand, weist sehr anschaulich auf Tischendorfs Herkunft und Lebenswerk hin. Im oberen Teil zeigt es einen Köhler mit SchĂŒrbaum. MĂŒtterlicherseits soll die Familie von jenem Köhler abstammen, der nach dem Prinzenraub durch Kunz von Kaufungen (1455 in Altenburg) bei der Befreiung des Prinzen Albrecht in der Gegend von GrĂŒnhain–Elterlein eine Rolle spielte. Im unteren Teil ist eine aufgeschlagene Bibel mit den griechischen Buchstaben fĂŒr Alpha und Omega zu sehen, den ersten und letzten Buchstaben des griechischen Alphabets. Das erinnert auch an Jesu Wort aus der Offenbarung des Johannes: „Ich bin das A und das O, der Anfang und  Ende, der Erste und der Letzte“ (Offb 22,13).

Herkunft und Ausbildung

Am 18. Januar 1815 wurde Tischendorf als neuntes von elf Kindern in Lengenfeld geboren. Die vollstĂ€ndigen Vornamen lauten Lobegott Friedrich Constantin. Seine Mutter Christiane Eleonore Thomas, geboren 1777 in Lengenfeld und 1836 in Lengenfeld verstorben, war seit 1800 mit dem Gerichtsarzt Dr. med. Johann Christlieb Tischendorf (1772–1835) verheiratet. Der Vater stammt aus einem alten Greizer Papiermachergeschlecht.[2] Sechs seiner Geschwister starben noch im Kindesalter. Ein besonders enges VerhĂ€ltnis verband Constantin zeitlebens mit seinem zehn Jahre Ă€lteren Bruder Julius Valentin, der als Gerichtsarzt die Nachfolge des Vaters in Lengenfeld antrat.

Die ersten Jahre besuchte der begabte Junge die BĂŒrgerschule seiner Heimatstadt. Nach seiner Konfirmation bezog er von 1829 bis 1834 das Gymnasium in Plauen. Die Schule wurde unter ihrem neuen Rektor und Konrektor reformiert und genoss dadurch einen guten Ruf, der sich durch wachsende SchĂŒlerzahlen bemerkbar machte. Hier wurde die schöpferische TĂ€tigkeit der SchĂŒler geweckt und die sprachliche Begabung Tischendorfs gefördert. Jedes Schuljahr schloss er als Klassenprimus ab und wurde dafĂŒr belobigt. Seine Abiturientenrede lĂ€sst auch seine dichterische Begabung erkennen. SpĂ€ter veröffentlichte er dann in einem kleinen BĂ€ndchen Gedichte und ein weiteres BĂŒchlein mit dem Titel: „Der junge Mystiker oder Die drei Festzeiten aus seinem Leben“. Mit den Lehrern des Gymnasiums blieb er auch spĂ€ter „innig“ verbunden, wie es in einem Brief heißt, den er wĂ€hrend seiner ersten Orientreise im Juli 1844 aus Jerusalem an seinen ehemaligen Rektor Johann Gottlieb Dölling schrieb. In seinen GrĂŒĂŸen „aus den Mauern Jerusalems“ denkt er gern an die Schule in Plauen zurĂŒck, wo er sich einst in vĂ€terlicher Obhut befand.[3]

Zu Ostern 1834 schrieb sich Tischendorf an der UniversitĂ€t in Leipzig ein und studierte Theologie und Philologie. 1838 schloss er sein Studium ab und promovierte zum Doktor der Philologie. Wie damals oft ĂŒblich trat er keine Pfarrstelle an, sondern ĂŒbernahm die Stelle eines Hauslehrers bei Pfarrer Ferdinand Leberecht Zehme (1789 –1858) in GroßstĂ€dteln bei Leipzig. Hier verliebte er sich in die Pfarrerstochter Angelika Zehme und verlobte sich mit ihr heimlich. Erst nach der RĂŒckkehr von der ersten Orientreise heirateten sie im September 1845 und grĂŒndeten in Leipzig eine Familie. Den Eheleuten wurden acht Kinder geschenkt. Da Tischendorf auch kĂŒnstlerische FĂ€higkeiten besaß, pflegte er in seinen Leipziger Jahren auch rege Kontakte mit den berĂŒhmten Komponisten Felix Mendelssohn–Bartholdy und Robert Schumann. Tischendorf und Mendelssohn waren in Leipzig unmittelbare Nachbarn. Er arbeitete an Zeitschriften mit, die von den Komponisten herausgegeben wurden.

Auf der Suche nach Handschriften

1839/40 (also schon mit 24 Jahren!) machte sich Tischendorf auf die erste Suche nach alten Handschriften der Bibel. Sie fĂŒhrte ihn in Bibliotheken nach SĂŒddeutschland, in die Schweiz und nach Straßburg. Als Ergebnis dieser Studienreise gab er das Neue Testament in Griechisch nach neuen methodischen GrundsĂ€tzen bearbeitet heraus. Die UniversitĂ€t Breslau verlieh ihm daraufhin die EhrendoktorwĂŒrde. Mit einer weiteren Arbeit zum Text des Neuen Testaments leistete er seinen wissenschaftlichen Nachweis zur LehrbefĂ€higung (Habilitation). Daraufhin erhielt er 1840 an der Theologischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t in Leipzig eine Anstellung als Privatdozent. Weil inzwischen andere UniversitĂ€ten auf ihn aufmerksam wurden, berief man ihn schließlich zum außerordentlichen Professor fĂŒr Theologie, um diesen inzwischen berĂŒhmt gewordenen Lehrer an Leipzig zu binden.

Im Herbst 1840 erforschte er dann in Paris den „Codex Ephraemi Rescriptus“, der als unlesbar galt. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Palimpsest[4], d.h. eine Pergamenthandschrift aus dem 5. Jh., die im 12. Jh. mit einem neuen Text[5] ĂŒberschrieben wurde, um mit dem teuren Schreibmaterial sparsam umzugehen. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es damals war, diese Aufgabe ohne die uns heute zur VerfĂŒgung stehenden Hilfsmittel zu erfĂŒllen. Vor Tischendorf hatten sich daran schon andere vergeblich versucht. Nachdem ein Kollege der UniversitĂ€t, Professor Florenz Fleck, den Kodex mit einer Chemikalie behandeln ließ, gelang es Tischendorf unter großen MĂŒhen, diesen Text zu entziffern. In den Jahren 1843 und 1845 wurden die 64 BlĂ€tter mit Texten des Alten Testaments und 145 BlĂ€tter aus dem Neuen Testament erstmals durch Tischendorf veröffentlicht. Man kann sich vorstellen, dass man diese Leistung zu schĂ€tzen wusste und von verschiedenen Seiten weitere Gelder fĂŒr seine Forschungsarbeiten zur VerfĂŒgung gestellt wurden, ohne die es auch damals nicht ging.

Von Paris aus reiste er weiter nach England, in die Schweiz und Italien. In Rom interessierte er sich besonders fĂŒr den Codex Vaticanus, der bis heute zu den Ă€ltesten und bedeutendsten Handschriften aus der ersten HĂ€lfte des 4. Jh. zĂ€hlt und in der Vatikanischen Bibliothek unter Verschluss gehalten wurde. Tischendorf erhielt hier nur begrenzt Zugang.

Erste Orientreise

Im MĂ€rz 1844 setzte Tischendorf mit dem Schiff von Livorno (Hafenstadt an der MĂŒndung des Arno, etwa 20 km sĂŒdwestlich von Pisa) aus nach Alexandrien ĂŒber und forschte in Bibliotheken von Ägypten nach alten Handschriften. Da erhielt er einen Hinweis auf das „Katharinenkloster“ auf der Halbinsel Sinai. Es ist eines der Ă€ltesten Klöster und wurde schon im 6. Jahrhundert nach Christus am Fuße des Moseberges erbaut, dort, wo einst Gott mit Mose aus dem brennenden Dornbusch geredet haben soll (2Mose 3). Dieses Kloster wurde nie zerstört und beherbergt viele SchĂ€tze in Form von kostbaren Ikonen und urchristlichen Schriften.

Tischendorf machte sich umgehend mit einer kleinen Karawane auf den Weg durch die unwegsame Felsenlandschaft und erreichte endlich dieses Kloster. Hohe Mauern schĂŒtzen das Kloster vor ungebetenen GĂ€sten. Die Besucher konnten damals nur in einem Korb ĂŒber die Klostermauer gezogen werden. Tischendorf stöberte dort in der Bibliothek, wo viele alte SchriftstĂŒcke und Handschriften mit Texten der Bibel und von verschiedenen KirchenvĂ€tern ungeordnet aufbewahrt wurden. Die Mönche waren zwar fromm, aber recht ungebildet und nicht daran interessiert, die zahlreichen Manuskripte zu lesen und zu ordnen.

In einer Ecke der Klosterbibliothek entdeckte Tischendorf zufĂ€llig einige beschriebene PergamentblĂ€tter in einem Papierkorb. Der Gelehrte zog das BĂŒndel heraus und erkannte sofort, dass es sich bei diesen PergamentblĂ€ttern um Teile einer altgriechischen Bibelhandschrift handeln musste. Wie er spĂ€ter bei nĂ€herer PrĂŒfung feststellte, gehörten diese BlĂ€tter zu einer der Ă€ltesten und fast vollstĂ€ndigen Bibelhandschrift aus dem 4. Jh. (spĂ€ter nach dem Fundort „Codex Sinaiticus“ genannt). Man kann sich vorstellen, wie sich das Forscherherz vor Aufregung fast ĂŒberschlug. Nach langen Verhandlungen ĂŒberließen ihm die Mönche schließlich 43 BlĂ€tter, wĂ€hrend sie die ĂŒbrigen 86 anderen BlĂ€tter in Verwahrung nahmen. Aber sie erlaubten ihm, die restlichen BlĂ€tter im Kloster noch abzuschreiben.

ÜberglĂŒcklich kehrte Tischendorf Ende 1844 von seiner erfolgreichen Reise nach Leipzig zurĂŒck. Zuvor musste er sich in Griechenland – wie alle Orientreisenden – noch einer 14-tĂ€gigen QuarantĂ€ne unterziehen, damit keine Krankheiten eingeschleppt wurden. Den Zwangsaufenthalt nutzte er zu Aufzeichnungen seiner Reiseabenteuer, die er dann in Buchform unter dem Titel „Reise in den Orient“ erscheinen ließ. Von Jerusalem aus hatte er schon in einem Brief an seinen Bruder angekĂŒndigt, ĂŒber Weihnachten seine Heimatstadt besuchen und am 1. Weihnachtsfeiertag in der Kirche die Predigt halten zu wollen.

Man kann sich lebhaft vorstellen, mit welcher Spannung der weitgereiste und inzwischen berĂŒhmt gewordene Sohn der Stadt erwartet wurde. Rundfunk und Fernsehen gab es damals zwar noch nicht. Aber in Zeitungen wurde ĂŒber seine weiten Reisen und Entdeckungen berichtet. Seine Weihnachtspredigt beeindruckte die Zuhörer so sehr, dass seine Freunde ihn baten, sie im Druck erscheinen zu lassen. Gern kam Tischendorf dieser Bitte nach. Heute ist die biblisch gut fundierte Weihnachtspredigt nachzulesen im Tischendorf–Lesebuch: „Bibelforschung in Reiseabenteuern“.[6]

Die als Geschenk mitgebrachten BlĂ€tter aus dem Sinaikloster ĂŒbergab er nach der Veröffentlichung der UniversitĂ€tsbibliothek in Leipzig. Woher dieser Fund stammte, verriet Tischendorf allerdings noch nicht. Er wollte nicht, dass sich Scharen von „Forschern“ zur Suche nach den ĂŒbrigen PergamentblĂ€ttern aufmachen, um das Kloster heimzusuchen, und ihm mit ihren Veröffentlichungen zuvorkommen. Denn schon vor ihm schrieb ein italienischer Naturforscher von diesem Codex und auch kurz nach seinem ersten Klosteraufenthalt hielt der russische Archimandrit Porfirij Unspenskij (1804–1885) die BlĂ€tter in seinen HĂ€nden, ohne jedoch – wie der italienische Forscher – ihre Bedeutung zu erkennen.

Die UniversitĂ€t in Leipzig hatte Tischendorf unterdessen eine außerordentliche Professur angetragen. 1859 wurde er dann ordentlicher Professor fĂŒr Theologie und Biblische PalĂ€ografie[7]. Seine Vorlesungen an der FakultĂ€t wurden nicht nur von den Studenten besucht. Auch viele wissbegierige Fachleute aus anderen Forschungsgebieten fanden sich ein. Selbst der spĂ€tere Nihilist und Philosoph Friedrich Nietzsche gehörte wĂ€hrend seines Leipziger Aufenthaltes zur interessierten Hörerschaft.

Weitere Orientreisen

1853 trat Tischendorf mit UnterstĂŒtzung der sĂ€chsischen Regierung eine zweite Reise zum Katharinenkloster auf dem Sinai an, leider erfolglos. Von den Mönchen konnte oder wollte keiner eine Auskunft ĂŒber die verbliebenen BlĂ€tter des Codex geben.

1859 brach er schließlich zu einer dritten Orientreise auf, die im Auftrag der russischen Regierung erfolgte. Er wollte nochmals nach den verschollenen BlĂ€ttern im Kloster suchen. Auch diesmal schien er keinen Erfolg zu haben. Keiner konnte ihm sagen, wo die restlichen BlĂ€tter geblieben waren. Dann, am Abend des 4. Februar machte ihn ein Verwalter des Klosters eher zufĂ€llig auf Pergamenthandschriften aufmerksam. Tischendorf verschlug es fast die Sprache! Was er da in die HĂ€nde bekam, waren nicht nur die gesuchten restlichen 86 BlĂ€tter des Codex, sondern weitere 260 BlĂ€tter, die das vollstĂ€ndige Neue Testament enthielten, geschrieben etwa im Jahr 350 n.Chr. „Ich hatte TrĂ€nen in den Augen, und das Herz war mir ergriffen wie noch nie“, schrieb er an seine Frau. Die Mönche wollten die BlĂ€tter natĂŒrlich nicht herausgeben. Doch wie sollte er diesen Schatz fĂŒr die Schriftforschung zugĂ€nglich machen?

Nach langen und mĂŒhseligen Verhandlungen einigte man sich, dass Tischendorf die BlĂ€tter nach Kairo mitnehmen durfte, um sie dort in einem Kloster des gleichen Ordens abzuschreiben. Eine anstrengende Arbeit! Allerdings halfen ihm dabei ein Arzt und ein Apotheker, die des Griechischen kundig waren und die er in Kairo kennengelernt hatte. Inzwischen Ă€nderte sich auch die Haltung der Mönche im Sinaikloster. Sie waren nun bereit, die BlĂ€tter dem russischen Zaren zu schenken. Das Kloster gehörte zu den orthodoxen Kirchen des Ostens und stand deshalb auch unter der Aufsicht des Zaren. Dieser hatte Tischendorfs dritte Reise mitfinanziert. Die Übergabe kam erst zehn Jahre danach zustande. Im Gegenzug erhielt das Kloster 9.000 Goldrubel.

In dieser Angelegenheit hat man Tischendorf immer wieder der Unlauterkeit bezichtigt, ja sogar behauptet, er habe den Codex gestohlen. Im Museum des Sinaiklosters findet der Besucher bis heute eine Tafel mit dieser Behauptung. Dies gilt aber inzwischen als widerlegt. Neuere Nachforschungen haben bewiesen, dass Tischendorf aufrichtig und ehrlich handelte. Im Rahmen des Forschungsprojektes sind in Moskau die alten Akten aus dem Zarenarchiv wieder aufgetaucht, darunter auch die Schenkungsurkunde des Klosters an den Zaren aus dem Jahr 1869 mit dem Stempel des Klosters und den Unterschriften der Mönche. Die Russen haben inzwischen auch die Schenkungsurkunde und weitere Dokumente im Zusammenhang mit der Erwerbsgeschichte des Codex Sinaiticus ins Internet gestellt, wo sich jeder davon ĂŒberzeugen kann.[8]

Allerdings verkaufte Stalin 1933 fast alle BlĂ€tter des Codex fĂŒr gut 100.000 Pfund an das Britische Museum in London, um an Devisen zu kommen. Dort konnte die Bevölkerung Londons wochenlang in SchaukĂ€sten den einmaligen Schatz sehen. Der deutsche Mitarbeiter am Codex-Sinai-Projekt, Prof. Christfried Böttrich aus Greifswald, hat in seinem neuesten Bericht zur Geschichte des Codex Sinaiticus in einer aufschlussreichen Dokumentation[9] klargestellt, dass Tischendorf nicht nur ein begnadeter Forscher, sondern auch ein Ehrenmann war, dem wir die Entdeckung dieser rund 1.700 Jahre alten Bibelhandschrift zu verdanken haben. Es ist verstĂ€ndlich, dass vom Kloster der Verlust dieser wertvollen Handschriften beklagt wurde. Inzwischen weiß man aber mit den anderen ebenfalls wertvollen Handschriften sorgsamer umzugehen und hat die BĂŒcher und EinzelstĂŒcke fachgerecht konserviert und in der Klosterbibliothek sicher untergebracht. WĂŒnschenswert ist allerdings, mit den falschen Anschuldigungen gegen Tischendorf aufzuhören und sich lieber der Aufarbeitung und Veröffentlichung des Codex Sinaiticus zuzuwenden.

Die Veröffentlichung des Codex Sinaiticus

Dieser wichtigen Aufgabe hat sich Tischendorf in den folgenden Jahren nach dem spektakulĂ€ren Fund voll und ganz gewidmet. Mit rastlosem Eifer und großer Gewissenhaftigkeit setzt er die begonnene Arbeit am neutestamentlichen Text fort. Er verglich die vorhandenen Handschriften und wertete sie aus. In zahlreichen VortrĂ€gen berichtete er ĂŒber seine Forschungsreisen und die zutage geförderten Funde. Er machte Leipzig zu einem Zentrum neutestamentlicher Forschung. 1859 hatte die UniversitĂ€t dafĂŒr eigens einen Lehrstuhl eingerichtet, der auch nach seinem Tod weiter besetzt wurde. 1862 erschien erstmals eine Prachtausgabe des Codex Sinaiticus.

Immer wieder arbeitete Tischendorf an neuen Auflagen des griechischen Neuen Testaments, um sie zu verbessern. Den Höhepunkt stellt zweifelsohne die berĂŒhmte „Editio octava critica maior“ von 1869-1872 dar. Dadurch konnte er den Text an ĂŒber 3.000 Stellen gegenĂŒber bisherigen Bibelausgaben verbessern. Sie gilt bis heute als Standardwerk der textkritischen Arbeit am Neuen Testament. Heute wird oft kritisiert, Tischendorf habe in seinen Veröffentlichungen den Codex Sinaiticus ĂŒberbewertet und dem bisherigen „Textus receptus“[10], wie er seit dem 16. und 17. Jh. vorlag und auch von Luther fĂŒr seine Übersetzung verwendet wurde, nicht den gebĂŒhrenden Rang eingerĂ€umt. Doch ist es ganz verstĂ€ndlich, wenn Tischendorf in seiner Entdeckerfreude der griechischen Ausgabe des Neuen Testaments den Codex Sinaiticus zugrunde legte. Dabei arbeitete er streng wissenschaftlich, indem er auch die Varianten anderer Handschriften im Apparat anfĂŒhrte, damit jeder selbst die Textzeugen bewerten und sich ein Urteil bilden konnte. Schon vor ihm erkannten einige Textforscher die SchwĂ€chen des „Textus receptus“, die Tischendorf mit seinen neuen Ausgaben korrigierte. Es ist darum ĂŒbertrieben, wenn heute biblizistische Kreise den „Textus receptus“ fĂŒr inspiriert halten und als einzige Grundlage fĂŒr Übersetzungen gelten lassen wollen. Die heutigen Ausgaben des griechischen Neuen Testaments[11] haben die Arbeiten Tischendorfs aufgenommen und weitergefĂŒhrt und bieten so einen zuverlĂ€ssigen Arbeitstext.

Textforschung oder Bibelkritik?

Die Textforschung oder Textkritik Tischendorfs darf nicht mit der „Bibelkritik“ verwechselt werden. Die Bibelkritik versteht die ĂŒberlieferten Texte der Bibel als Zeugnisse verschiedener Zeit- und Kulturepochen. Mit einer FĂŒlle von unterschiedlichen und oft sich widersprechenden Hypothesen will man den vermeintlich ursprĂŒnglichen Sinn eines Textes ergrĂŒnden. Diese „historisch–kritische Methode“ wurde in Folge der AufklĂ€rung von der sogenannten TĂŒbinger Schule unter Ferdinand Christian Baur (1792–1860) entwickelt und von vielen anderen Auslegern der Schrift aufgegriffen und weiterentwickelt (Literarkritik, Redaktionskritik, Überlieferungskritik, Formkritik und Traditionskritik). Trotz vieler WidersprĂŒche und subjektiver Urteile wird bis heute an dieser Methode festgehalten. Sie hat verheerende Auswirkungen in der Bibelauslegung und VerkĂŒndigung hinterlassen. Entscheidende Heilswahrheiten werden aufgrund fragwĂŒrdiger Theorien umgedeutet und die Grundlagen des christlichen Glaubens zerstört.

Tischendorf wendete sich zu seiner Zeit vor allem gegen den liberalen Theologen Adolf Hilgenfeld (1823–1907) aus Jena, der als Vertreter der TĂŒbinger Schule mit seiner „Literarkritik“ die Echtheit der Evangelien anzweifelte. Als Herausgeber der Zeitschrift fĂŒr wissenschaftliche Theologie veröffentlichte er mit anderen seine kritischen Theorien. Er konnte diese aber weder mit Zeugnissen der KirchenvĂ€ter noch durch andere Schriften belegen. Tischendorf hielt diese Vorgehensweise fĂŒr grundfalsch und sah sie im Widerspruch zu solider Textforschung. Er ging dagegen wissenschaftlich vor, indem er versuchte, dem Urtext so nah wie möglich zu kommen. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass viele alte Bibelhandschriften verloren gegangen sind, als vor allem auch wĂ€hrend der Christenverfolgungen Handschriften unwiederbringlich vernichtet wurden. Das Ă€nderte sich erst 313 n.Chr. unter Kaiser Konstantin. Deshalb spielt fĂŒr die Bewertung der Lesart eines Textes nicht nur die Anzahl der Handschriftenzeugen, sondern auch das Alter und ihre Überlieferung eine Rolle.

GrundsĂ€tzlich kann man feststellen, dass trotz aller Textvarianten, die oft nur Kleinigkeiten betreffen, der Inhalt der Bibel nicht in Frage gestellt werden konnte. Trotz der Masse auch noch spĂ€ter gefundener Handschriften ist es ganz unwahrscheinlich, dass selbst in EinzelfĂ€llen sinnverĂ€ndernde Korrekturen angebracht werden mĂŒssen. So wurde durch Tischendorfs textkritische Arbeiten die ZuverlĂ€ssigkeit der Überlieferung des Bibeltextes bestĂ€tigt.

Auf der Suche nach alten Bibeltexten stieß Tischendorf auch auf zahlreiche apokryphe Schriften, die er in Sammelwerken zugĂ€nglich machte. Unter seinen exegetischen Schriften gelangten vor allem zwei zu PopularitĂ€t: „Wann wurden unsere Evangelien verfasst?“ (1865) sowie „Die Echtheit unserer Evangelien“(1869).

Letzte Jahre im Gegenwind

Der Erfolg seiner großen Entdeckungen und Handschriftenforschungen brachte Tischendorf nicht nur Lob und Anerkennung ein, sondern rief auch manchen Gegner und Kritiker auf den Plan, der ihm den Ruhm streitig machen wollte. Dazu gehörte der schon erwĂ€hnte russische Orientexperte Porfirij Uspenskij. Er war selbst mehrfach in den Orient gereist und hatte das Kloster auf dem Sinai besucht. Dabei hielt er auch die 346 BlĂ€tter des Codex noch vor Tischendorf in den HĂ€nden. Allerdings erkannte er ihren Wert nicht. Erst als der „lutherische Professor“ 1862 mit seinen BlĂ€ttern am russischen Zarenhof erschien und auf deren einmaligen Wert hinwies, reklamierte der orthodoxe Uspenskij den Ruhm der Entdeckung fĂŒr sich. Schließlich versuchte er, in einer BroschĂŒre die RechtglĂ€ubigkeit des Codex Sinaiticus in Frage zu stellen, um eine Veröffentlichung durch Tischendorf zu verhindern. Dies gelang ihm allerdings nicht. Diese offenkundig falsche Behauptung wurde vom russischen Bildungsminister und Gelehrten Avraam Norov schriftlich widerlegt. Auch spĂ€ter ist Tischendorf auf die falsche Behauptung eingegangen. So blieb das VerhĂ€ltnis beider Forscher recht angespannt.

Aus England meldete sich der Grieche Constantin Simonides zu Wort und behauptete, er selbst habe den von Tischendorf entdeckten Codex Sinaiticus in einem Kloster auf dem Berge  Athos geschrieben und dabei verschiedene Vorlagen benutzt. Tischendorf entlarvte diese Behauptung als offenkundige LĂŒge. Man kann sich aber vorstellen, dass solche dreisten LĂŒgen gern aufgegriffen und auch von der Presse verbreitet worden sind, da sie fĂŒr Schlagzeilen sorgten. Übrigens sorgte Constantin Simonides auch in anderen FĂ€llen durch FĂ€lschungen fĂŒr Aufregung in der wissenschaftlichen Welt. Er ist darum als grĂ¶ĂŸter FĂ€lscher des 19. Jahrhunderts in die Geschichte eingegangen.

Tischendorfs letzte Jahre wurden durch einen persönlichen Konflikt ĂŒberschattet. Im Sommer 1871 nahm er an einer Abordnung der Evangelischen Allianz nach Russland teil, um sich bei Zar Alexander II. fĂŒr bedrĂ€ngte Lutheraner in den russischen Ostprovinzen einzusetzen. Leider blieb dieses Unternehmen erfolglos. In einer Veröffentlichung wurde Tischendorf fĂŒr das Scheitern der Mission verantwortlich gemacht. Mit einer Gegendarstellung wehrte sich Tischendorf dagegen, was zu weiteren Auseinandersetzungen fĂŒhrte. Zuletzt konnte Tischendorf aus gesundheitlichen GrĂŒnden darauf nicht mehr selbst antworten, so dass der Streit ungeklĂ€rt blieb.

Ein Schlaganfall fesselte ihn im Sommer 1873 ans Krankenbett. Am 7. Dezember 1874 starb Tischendorf, wenige Wochen vor seinem 60. Geburtstag. Unter großer Anteilnahme wurde er auf dem Johannisfriedhof in Leipzig beigesetzt. Es liegt ein ausfĂŒhrlicher Bericht darĂŒber gedruckt vor.[12]

Alle  Auseinandersetzungen und Anfeindungen können jedoch Tischendorfs Ruhm und Verdienste nicht schmĂ€lern. Im Gegenteil, mit großem Eifer und Fleiß hat er sich an die Erforschung alter Bibeltexte gemacht und dabei weder MĂŒhen noch Strapazen gescheut. Der Fund des Codex Sinaiticus im Katharinenkloster und seine Veröffentlichung bleibt mit seinem Namen verbunden. Mit großem Sachverstand ging er dabei vor. In der Beurteilung von Bibelhandschriften hat er neue MaßstĂ€be gesetzt. Mit einer Ausstellung der UniversitĂ€tsbibliothek Leipzig in der ehrwĂŒrdigen Bibliotheca Albertina im Jahr 2011 wurde an die Lebensleistung Tischendorfs als eines der bedeutendsten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts erinnert.[13]

Literatur: Neben der schon angefĂŒhrten Literatur bin ich fĂŒr BeitrĂ€ge und Zuarbeit von Alexander Schick (Sylt/www.bibelausstellung.de) und Friedrich Machold aus Lengenfeld dankbar.

Hans-Wolf Baumann

(Der Verfasser war 1970-2008 Pfarrer der Ev.-Luth. Freikirche in Hartenstein und 1989-2007 Dozent fĂŒr Altes Testament am Luth. Theol. Seminar Leipzig. Er stammt aus Lengenfeld/V. und lebt dort im Ruhestand)

Quelle: Theol. Handreichung und Information 2015/1

Neuerscheinung: Alexander Schick, Tischendorf und die Ă€lteste Bibel der Welt – Die Entdeckung des Codex Sinaiticus im Katharinenkloster, Jota-Publikationen, ISBN: 9783935707800, 19,95 Euro.

schick_tischendorf

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[1] Codex = ursprĂŒnglich ein Gesetzbuch, spĂ€ter allgemein fĂŒr „alte Handschrift“.

[2] Dr. Alfred Lindner hat ĂŒber Tischendorfs Abstammung und seine Familie einen ausfĂŒhrlichen Beitrag in der Mitteilung des Roland Dresden geschrieben (Verein zur Förderung der Stamm-, Wappen- und Siegelkunde e.V. und der SĂ€chs. Stiftung fĂŒr Familienforschung 12, 1927, S. 71-77).

[3] Dieser Brief befindet sich mit einer Transkription in der Handschriftensammlung des Stadtarchivs von Plauen.

[4] Palimpsest = eine abradierte und wieder beschriebene Handschrift.

[5] Aus der Feder des syrischen Kirchenvaters Ephraem (306-373).

[6] Herausgegeben von Christfried Böttrich, Leipzig EVA 1999.

[7] PalĂ€ografie = Lehre von den alten Schriften und BĂŒchern.

[8]www.nlr.ru/eng/exib/CodexSinaiticus/zah/

[9] Chr. Böttrich, Der Jahrhundertfund, Entdeckung und Geschichte des Codex Sinaiticus, Leipzig EVA 2011.

[10] Textus receptus = der allgemein anerkannte Text.

[11] Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 28. Auflage.

[12] Am Sarge und Grabe des Dr. th .Constantin von Tischendorf, gestorben am 7., bestattet am 10. Dec. 1874, FĂŒnf Reden und Ansprachen, nebst einem RĂŒckblick auf das Leben und einem Verzeichnis sĂ€mtlicher Druckwerke des Verstorbenen, Leipzig 1875.

[13] Im Internet unter: http://www.ub.uni-leipzig.de/tischendorf/thema.html

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 11. MĂ€rz 2015 um 9:51 und abgelegt unter Theologie.