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Constantin von Tischendorf und der Codex Sinaiticus

Zum 200. Geburtstag von Constantin von Tischendorf

2015 begehen wir den 200. Geburtstag (18. Januar) eines Forschers und Wissenschaftlers, der weit über die Grenzen seines Landes bekannt geworden ist: Constantin von Tischendorf. Seine Geburtsstadt, Lengenfeld im sächsischen Vogtland, erinnert mit einem „Tischendorfplatz“ und einer „Tischendorfstraße“ an den berühmten Sohn der Stadt. Sein Geburtshaus, das einst in der Bachaue nahe der heutigen Tischendorfstraße stand, ist 1859 durch einen Brand in Schutt und Asche gelegt worden.

Nach einem Kirchenbucheintrag wurde Tischendorf in der Stadtkirche zu Lengenfeld durch Pfarrer Johann Gottlieb Böhm getauft. Taufpate war Christian Tille, der seit 1812 als zweiter Pfarrer in Lengenfeld amtierte. Bei dem großen Stadtbrand von Lengenfeld 1856 wurde der gesamte mittelalterliche Stadtkern mit Kirche, Schule und Gerichtsgebäude (das ehemalige Rathaus) vollkommen zerstört. Die Kirche, wie sie heute steht, wurde 1864 am gleichen Ort wieder errichtet. Das  später neu erbaute Gemeindehaus neben der Stadtkirche trägt über dem Eingangsportal deutlich lesbar die Inschrift: „Dem Andenken Constantin von Tischendorfs“. Im Aufgang zum großen Saal erinnert die Besucher ein Bild an den berühmten Mann, dem dieses Haus gewidmet ist. Zur Einweihung des Tischendorfhauses am 1. Juli 1928 hielt Pfarrer Dr. theol. Ludwig Schneller (Köln), ein Schwiegersohn Tischendorfs, den Festgottesdienst. Auch eine Enkeltochter Tischendorfs, Frau Dr. Elisabeth Behrend (Hannover), war zugegen. In Leipzig hat man am Haus in der Eisenbahnstraße Nr. 8, wo Tischendorf mit seiner Familie von 1863 bis zu seinem Tode 1874 wohnte, eine kleine Gedenktafel angebracht (auch wenn der Straßenverlauf heute nicht mehr den Gegebenheiten des 19. Jh. entspricht). Sein Grab auf dem Leipziger Johannisfriedhof, wo auch viele andere berühmte Leute begraben sind, wurde in den 70er Jahren wegen einer geplanten Neubebauung beseitigt. Der Grabstein und die Grabplatte konnten damals durch Lengenfelder Bürger gerettet und neu neben dem Eingang (linke Seite) der Lengenfelder Friedhofskapelle aufgestellt werden. An der Außenwand rechts neben dem Eingang befindet sich auch die Grabplatte von Tischendorfs Eltern.

Bedeutung Tischendorfs

Was hat Tischendorf so berühmt gemacht? Warum erinnern wir uns heute noch an ihn? Was verbindet sich mit seinem Namen?

Tischendorf hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, alte Bibelhandschriften zu vergleichen, um einen möglichst genauen und ursprünglichen Text zu gewinnen. Vor allem wollte er die Bibelkritiker seiner Zeit widerlegen. Diese Aufgabe hat er meisterhaft erfüllt. Viele Bibliotheken in Deutschland und Europa suchte er auf, um alte Handschriften zu finden und zu prüfen. Selbst weite und gefährliche Reisen in den Orient scheute er dabei nicht, weil er wusste, dort schlummern an abgelegenen und unbekannten Orten noch Schriften aus frühchristlichen Jahrhunderten. Bei dieser Suche stieß er in einem alten Kloster auf der Sinai-Halbinsel auf eine der ältesten Bibelabschriften, die fast das gesamte Alte Testament und das vollständige Neue Testament in Griechisch enthält. Nach ihrem Fundort erhielten diese auf Pergament geschriebenen Blätter den Namen „Codex Sinaiticus“.[1] [1] Die Blätter wurden von Tischendorf in mühevoller Kleinarbeit abgeschrieben, zur sicheren Aufbewahrung dann sogar mitgenommen und liegen heute gut bewacht in Bibliotheken von Leipzig, London, Petersburg und auch im Katharinenkloster (Sinai). In den letzten Jahren konnten sie durch die Zusammenarbeit von Fachleuten mit großem finanziellen Aufwand digitalisiert und im Internet weltweit zugänglich gemacht werden (www.codex-sinaiticus.net [2]).

Schon zu Lebzeiten wurde Tischendorf berühmt und geehrt. Für seine Verdienste erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, Medaillen, Orden und von verschiedenen Universitäten den Ehrendoktor, ja, er wurde sogar in den Adelsstand erhoben. Die Leipziger Universität, an der er einst mit seinem Theologie- und Sprachenstudium begann und die seine Berufung zum Professor wegen angeblich unzureichender Sprachkenntnisse zunächst ablehnte, bezeichnete ihn später als ihren würdigsten Lehrer. In Fachzeitschriften und Zeitungen wurde er als Forschungsreisender und Entdecker wertvoller Handschriften gefeiert. Mit zahlreichen Gelehrten und Forschern seiner Zeit stand er in Kontakt, etwa mit dem Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859). Auch der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861), der während seiner Regierungszeit (1840–1861) die Verfolgung der Altlutheraner beendete und die lutherischen Pfarrer aus der Haft entließ, nahm an Tischendorfs Reisen regen Anteil. Er soll gesagt haben: „Wo Tischendorf hinkommt, da findet er auch etwas.“

Das Familienwappen, das im Zusammenhang mit der Adelsverleihung 1869 durch den russischen Zaren Alexander II. (1818–1881) entstand, weist sehr anschaulich auf Tischendorfs Herkunft und Lebenswerk hin. Im oberen Teil zeigt es einen Köhler mit Schürbaum. Mütterlicherseits soll die Familie von jenem Köhler abstammen, der nach dem Prinzenraub durch Kunz von Kaufungen (1455 in Altenburg) bei der Befreiung des Prinzen Albrecht in der Gegend von Grünhain–Elterlein eine Rolle spielte. Im unteren Teil ist eine aufgeschlagene Bibel mit den griechischen Buchstaben für Alpha und Omega zu sehen, den ersten und letzten Buchstaben des griechischen Alphabets. Das erinnert auch an Jesu Wort aus der Offenbarung des Johannes: „Ich bin das A und das O, der Anfang und  Ende, der Erste und der Letzte“ (Offb 22,13).

Herkunft und Ausbildung

Am 18. Januar 1815 wurde Tischendorf als neuntes von elf Kindern in Lengenfeld geboren. Die vollständigen Vornamen lauten Lobegott Friedrich Constantin. Seine Mutter Christiane Eleonore Thomas, geboren 1777 in Lengenfeld und 1836 in Lengenfeld verstorben, war seit 1800 mit dem Gerichtsarzt Dr. med. Johann Christlieb Tischendorf (1772–1835) verheiratet. Der Vater stammt aus einem alten Greizer Papiermachergeschlecht.[2] [3] Sechs seiner Geschwister starben noch im Kindesalter. Ein besonders enges Verhältnis verband Constantin zeitlebens mit seinem zehn Jahre älteren Bruder Julius Valentin, der als Gerichtsarzt die Nachfolge des Vaters in Lengenfeld antrat.

Die ersten Jahre besuchte der begabte Junge die Bürgerschule seiner Heimatstadt. Nach seiner Konfirmation bezog er von 1829 bis 1834 das Gymnasium in Plauen. Die Schule wurde unter ihrem neuen Rektor und Konrektor reformiert und genoss dadurch einen guten Ruf, der sich durch wachsende Schülerzahlen bemerkbar machte. Hier wurde die schöpferische Tätigkeit der Schüler geweckt und die sprachliche Begabung Tischendorfs gefördert. Jedes Schuljahr schloss er als Klassenprimus ab und wurde dafür belobigt. Seine Abiturientenrede lässt auch seine dichterische Begabung erkennen. Später veröffentlichte er dann in einem kleinen Bändchen Gedichte und ein weiteres Büchlein mit dem Titel: „Der junge Mystiker oder Die drei Festzeiten aus seinem Leben“. Mit den Lehrern des Gymnasiums blieb er auch später „innig“ verbunden, wie es in einem Brief heißt, den er während seiner ersten Orientreise im Juli 1844 aus Jerusalem an seinen ehemaligen Rektor Johann Gottlieb Dölling schrieb. In seinen Grüßen „aus den Mauern Jerusalems“ denkt er gern an die Schule in Plauen zurück, wo er sich einst in väterlicher Obhut befand.[3] [4]

Zu Ostern 1834 schrieb sich Tischendorf an der Universität in Leipzig ein und studierte Theologie und Philologie. 1838 schloss er sein Studium ab und promovierte zum Doktor der Philologie. Wie damals oft üblich trat er keine Pfarrstelle an, sondern übernahm die Stelle eines Hauslehrers bei Pfarrer Ferdinand Leberecht Zehme (1789 –1858) in Großstädteln bei Leipzig. Hier verliebte er sich in die Pfarrerstochter Angelika Zehme und verlobte sich mit ihr heimlich. Erst nach der Rückkehr von der ersten Orientreise heirateten sie im September 1845 und gründeten in Leipzig eine Familie. Den Eheleuten wurden acht Kinder geschenkt. Da Tischendorf auch künstlerische Fähigkeiten besaß, pflegte er in seinen Leipziger Jahren auch rege Kontakte mit den berühmten Komponisten Felix Mendelssohn–Bartholdy und Robert Schumann. Tischendorf und Mendelssohn waren in Leipzig unmittelbare Nachbarn. Er arbeitete an Zeitschriften mit, die von den Komponisten herausgegeben wurden.

Auf der Suche nach Handschriften

1839/40 (also schon mit 24 Jahren!) machte sich Tischendorf auf die erste Suche nach alten Handschriften der Bibel. Sie führte ihn in Bibliotheken nach Süddeutschland, in die Schweiz und nach Straßburg. Als Ergebnis dieser Studienreise gab er das Neue Testament in Griechisch nach neuen methodischen Grundsätzen bearbeitet heraus. Die Universität Breslau verlieh ihm daraufhin die Ehrendoktorwürde. Mit einer weiteren Arbeit zum Text des Neuen Testaments leistete er seinen wissenschaftlichen Nachweis zur Lehrbefähigung (Habilitation). Daraufhin erhielt er 1840 an der Theologischen Fakultät der Universität in Leipzig eine Anstellung als Privatdozent. Weil inzwischen andere Universitäten auf ihn aufmerksam wurden, berief man ihn schließlich zum außerordentlichen Professor für Theologie, um diesen inzwischen berühmt gewordenen Lehrer an Leipzig zu binden.

Im Herbst 1840 erforschte er dann in Paris den „Codex Ephraemi Rescriptus“, der als unlesbar galt. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Palimpsest[4] [5], d.h. eine Pergamenthandschrift aus dem 5. Jh., die im 12. Jh. mit einem neuen Text[5] [6] überschrieben wurde, um mit dem teuren Schreibmaterial sparsam umzugehen. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es damals war, diese Aufgabe ohne die uns heute zur Verfügung stehenden Hilfsmittel zu erfüllen. Vor Tischendorf hatten sich daran schon andere vergeblich versucht. Nachdem ein Kollege der Universität, Professor Florenz Fleck, den Kodex mit einer Chemikalie behandeln ließ, gelang es Tischendorf unter großen Mühen, diesen Text zu entziffern. In den Jahren 1843 und 1845 wurden die 64 Blätter mit Texten des Alten Testaments und 145 Blätter aus dem Neuen Testament erstmals durch Tischendorf veröffentlicht. Man kann sich vorstellen, dass man diese Leistung zu schätzen wusste und von verschiedenen Seiten weitere Gelder für seine Forschungsarbeiten zur Verfügung gestellt wurden, ohne die es auch damals nicht ging.

Von Paris aus reiste er weiter nach England, in die Schweiz und Italien. In Rom interessierte er sich besonders für den Codex Vaticanus, der bis heute zu den ältesten und bedeutendsten Handschriften aus der ersten Hälfte des 4. Jh. zählt und in der Vatikanischen Bibliothek unter Verschluss gehalten wurde. Tischendorf erhielt hier nur begrenzt Zugang.

Erste Orientreise

Im März 1844 setzte Tischendorf mit dem Schiff von Livorno (Hafenstadt an der Mündung des Arno, etwa 20 km südwestlich von Pisa) aus nach Alexandrien über und forschte in Bibliotheken von Ägypten nach alten Handschriften. Da erhielt er einen Hinweis auf das „Katharinenkloster“ auf der Halbinsel Sinai. Es ist eines der ältesten Klöster und wurde schon im 6. Jahrhundert nach Christus am Fuße des Moseberges erbaut, dort, wo einst Gott mit Mose aus dem brennenden Dornbusch geredet haben soll (2Mose 3). Dieses Kloster wurde nie zerstört und beherbergt viele Schätze in Form von kostbaren Ikonen und urchristlichen Schriften.

Tischendorf machte sich umgehend mit einer kleinen Karawane auf den Weg durch die unwegsame Felsenlandschaft und erreichte endlich dieses Kloster. Hohe Mauern schützen das Kloster vor ungebetenen Gästen. Die Besucher konnten damals nur in einem Korb über die Klostermauer gezogen werden. Tischendorf stöberte dort in der Bibliothek, wo viele alte Schriftstücke und Handschriften mit Texten der Bibel und von verschiedenen Kirchenvätern ungeordnet aufbewahrt wurden. Die Mönche waren zwar fromm, aber recht ungebildet und nicht daran interessiert, die zahlreichen Manuskripte zu lesen und zu ordnen.

In einer Ecke der Klosterbibliothek entdeckte Tischendorf zufällig einige beschriebene Pergamentblätter in einem Papierkorb. Der Gelehrte zog das Bündel heraus und erkannte sofort, dass es sich bei diesen Pergamentblättern um Teile einer altgriechischen Bibelhandschrift handeln musste. Wie er später bei näherer Prüfung feststellte, gehörten diese Blätter zu einer der ältesten und fast vollständigen Bibelhandschrift aus dem 4. Jh. (später nach dem Fundort „Codex Sinaiticus“ genannt). Man kann sich vorstellen, wie sich das Forscherherz vor Aufregung fast überschlug. Nach langen Verhandlungen überließen ihm die Mönche schließlich 43 Blätter, während sie die übrigen 86 anderen Blätter in Verwahrung nahmen. Aber sie erlaubten ihm, die restlichen Blätter im Kloster noch abzuschreiben.

Überglücklich kehrte Tischendorf Ende 1844 von seiner erfolgreichen Reise nach Leipzig zurück. Zuvor musste er sich in Griechenland – wie alle Orientreisenden – noch einer 14-tägigen Quarantäne unterziehen, damit keine Krankheiten eingeschleppt wurden. Den Zwangsaufenthalt nutzte er zu Aufzeichnungen seiner Reiseabenteuer, die er dann in Buchform unter dem Titel „Reise in den Orient“ erscheinen ließ. Von Jerusalem aus hatte er schon in einem Brief an seinen Bruder angekündigt, über Weihnachten seine Heimatstadt besuchen und am 1. Weihnachtsfeiertag in der Kirche die Predigt halten zu wollen.

Man kann sich lebhaft vorstellen, mit welcher Spannung der weitgereiste und inzwischen berühmt gewordene Sohn der Stadt erwartet wurde. Rundfunk und Fernsehen gab es damals zwar noch nicht. Aber in Zeitungen wurde über seine weiten Reisen und Entdeckungen berichtet. Seine Weihnachtspredigt beeindruckte die Zuhörer so sehr, dass seine Freunde ihn baten, sie im Druck erscheinen zu lassen. Gern kam Tischendorf dieser Bitte nach. Heute ist die biblisch gut fundierte Weihnachtspredigt nachzulesen im Tischendorf–Lesebuch: „Bibelforschung in Reiseabenteuern“.[6] [7]

Die als Geschenk mitgebrachten Blätter aus dem Sinaikloster übergab er nach der Veröffentlichung der Universitätsbibliothek in Leipzig. Woher dieser Fund stammte, verriet Tischendorf allerdings noch nicht. Er wollte nicht, dass sich Scharen von „Forschern“ zur Suche nach den übrigen Pergamentblättern aufmachen, um das Kloster heimzusuchen, und ihm mit ihren Veröffentlichungen zuvorkommen. Denn schon vor ihm schrieb ein italienischer Naturforscher von diesem Codex und auch kurz nach seinem ersten Klosteraufenthalt hielt der russische Archimandrit Porfirij Unspenskij (1804–1885) die Blätter in seinen Händen, ohne jedoch – wie der italienische Forscher – ihre Bedeutung zu erkennen.

Die Universität in Leipzig hatte Tischendorf unterdessen eine außerordentliche Professur angetragen. 1859 wurde er dann ordentlicher Professor für Theologie und Biblische Paläografie[7] [8]. Seine Vorlesungen an der Fakultät wurden nicht nur von den Studenten besucht. Auch viele wissbegierige Fachleute aus anderen Forschungsgebieten fanden sich ein. Selbst der spätere Nihilist und Philosoph Friedrich Nietzsche gehörte während seines Leipziger Aufenthaltes zur interessierten Hörerschaft.

Weitere Orientreisen

1853 trat Tischendorf mit Unterstützung der sächsischen Regierung eine zweite Reise zum Katharinenkloster auf dem Sinai an, leider erfolglos. Von den Mönchen konnte oder wollte keiner eine Auskunft über die verbliebenen Blätter des Codex geben.

1859 brach er schließlich zu einer dritten Orientreise auf, die im Auftrag der russischen Regierung erfolgte. Er wollte nochmals nach den verschollenen Blättern im Kloster suchen. Auch diesmal schien er keinen Erfolg zu haben. Keiner konnte ihm sagen, wo die restlichen Blätter geblieben waren. Dann, am Abend des 4. Februar machte ihn ein Verwalter des Klosters eher zufällig auf Pergamenthandschriften aufmerksam. Tischendorf verschlug es fast die Sprache! Was er da in die Hände bekam, waren nicht nur die gesuchten restlichen 86 Blätter des Codex, sondern weitere 260 Blätter, die das vollständige Neue Testament enthielten, geschrieben etwa im Jahr 350 n.Chr. „Ich hatte Tränen in den Augen, und das Herz war mir ergriffen wie noch nie“, schrieb er an seine Frau. Die Mönche wollten die Blätter natürlich nicht herausgeben. Doch wie sollte er diesen Schatz für die Schriftforschung zugänglich machen?

Nach langen und mühseligen Verhandlungen einigte man sich, dass Tischendorf die Blätter nach Kairo mitnehmen durfte, um sie dort in einem Kloster des gleichen Ordens abzuschreiben. Eine anstrengende Arbeit! Allerdings halfen ihm dabei ein Arzt und ein Apotheker, die des Griechischen kundig waren und die er in Kairo kennengelernt hatte. Inzwischen änderte sich auch die Haltung der Mönche im Sinaikloster. Sie waren nun bereit, die Blätter dem russischen Zaren zu schenken. Das Kloster gehörte zu den orthodoxen Kirchen des Ostens und stand deshalb auch unter der Aufsicht des Zaren. Dieser hatte Tischendorfs dritte Reise mitfinanziert. Die Übergabe kam erst zehn Jahre danach zustande. Im Gegenzug erhielt das Kloster 9.000 Goldrubel.

In dieser Angelegenheit hat man Tischendorf immer wieder der Unlauterkeit bezichtigt, ja sogar behauptet, er habe den Codex gestohlen. Im Museum des Sinaiklosters findet der Besucher bis heute eine Tafel mit dieser Behauptung. Dies gilt aber inzwischen als widerlegt. Neuere Nachforschungen haben bewiesen, dass Tischendorf aufrichtig und ehrlich handelte. Im Rahmen des Forschungsprojektes sind in Moskau die alten Akten aus dem Zarenarchiv wieder aufgetaucht, darunter auch die Schenkungsurkunde des Klosters an den Zaren aus dem Jahr 1869 mit dem Stempel des Klosters und den Unterschriften der Mönche. Die Russen haben inzwischen auch die Schenkungsurkunde und weitere Dokumente im Zusammenhang mit der Erwerbsgeschichte des Codex Sinaiticus ins Internet gestellt, wo sich jeder davon überzeugen kann.[8] [9]

Allerdings verkaufte Stalin 1933 fast alle Blätter des Codex für gut 100.000 Pfund an das Britische Museum in London, um an Devisen zu kommen. Dort konnte die Bevölkerung Londons wochenlang in Schaukästen den einmaligen Schatz sehen. Der deutsche Mitarbeiter am Codex-Sinai-Projekt, Prof. Christfried Böttrich aus Greifswald, hat in seinem neuesten Bericht zur Geschichte des Codex Sinaiticus in einer aufschlussreichen Dokumentation[9] [10] klargestellt, dass Tischendorf nicht nur ein begnadeter Forscher, sondern auch ein Ehrenmann war, dem wir die Entdeckung dieser rund 1.700 Jahre alten Bibelhandschrift zu verdanken haben. Es ist verständlich, dass vom Kloster der Verlust dieser wertvollen Handschriften beklagt wurde. Inzwischen weiß man aber mit den anderen ebenfalls wertvollen Handschriften sorgsamer umzugehen und hat die Bücher und Einzelstücke fachgerecht konserviert und in der Klosterbibliothek sicher untergebracht. Wünschenswert ist allerdings, mit den falschen Anschuldigungen gegen Tischendorf aufzuhören und sich lieber der Aufarbeitung und Veröffentlichung des Codex Sinaiticus zuzuwenden.

Die Veröffentlichung des Codex Sinaiticus

Dieser wichtigen Aufgabe hat sich Tischendorf in den folgenden Jahren nach dem spektakulären Fund voll und ganz gewidmet. Mit rastlosem Eifer und großer Gewissenhaftigkeit setzt er die begonnene Arbeit am neutestamentlichen Text fort. Er verglich die vorhandenen Handschriften und wertete sie aus. In zahlreichen Vorträgen berichtete er über seine Forschungsreisen und die zutage geförderten Funde. Er machte Leipzig zu einem Zentrum neutestamentlicher Forschung. 1859 hatte die Universität dafür eigens einen Lehrstuhl eingerichtet, der auch nach seinem Tod weiter besetzt wurde. 1862 erschien erstmals eine Prachtausgabe des Codex Sinaiticus.

Immer wieder arbeitete Tischendorf an neuen Auflagen des griechischen Neuen Testaments, um sie zu verbessern. Den Höhepunkt stellt zweifelsohne die berühmte „Editio octava critica maior“ von 1869-1872 dar. Dadurch konnte er den Text an über 3.000 Stellen gegenüber bisherigen Bibelausgaben verbessern. Sie gilt bis heute als Standardwerk der textkritischen Arbeit am Neuen Testament. Heute wird oft kritisiert, Tischendorf habe in seinen Veröffentlichungen den Codex Sinaiticus überbewertet und dem bisherigen „Textus receptus“[10] [11], wie er seit dem 16. und 17. Jh. vorlag und auch von Luther für seine Übersetzung verwendet wurde, nicht den gebührenden Rang eingeräumt. Doch ist es ganz verständlich, wenn Tischendorf in seiner Entdeckerfreude der griechischen Ausgabe des Neuen Testaments den Codex Sinaiticus zugrunde legte. Dabei arbeitete er streng wissenschaftlich, indem er auch die Varianten anderer Handschriften im Apparat anführte, damit jeder selbst die Textzeugen bewerten und sich ein Urteil bilden konnte. Schon vor ihm erkannten einige Textforscher die Schwächen des „Textus receptus“, die Tischendorf mit seinen neuen Ausgaben korrigierte. Es ist darum übertrieben, wenn heute biblizistische Kreise den „Textus receptus“ für inspiriert halten und als einzige Grundlage für Übersetzungen gelten lassen wollen. Die heutigen Ausgaben des griechischen Neuen Testaments[11] [12] haben die Arbeiten Tischendorfs aufgenommen und weitergeführt und bieten so einen zuverlässigen Arbeitstext.

Textforschung oder Bibelkritik?

Die Textforschung oder Textkritik Tischendorfs darf nicht mit der „Bibelkritik“ verwechselt werden. Die Bibelkritik versteht die überlieferten Texte der Bibel als Zeugnisse verschiedener Zeit- und Kulturepochen. Mit einer Fülle von unterschiedlichen und oft sich widersprechenden Hypothesen will man den vermeintlich ursprünglichen Sinn eines Textes ergründen. Diese „historisch–kritische Methode“ wurde in Folge der Aufklärung von der sogenannten Tübinger Schule unter Ferdinand Christian Baur (1792–1860) entwickelt und von vielen anderen Auslegern der Schrift aufgegriffen und weiterentwickelt (Literarkritik, Redaktionskritik, Überlieferungskritik, Formkritik und Traditionskritik). Trotz vieler Widersprüche und subjektiver Urteile wird bis heute an dieser Methode festgehalten. Sie hat verheerende Auswirkungen in der Bibelauslegung und Verkündigung hinterlassen. Entscheidende Heilswahrheiten werden aufgrund fragwürdiger Theorien umgedeutet und die Grundlagen des christlichen Glaubens zerstört.

Tischendorf wendete sich zu seiner Zeit vor allem gegen den liberalen Theologen Adolf Hilgenfeld (1823–1907) aus Jena, der als Vertreter der Tübinger Schule mit seiner „Literarkritik“ die Echtheit der Evangelien anzweifelte. Als Herausgeber der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie veröffentlichte er mit anderen seine kritischen Theorien. Er konnte diese aber weder mit Zeugnissen der Kirchenväter noch durch andere Schriften belegen. Tischendorf hielt diese Vorgehensweise für grundfalsch und sah sie im Widerspruch zu solider Textforschung. Er ging dagegen wissenschaftlich vor, indem er versuchte, dem Urtext so nah wie möglich zu kommen. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass viele alte Bibelhandschriften verloren gegangen sind, als vor allem auch während der Christenverfolgungen Handschriften unwiederbringlich vernichtet wurden. Das änderte sich erst 313 n.Chr. unter Kaiser Konstantin. Deshalb spielt für die Bewertung der Lesart eines Textes nicht nur die Anzahl der Handschriftenzeugen, sondern auch das Alter und ihre Überlieferung eine Rolle.

Grundsätzlich kann man feststellen, dass trotz aller Textvarianten, die oft nur Kleinigkeiten betreffen, der Inhalt der Bibel nicht in Frage gestellt werden konnte. Trotz der Masse auch noch später gefundener Handschriften ist es ganz unwahrscheinlich, dass selbst in Einzelfällen sinnverändernde Korrekturen angebracht werden müssen. So wurde durch Tischendorfs textkritische Arbeiten die Zuverlässigkeit der Überlieferung des Bibeltextes bestätigt.

Auf der Suche nach alten Bibeltexten stieß Tischendorf auch auf zahlreiche apokryphe Schriften, die er in Sammelwerken zugänglich machte. Unter seinen exegetischen Schriften gelangten vor allem zwei zu Popularität: „Wann wurden unsere Evangelien verfasst?“ (1865) sowie „Die Echtheit unserer Evangelien“(1869).

Letzte Jahre im Gegenwind

Der Erfolg seiner großen Entdeckungen und Handschriftenforschungen brachte Tischendorf nicht nur Lob und Anerkennung ein, sondern rief auch manchen Gegner und Kritiker auf den Plan, der ihm den Ruhm streitig machen wollte. Dazu gehörte der schon erwähnte russische Orientexperte Porfirij Uspenskij. Er war selbst mehrfach in den Orient gereist und hatte das Kloster auf dem Sinai besucht. Dabei hielt er auch die 346 Blätter des Codex noch vor Tischendorf in den Händen. Allerdings erkannte er ihren Wert nicht. Erst als der „lutherische Professor“ 1862 mit seinen Blättern am russischen Zarenhof erschien und auf deren einmaligen Wert hinwies, reklamierte der orthodoxe Uspenskij den Ruhm der Entdeckung für sich. Schließlich versuchte er, in einer Broschüre die Rechtgläubigkeit des Codex Sinaiticus in Frage zu stellen, um eine Veröffentlichung durch Tischendorf zu verhindern. Dies gelang ihm allerdings nicht. Diese offenkundig falsche Behauptung wurde vom russischen Bildungsminister und Gelehrten Avraam Norov schriftlich widerlegt. Auch später ist Tischendorf auf die falsche Behauptung eingegangen. So blieb das Verhältnis beider Forscher recht angespannt.

Aus England meldete sich der Grieche Constantin Simonides zu Wort und behauptete, er selbst habe den von Tischendorf entdeckten Codex Sinaiticus in einem Kloster auf dem Berge  Athos geschrieben und dabei verschiedene Vorlagen benutzt. Tischendorf entlarvte diese Behauptung als offenkundige Lüge. Man kann sich aber vorstellen, dass solche dreisten Lügen gern aufgegriffen und auch von der Presse verbreitet worden sind, da sie für Schlagzeilen sorgten. Übrigens sorgte Constantin Simonides auch in anderen Fällen durch Fälschungen für Aufregung in der wissenschaftlichen Welt. Er ist darum als größter Fälscher des 19. Jahrhunderts in die Geschichte eingegangen.

Tischendorfs letzte Jahre wurden durch einen persönlichen Konflikt überschattet. Im Sommer 1871 nahm er an einer Abordnung der Evangelischen Allianz nach Russland teil, um sich bei Zar Alexander II. für bedrängte Lutheraner in den russischen Ostprovinzen einzusetzen. Leider blieb dieses Unternehmen erfolglos. In einer Veröffentlichung wurde Tischendorf für das Scheitern der Mission verantwortlich gemacht. Mit einer Gegendarstellung wehrte sich Tischendorf dagegen, was zu weiteren Auseinandersetzungen führte. Zuletzt konnte Tischendorf aus gesundheitlichen Gründen darauf nicht mehr selbst antworten, so dass der Streit ungeklärt blieb.

Ein Schlaganfall fesselte ihn im Sommer 1873 ans Krankenbett. Am 7. Dezember 1874 starb Tischendorf, wenige Wochen vor seinem 60. Geburtstag. Unter großer Anteilnahme wurde er auf dem Johannisfriedhof in Leipzig beigesetzt. Es liegt ein ausführlicher Bericht darüber gedruckt vor.[12] [13]

Alle  Auseinandersetzungen und Anfeindungen können jedoch Tischendorfs Ruhm und Verdienste nicht schmälern. Im Gegenteil, mit großem Eifer und Fleiß hat er sich an die Erforschung alter Bibeltexte gemacht und dabei weder Mühen noch Strapazen gescheut. Der Fund des Codex Sinaiticus im Katharinenkloster und seine Veröffentlichung bleibt mit seinem Namen verbunden. Mit großem Sachverstand ging er dabei vor. In der Beurteilung von Bibelhandschriften hat er neue Maßstäbe gesetzt. Mit einer Ausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig in der ehrwürdigen Bibliotheca Albertina im Jahr 2011 wurde an die Lebensleistung Tischendorfs als eines der bedeutendsten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts erinnert.[13] [14]

Literatur: Neben der schon angeführten Literatur bin ich für Beiträge und Zuarbeit von Alexander Schick (Sylt/www.bibelausstellung.de) und Friedrich Machold aus Lengenfeld dankbar.

Hans-Wolf Baumann

(Der Verfasser war 1970-2008 Pfarrer der Ev.-Luth. Freikirche in Hartenstein und 1989-2007 Dozent für Altes Testament am Luth. Theol. Seminar Leipzig. Er stammt aus Lengenfeld/V. und lebt dort im Ruhestand)

Quelle: Theol. Handreichung und Information 2015/1

Neuerscheinung: Alexander Schick, Tischendorf und die älteste Bibel der Welt – Die Entdeckung des Codex Sinaiticus im Katharinenkloster, Jota-Publikationen, ISBN: 9783935707800, 19,95 Euro.

schick_tischendorf [15]

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[1] [16] Codex = ursprünglich ein Gesetzbuch, später allgemein für „alte Handschrift“.

[2] [17] Dr. Alfred Lindner hat über Tischendorfs Abstammung und seine Familie einen ausführlichen Beitrag in der Mitteilung des Roland Dresden geschrieben (Verein zur Förderung der Stamm-, Wappen- und Siegelkunde e.V. und der Sächs. Stiftung für Familienforschung 12, 1927, S. 71-77).

[3] [18] Dieser Brief befindet sich mit einer Transkription in der Handschriftensammlung des Stadtarchivs von Plauen.

[4] [19] Palimpsest = eine abradierte und wieder beschriebene Handschrift.

[5] [20] Aus der Feder des syrischen Kirchenvaters Ephraem (306-373).

[6] [21] Herausgegeben von Christfried Böttrich, Leipzig EVA 1999.

[7] [22] Paläografie = Lehre von den alten Schriften und Büchern.

[8] [23]www.nlr.ru/eng/exib/CodexSinaiticus/zah/ [24]

[9] [25] Chr. Böttrich, Der Jahrhundertfund, Entdeckung und Geschichte des Codex Sinaiticus, Leipzig EVA 2011.

[10] [26] Textus receptus = der allgemein anerkannte Text.

[11] [27] Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 28. Auflage.

[12] [28] Am Sarge und Grabe des Dr. th .Constantin von Tischendorf, gestorben am 7., bestattet am 10. Dec. 1874, Fünf Reden und Ansprachen, nebst einem Rückblick auf das Leben und einem Verzeichnis sämtlicher Druckwerke des Verstorbenen, Leipzig 1875.

[13] [29] Im Internet unter: http://www.ub.uni-leipzig.de/tischendorf/thema.html