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Die Armenierthematik in der türkischen Innen- und Außenpolitik

Freitag 29. November 2013 von Prof. Dr. Thomas Schirrmacher


Prof. Dr. Thomas Schirrmacher

Auch wenn die Armenierfrage nicht die Bedeutung der Kurdenfrage für die Innenpolitik der Türkei erreicht, spielt sie eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis der Türkei. Im Zentrum steht dabei nicht vor allem die von der Bevölkerung ausgehende Diskriminierung der Armenier im Alltag, sondern die Bekämpfung derer, die das Massensterben bei der vermeintlichen Umsiedlung der Armenier im Ersten Weltkrieg als Völkermord bezeichnen wollen. Durch ihr daraus geborenes massives Bekämpfen von Regierungen und Parlamenten zahlreicher Staaten hat die Türkei überhaupt erst die Wissenschaft der Genozidforschung angestoßen. Zusammen mit der Diskriminierung religiöser Minderheiten ist dies zu einem Stolperstein für den EU-Beitritt geworden.1

EINFÃœHRUNG

„Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“2 Mit diesen Worten rechtfertigte Adolf Hitler in seiner zweiten Rede vor den Oberkommandierenden der Wehrmacht auf dem Obersalzberg am 22. August 1939 die wenige Tage später beginnende Auslöschung Polens. Was damals tatsächlich vergessen schien, ist heute Gegenstand einer weltweiten hochpolitischen Wissenschaftskontroverse.3

Vor und während des Ersten Weltkrieges wurden ethnische „Säuberungen“ in Deutschland, Frankreich, Russland und anderen europäischen Nationalstaaten vorgedacht.4 Dabei ging es vor allem um Bevölkerungstausch, das heißt bestimmte Gebiete sollten bestimmten Ethnien vorbehalten bleiben, die Ethnien auseinandersortiert werden. Aber es war das zerfallende Osmanische Reich, wo solche Ideen erstmals in der Moderne auf eine derartige Weise umgesetzt wurden, dass die Umsiedlungen in einem Massensterben endeten.5

„Zwischen 1915 und 1917 wurde das älteste christliche Volk [in Kleinasien] fast vollständig vernichtet.“6 Noch vor 100 Jahren waren 25 % der Bevölkerung Kleinasiens und die Hälfte der Einwohner von Konstantinopel Christen, heute sind offiziell 99 % der Einwohner der Türkei Muslime. Die Armenier, die größte christliche Minderheit in der Türkei damals wie heute, schrumpften von ca. 2,1 Millionen auf geschätzte 60.000, also auf weniger als 0,1 % der türkischen Einwohner. Etwa 75 % der sich offen als Armenier Zeigenden in der Türkei leben in Istanbul.7

Die um 1895 im Osmanischen Reich lebenden ca. 2,1 Mio. Armenier stellten in den sechs armenischen Provinzen des Reiches vor Türken und Kurden mit 38,9 % die größte Bevölkerungsgruppe.8 Pogrome mit jeweils mehreren Tausend Toten hatte es unter den Armeniern schon im 19. Jahrhundert gegeben, etwa 1895/96, was die Auswanderung vieler Armenier bewirkte.

„Über Jahrhunderte hatten die Armenier als christliche Minderheit unter den Muslimen des Osmanischen Reiches gelebt, in Konstantinopel, vor allem aber in sechs ostanatolischen Provinzen auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Doch dann erschütterte die Revolution der Jungtürken im Jahr 1908 das Land: Die Generäle Talat Pascha, Enver Pascha und Cemal Pascha übernehmen die Macht. Sie versprechen die Gleichstellung aller Minderheiten, haben aber ganz anderes im Sinn: ein Großreich, in dem nur Türken leben, geeint durch Blut, Religion und Rasse. Der heraufziehende Erste Weltkrieg ebnet ihnen den Weg. Deutschland, damals Kriegsverbündeter, schaut stillschweigend zu: 1,5 Millionen Menschen fallen dem Völkermord in den Jahren 1915 bis 1917 zum Opfer. Bis heute gedenkt man der getöteten Armenier weltweit am 24. April. Es war der Auftakt des Genozids.“9

Wer zu dieser Thematik schreibt, müsste eigentlich die Vorgeschichte der christlichen Minderheit in der Türkei insbesondere nach Auflösung des Milletsystems im 19. Jahrhundert behandeln,10 müsste auf alle christlichen, ja überhaupt alle Minderheiten in der Türkei eingehen, und müsste auch für die Gegenwart die Lage der griechisch-orthodoxen, syrisch-orthodoxen und anderer alteingesessener christlicher Minderheiten beschreiben. Da dies aber in anderen Beiträgen dieses Buches geschieht und der Platz hier beschränkt ist, müssen wir uns auf die Gegenwart und die Armenierfrage beschränken.

Es wäre hier auch angemessen, die aktuellen Forschungsergebnisse zum Völkermord an den Armeniern zusammenzufassen,11 eine Geschichte der neueren Auseinandersetzung um die Völkermordfrage zu referieren,12 das Auf und Ab der Armenierdiskriminierung der letzten Jahrzehnte nachzuzeichnen,13 aber auch zu diskutieren, inwiefern die Regierung Erdogan in einem Jahrzehnt Fortschritte für die christlichen Minderheiten mit sich gebracht hat und warum der eigentliche Durchbruch trotzdem noch nicht gelungen ist.

AUßENPOLITIK

„Die Türkei hat gegen eine Äußerung von Papst Franziskus über die Vertreibung der Armenier während des Ersten Weltkriegs offiziell Protest eingelegt. Die türkische Botschaft beim Heiligen Stuhl bestätigte am Montag in Rom, dass der Botschafter des Heiligen Stuhls vom Außenministerium in Ankara einbestellt worden sei. Franziskus hatte die Gräueltaten an den Armeniern während einer Zusammenkunft mit dem armenisch-katholischen Patriarchen Nerses Bedros XIX. Tarmouni im Vatikan als den ‚ersten Genozid des 20. Jahrhunderts‘ bezeichnet. In einer im Internet veröffentlichten Erklärung verurteilte das türkische Außenministerium die päpstliche Aussage am Wochenende als ‚absolut inakzeptabel‘.

Vom Papst werde erwartet, dass er zum Weltfrieden beitrage, und nicht, dass er Feindseligkeiten über historische Ereignisse schüre.“14

Zwar hatte 1990 als bisher einziger amerikanischer Präsident George Bush sen. in Bezug auf die Ereignisse von 1915 von „terrible massacres“ gesprochen,15 aber mehr verhinderten die sofortigen Proteste der Türkei. 2000 gelang es der Türkei, die als sicher geltende Initiative zum Genozid an den Armeniern des amerikanischen Kongresses scheitern zu lassen, indem sie drohte, die amerikanischen Nutzungsrechte für den Militärstutzpunkt in der türkischen Stadt Incirlik auslaufen zu lassen. Bill Clinton lenkte ein, wie das der Kongress bereits 1984, 1987 und 1990 getan hatte. 2001 konnte die Türkei nicht verhindern, dass die französische Nationalversammlung die Vertreibung der Armenier mit Gesetzesrang zum Völkermord erklärte. (2012 entschied die Versammlung dann, dass die Leugnung dieses Völkermordes strafbar sei, was der Verfassungsrat dann aber als verfassungswidrig, weil die Meinungsfreiheit beschränkend, aufhob.) Die Türkei brach jedes Mal vorübergehend die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich ab und leitete wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen ein.

Selbst der Deutsche Bundestag schwieg jahrzehntelang mit Rücksicht auf den NATO-Verbündeten und entschied sich zum 90. Jahrestag des Massakers auf Druck der Türkei hin in seiner Armenierentschließung vom 16. Juni 2005 nur für einen parteiübergreifenden Mittelweg, der auf den Begriff „Vökermord“ verzichtete, aber von „Vertreibung und Massakern an den Armeniern 1915“ und von „Verbrechen am armenischen Volk“ sprach.16 Im selben Jahr verzichtete Brandenburg auf Druck der Türkei darauf, die Behandlung des Völkermordes an den Armeniern in den Lehrplan für Geschichtsunterricht aufzunehmen. Nach einer heftigen Mediendiskussion wurde dies dann 2006 rückgängig gemacht. Alle anderen Bundesländer behandeln das Thema gar nicht.

Beachtenswert ist, „dass der Umgang der Türkei mit diesem Abschnitt der nationalen Geschichte eine kritische Rolle im EU-Beitrittsprozess spielt. Die Anerkennung des Völkermordcharakters der Vertreibung der Armenier ist zu einem informellen Beitrittskriterium geworden.“17

Das Europäische Parlament entschied bereits 1987, dass die Vertreibung der Armenier ein Völkermord im Sinne der UN-Genozidkonvention von 1948 sei und knüpfte bereits damals einen möglichen EG-Beitritt der Türkei an die Zustimmung zu dieser Aussage. 2002 und 2005 bestätigte das EU-Parlament diese Forderung.18 Nur wenige EU-Mitglieder wie Frankreich und die Niederlande haben diese Entscheidung durch ihre nationalen Parlamente wiederholt. In der Schweiz ist die Leugnung des Genozid an den Armeniern verboten, aber nur im Rahmen der allgemeinen Antirassismusgesetzgebung strafbar.

Ich persönlich halte diese Forderungen an die Türkei nicht für gerecht, denn auch andere EU-Mitglieder werden nicht daran gemessen, wie sie mit ihrer eigenen Geschichte umgehen, allerdings sollten Religionsfreiheit sowie Meinungs- und Pressefreiheit in der Gegenwart Beitrittskriterien sein.

Am 10. November 2008 bezeichnete der türkische Verteidigungsminister Vecdi Gönül in der türkischen Botschaft bei der EU in Brüssel zum 70. Todestag des türkischen Staatsgründers den „Bevölkerungsaustausch“ zwischen der Türkei und Griechenland als einen wichtigen Baustein für die Entstehung der modernen Türkei und meinte, die Türkei wäre nicht der Nationalstaat, der sie heute ist, wenn dort heute noch so viele Griechen und Armenier leben würden.19 Solche Aussagen nähren das Junktim zwischen 1915 und der Gegenwart.

AUßENPOLITIK UND ARMENISCHE DIASPORA

Nicht zu unterschätzen sind die enormen Aktivitäten armenischer Organisationen in aller Welt. Die Armenier waren schon seit dem Mittelalter fortlaufend in großer Zahl aus ihrem Heimatgebiet in alle Welt ausgewandert. Die Diskriminierung im 19. Jahrhundert beschleunigte den Vorgang. Große Gruppen von Überlebenden der Ereignisse vor der Gründung der Republik Türkei fanden in Russland, Frankreich und den USA Zuflucht, und auch in den letzten Jahrzehnten sind ununterbrochen junge Armenier aus der Türkei ausgewandert. Zudem gibt es seit 1991 die frühere Sowjetrepublik Armenien als eigenständigen Staat, der die Aufarbeitung der Ereignisse von 1915/16 weltweit fördert und in Erinnerung hält.

Von den 3,1 Mio. Armeniern in Armenien abgesehen, leben, ohne mich im Fachstreit über genaue Schätzungen festlegen zu wollen, über 1,2 Mio. Armenier in Russland, 800.000 in den USA, 300.000 in Frankreich und in Georgien, 130.000 in Nagorno Karabakh, 100.000 in der Ukraine, jeweils 70.000 in Iran, Libanon, Argentinien, jeweils 50.000 in Syrien, Kanada, Griechenland, Bulgarien und Usbekistan. In Deutschland schätzt man die Zahl der Einwohner mit armenischen Wurzeln auf 30.000 bis 50.000.20

1975-1983 verübten armenische Extremisten weltweit Anschläge auf türkische Einrichtungen und Diplomaten, bei denen 79 Menschen starben. Leider haben erst diese verwerflichen Ereignisse die Diskussion und Forschung weltweit in Gang gesetzt, aber seitdem stehen wissenschaftliche Auseinandersetzung und friedliche Gedenkveranstaltungen im Vordergrund.

INNENPOLITIK

Welchen Stellenwert hat die Armenierpolitik in der türkischen Innenpolitik? Vergleicht man die Armenierfrage mit der Kurdenfrage, dann hat sie einen wesentlich geringeren Stellenwert. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die betroffene Gruppe kleiner ist, zumindest die Zahl der Armenier, die sich öffentlich als solche zu erkennen geben. Auch gibt es hier kein Gewaltpotenzial bei den Opfern innerhalb des Landes wie bei der Kurdenfrage. Ein armenischer Freund schreibt mir: „Man kann eigentlich nicht erwarten, dass eine solch kleine Bevölkerungsgruppe so wichtig ist. Aber das Thema ‚1915‘ und viele Praktiken, die bis heute anhalten, zeigen, dass das Thema in der Innenpolitik einen ziemlich wichtigen Platz einnimmt.“

Es ist eigentlich weniger die aktuelle Armenierfrage, das heißt die Frage nach dem Umgang mit den Armeniern heute. Die Armenier werden zwar allerorten diskriminiert und sind de facto Bürger zweiter Klasse, die etwa nicht den gleichen Zugang zu staatlichen Stellen oder höherer Ausbildung haben, doch dazu bedarf es keiner eigenen Aktivitäten, und selten wird die Zentralregierung hier aktiv. Innenpolitisch spielt aber die historische Frage nach dem Umgang mit den Progromen im Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle.

Diese Frage scheint zunächst eine große außenpolitische Bedeutung zu haben, wird doch die Armenierfrage für die Öffentlichkeit vor allem greifbar, wenn die türkische Regierung gegen andere Länder vorgeht. Aber auch nach innen bekämpft die Türkei weiter Wissenschaftler und andere, die die Ereignisse von 1915/16 als Völkermord bezeichnen wollen oder die genauere Erforschung fordern, auch wenn der Druck gegenüber früher erkennbar nachgelassen hat, weswegen ein Enkel von Cemal Pascha ein Buch „1915 Völkermord“ in der Türkei veröffentlichen konnte.21

Erfolgt aber dieses außenpolitische Auftreten nicht vor allem aus innenpolitischen Gründen? Dafür spricht Einiges, denn eigentlich macht ja kein anderes Land die moderne Türkei für die damaligen Völkermorde verantwortlich, zumal sie vor der Gründung der Republik Türkei 1923 geschahen und von vielen zu den Wirren des Ersten Weltkrieges gezählt werden. Kritisiert wird die Türkei nur dafür, dass sie die Aufarbeitung verhindert, die Meinungs- und Pressfreiheit beschränkt und Massenmorde nicht als Völkermord oder wenigstens als Verbrechen sehen möchte, sondern als Selbstverteidigung im Krieg gegen eine Gruppe, die sich mit dem Kriegsgegner verbündet hatte. Dass die Türkei sich die ständigen außenpolitischen Auseinandersetzungen über ihre eigene Geschichte erlaubt, dürfte tatsächlich vor allem innenpolitische Gründe haben. Denn die Ehre der Türken und der Türkei ist in der Türkei eine eminent innenpolitische Frage, und Scham und Schande müssen von der Türkei abgewendet werden, so die Sicht der Regierung und der großen Mehrheit der Bevölkerung der Türkei.

Zwar wurde der § 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der „Beleidigung des Türkentums“ unter Strafe stellte, 2007 nach der Ermordung von Hrant Dink auf Druck der EU in „Beleidigung des türkischen Staates“ geändert. Eine Anklageerhebung nach § 301 erfordert seitdem eigens eine Genehmigung des Justizministers (was natürlich der Gewaltenteilung widerspricht). In der Praxis hat das aber nichts geändert, das heißt, es wurden weiterhin Journalisten, Menschenrechtler und Wissenschaftler mit diesem Paragraphen konfrontiert, die sich entgegen der offiziellen Regierungslinie in der Armenierfrage äußerten.

Ein weiterer innenpolitischer Grund muss noch erwähnt werden. Nachdem man jahrzehntelang gesagt hat, dass es keinen Völkermord gegeben habe und auch die Regierung Erdogan diesen Kurs ein Jahrzehnt fortgesetzt hat, wäre es in einer schamorientierten Kultur22 verheerend, wenn die Regierung hier plötzlich umdenken würde.

Die Türkei sieht sicher unausgesprochen auch die Gefahr, dass eine Aufarbeitung der Armeniervertreibung weitere „Leichen im Keller“ hervorzieht, denn die ethnische Säuberungspolitik gegenüber Assyrern und Aramäern sowieso die Unterdrückung der Kurden in den 1910er- bis 1930er-Jahren und die Umsiedlungspolitik mit Griechenland in den 1920er-Jahren sind wenig erforscht, zumal dazu viel weniger Originalquellen außerhalb der Türkei vorliegen als zu den Armeniern und die Quellen in der Türkei nicht zugänglich sind.

Die Ereignisse hängen natürlich eng mit der innenpolitischen Frage nach der Lage der religiösen und ethnischen Minderheiten in der Türkei, vor allem mit dem ähnlich gelagerten Schicksal anderer christlicher Minderheiten zusammen. Man muss sich dabei bewusst machen, dass es für Ministerpräsident Erdogan ein Leichtes wäre, die vielen Maßnahmen und Zusagen, die den Minoritäten und der EU gemacht wurden, umzusetzen. Sie würden weder große Kosten verursachen noch Gesetzesänderungen erfordern.

Ich fragte einen Armenier, ob die Kurdenfrage für die türkische Innenpolitik wichtiger sei oder die Armenierfrage. Seine Antwort: „Meiner Meinung nach ist in der heutigen Türkei die kurdische Frage die größte Frage; langfristig wird die armenische Frage der Türkei aber mehr Kopfzerbrechen bereiten. Ich hoffe, dass es schnell eine Lösung gibt. Jedes Jahr bedeutet der 24. April Stress für uns.“ (Am 24. April 1915 wurden in der Türkei 235 armenische Intelektuelle grundlos inhaftiert: der Beginn der Pogrome.)

INNENPOLITIK:

DIE STIMMUNG IN DER BEVÖLKERUNG

Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Verachtung und Diskriminierung der Armenier tief in der türkischen Gesellschaft verwurzelt ist. Bis heute ändern etwa Armenier, die ein Geschäft eröffnen wollen, ihren Namen, damit bei ihnen überhaupt gekauft wird.

So ist der größte Teil der türkischen Bevölkerung der Überzeugung, dass Gesetze zur Arme-nierfrage in Frankreich oder der Schweiz ausschließlich dazu dienen sollen, die Türkei vor der Weltöffentlichkeit bloßzustellen. Da in Schule und Literatur der Türkei das Thema nicht behandelt wird, sondern eine stimmige, schöne Gründungserzählung der Türkei vorgegeben ist, kennen die Einwohner des Landes natürlich auch die Hintergründe nicht.

Leider gibt es keine aktuellen Umfragen unter Türken, wie sie über Armenier denken oder unter Armeniern, wann und wo sie sich diskriminiert fühlen. Aber wann immer ich Gelegenheit hatte, armenische Türken zu befragen, gaben sie klar zu verstehen, dass die alltägliche Diskriminierung durch die Bevölkerung für sie viel unmittelbarer und schlimmer sei, als die rechtlichen Benachteiligungen oder Aktivitäten der Zentralregierung, die eigentlich immer nur in Erscheinung treten, wenn es um Grundstücks- und Besitzfragen von Kirchen, um wissenschaftliche Konferenzen oder um Aktivitäten anderer Regierungen geht.

Es hat in Medien, Alltag und den politischen Parteien den Anschein, dass eine überwältigende Mehrheit der Türken die Position der Regierung zur Armenierfrage teilt und keine Änderung will.23 Der Mord an Hrant Dink 2007 hat die meisten Türken erschüttert – wie auch andere Morde an christlichen Honoratioren danach –, aber darin ist keine grundsätzliche Infragestellung der Diskriminierung von Christen zu sehen, nur sollte diese nicht mit offener Gewalt oder mit Mord geschehen.

Man darf ja auch nicht vergessen: Neben der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) Erdogans gibt es als zweite große Kraft in der Türkei: die Vertreter des Kemalismus in der Armee und in der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP). In der Armenierfrage (und im Umgang mit religiösen Minderheiten überhaupt) sind sich aber beide verfeindete Lager einig. Die Kemalisten sind hier meist sogar radikaler, wie sich überhaupt Christen daran erinnern, dass es ihnen trotz allem unter der Regie-rung Erdogan besser geht, als es ihnen unter den Kemalisten vorher ging. Es gibt in der Türkei keine nennenswerte politische Größe – von einigen kurdischen Politikern abgesehen –, die sich für eine grundsätzliche Verbesserung der Lage der Christen und religiösen Minderheiten einsetzen würde.

VERBESSERUNGEN UNTER ERDOGAN

Ein armenischer Freund aus der Türkei antwortete mir auf die Frage „Wie oft kommt ein normaler Bürger in der Türkei mit der Sicht der Armenierfrage der Regierung Erdogan in Berührung, z. B. in der Schule, in den Medien, im Alltag?“: „Er kommt natürlich damit in Berührung. Wir haben uns aber so sehr daran gewöhnt, dass wir es gar nicht bemerken. Einige Verbesserungen in der letzten Zeit haben jedoch dazu geführt, dass wir etwas mehr Luft holen können. Um ein simples Beispiel zu geben: Als ich klein war, hatten wir davor Angst, auf der Straße Armenisch zu sprechen. In der Schule wurden wir gelehrt, dass wir Türken seien. Im Militärdienst dagegen merken wir, dass wir als Armenier ge-kennzeichnet und mit Vorbestraften gleichgestellt sind. Das ist heute nicht mehr so.“

Die Verbesserungen unter der Regierung Erdogan sind nicht nur im Alltag spürbar, sondern auch institutionell: „Bis zum Beginn der AKP-Regierungszeit gab es Assimilation und Druck ernsthaften Ausmaßes. Heute ist die Lage besser. Heute gibt es sogar bei den Sicherheitskräften und im Außenministerium eine eigene Abteilung für Armenier und Minderheiten.“

Kann man unterscheiden, was davon unter Diskriminierung von religiösen Minderheiten fällt und was unter rassistische Diskriminierung ethnischer Minderheiten? In der Armenierfrage dürfte es schwer fallen, die beiden Aspekte zu trennen. Aber bis zur Regierung Erdogan dürfte der rassistische Anteil größer gewesen sein. Seit Erdogan spielt der Islam wieder eine wichtigere Rolle für die türkische Identität und ist damit auch wieder stärker Abgrenzungsmerkmal gegen die Armenier als Christen. Mein Freund schreibt: „Allerdings hatte das bis zur Regierungszeit der AKP recht wenig mit dem Christentum zu tun. Da ging es an der Wurzel mehr um Rassismus. Doch sind Türkesein und Islam sowie Armeniersein und Christentum so eng miteinander verbunden, dass es schwierig ist, genau einzugrenzen, wo Rassismus aufhört und wo religiöser Fanatismus anfängt.“

DIE TÃœRKISCHE SICHT

Die türkische Regierung und die offizielle Geschichtswissenschaft der Türkei verbinden mit Völkermord etwas mit dem Nationalsozialismus Vergleichbares, setzen also eine rassistisch-ideologische Motivation und eine Opfergruppe voraus, die in keiner Form selbst an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt war. Da die Armenier aber als religiöse Gruppe gesehen wurden, die sich als Christen mit christlichen Gegnern verbündeten, und im 19. Jahrhundert zum Islam übergetretene Armenier meist nicht verfolgt wurden, lehnt man es ab, dass es sich um Völkermord aus Rassismus handelte. Dabei wird übersehen, dass die Völkermorddefinition der UN von 1948 keine bestimmte Ideologie und keine bestimmte Art von „Volk“ voraussetzt, sondern nur das Ziel, Angehörige einer bestimmten Gruppe geplant zu töten oder dem möglichen Tod auszuliefern.24 Artikel II der von der Türkei 1948 als Erstunterzeichner mit unterschriebenen UN-Konvention lautet: „In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: (a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; (b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe; (c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; (d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; (e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“

a) bis c) sind gut belegbar. Zu e) hat Tessa Hofmann gut belegt, dass bei der Vertreibung 150.000 bis 200.000 armenische Kleinkinder weggegeben oder weggenommen und später nicht wieder herausgegeben wurden.25 Diese Kinder heirateten später und wurden so Eltern und Großeltern heutiger Türken. Das ist bis heute eine heikle innenpolitische Frage.

Oft taucht der Vorwurf oder die Feststellung auf, dass führende türkische Politiker Armenier unter ihren Vorfahren haben, so geschehen bei Turgut Özal, Mesut Yilmaz, Abdullah Gül, Devlet Bahceli oder Alparslan Türkes. Selbst der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk soll armenische Vorfahren gehabt haben.26 Das jeweils anhand von Dokumenten zu überprüfen, ist jedoch in der Türkei unmöglich.

2004 erschütterte beispielsweise die Türkei die Nachricht auf der Titelseite der Hürriyet vom 21. Februar 2004, dass die Adoptivtochter des Staatsgründer Kemal Atatürk und erste weibliche Pilotin der Türkei – und damit fast ein Nationalsymbol – ein die Vertreibung überlebendes armenisches Kind gewesen sei. Die Information hatte zuvor der Journalist Hrant Dink aufgrund von Interviews mit Verwandten der Adoptivtochter veröffentlicht. Der türkische Generalstab gab sich gar nicht erst die Mühe, die Fakten zu widerlegen, sondern bezeichnete es als Verletzung der nationalen Gefühle und Werte der Türkei, dies auch nur zu erwägen.27

Die Türkei rechtfertigt die Vertreibungspolitik der Jungtürken – genauer der Partei İttihad ve Terakki (Einheit und Fortschritt) – gegen die Armenier bis heute als kriegsnotwendigen Akt der Selbstverteidigung. Werke namhafter türkischer Geschichtsprofessoren, die die Schuld bei den Armeniern selbst sehen, wurden auch ins Deutsche übersetzt.28 „Allenfalls wird zugegeben, dass einige Hunderttausend (300.000 oder mehr) Armenier im Zusammenhang mit ihrer Deportation nach Mesopotamien, wo nur wenige ankamen und überlebten, und mit der Niederschlagung armenischer Aufstände umgekommen seien. Insgesamt seien weit mehr Moslems (Türken, Kurden und andere) von den verbündeten Russen und Armeniern umgebracht worden als Armenier von den Türken und Kurden.“29 „In den achtziger Jahren etablierte sich ein staatlich protegierter Wissenschaftsbetrieb, der die These von den kriegsbedingten Deportationen der Armenier un-termauerte. Seit ausländische Parlamente sich dem Thema widmen, vollziehen türkische Historiker ein neues Manöver: Nicht die muslimische Bevölkerung habe Armenier massakriert, sondern umgekehrt. Schätzungen sprächen von drei Millionen Toten. Wer das nicht glauben will, wird eingeschüchtert, verleumdet und strafrechtlich verfolgt. Der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wagte es, von ‚Völkermord‘ zu sprechen, und wurde deshalb wegen ‚Verunglimpfung des Türkentums‘ angeklagt. Türkische Verlage, die Bücher drucken, die der nationalen Geschichtsschreibung widersprechen, werden mit so hohen Geldstrafen belegt, dass sie zu Grunde gehen.“30

RATSCHLÄGE AN DIE TÜRKEI

Das Verhalten der Türkei fällt vor allem deswegen auf, weil öffentliche Entschuldigungen für Verbrechen früherer Generationen en vogue sind. Bill Clinton entschuldigte sich 1998 für den Sklavenhandel und die Untätigkeit der USA während des Völkermordes in Ruanda, Queen Elizabeth für die Unterdrückung der Maoris in Neuseeland, Papst Johannes Paul II. für verschiedene Verfehlungen der katholischen Kirche, etwa die Eroberung Lateinamerikas oder die Verurteilung Galileo Galileis. Die australische Regierung entschuldigte sich 2008 bei den Aborigines, die französische Regierung 2008 für die Dreyfus-Affäre, die kanadische Regierung bei Indianern, deren Kinder zwangsadoptiert wurden.31

Das Verhalten der Türkei ist umso erstaunlicher, als sich zum einen die Gründungserzählung der Republik von 1923 dezidiert vom Osmanischen Reich absetzt und zum anderen sich die islamistisch ausgerichtete Regierung Erdogan dezidiert von der kemalistisch-säkularistischen Ausrichtung der Jungtürken sowie von der Vorgeschichte und den ersten Jahrzehnten der Republik Türkei absetzt.

Das Verhalten der Türkei gegenüber dem Völkermord hat eine eigene wissenschaftliche Stufe des Völkermords als letzten Akt eines Völkermordes hervorgebracht, die „Leugnung“, die mittlerweile einen eigenen Forschungsbereich bildet. Dadurch ist die Leugnung des Völkermordes in der Türkei mittlerweile fast genauso gut erforscht wie der Völkermord selbst.32 Insofern hat die Türkei der Genozidforschung einen Gefallen getan, aber das heißt auch: Ein weniger lautes Verhalten der Türkei hätte wohl verhindert, dass der Genozid an den Türken heute in der Wissenschaft als erster Genozid der Moderne diskutiert wird … und in der Genozidforschung eine solch zentrale Rolle spielt.

Man muss deutlich sagen: Wäre die Darstellung der Armeniervertreibung nicht so von Seiten der Türkei blockiert, wäre es viel einfacher, sachlich alle Aspekte darzustellen, auch jene Aspekte, die die Türkei teilweise entlasten. Auch die Frage, ob es einen geplanten koordinierten Völkermord oder nur ein in Kauf genommenes Massensterben von Zivilisten des Gegners im Kriegschaos gab,33 ließe sich besser ohne das innen- und außenpolitische „Theater“ diskutieren.34

Ja, es ist berechtigt, die im Umlauf befindlichen Zahlen kritisch-wissenschaftlich unter die Lupe zu nehmen, wie es etwa Jahn tut: „Das kleine Volk der Armenier von rund 4,5 Millionen Menschen hat wohl mehr als ein Siebentel aller Todesopfer des Ersten Weltkrieges erbracht. Man muss aber vier Gruppen dieser Todesopfer unterscheiden: 1. Soldaten und andere bewaffnete Kämpfer, die im Staatenkrieg oder in armenischen Aufständen gefallen sind, 2. Zivilisten und Kriegsgefangene, die frontnah im engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit Kriegshandlungen ermordet wurden (gewöhnliche Kriegsverbrechen), 3. Dorfbewohner und Deportierte, die unbeabsichtigt aufgrund staatlicher Desorganisation sterben mussten, wie viele Türken auch und selbst osmanische Soldaten …, 4. Zivilisten und politische Inhaftierte, die systematisch von staatlichen Amtsträgern aufgrund amtlicher Befehle erschossen, erschlagen, ertränkt und verbrannt, an private Mordbanden oder an den Tod durch Durst, Hunger, Krankheiten ausgeliefert wurden. … Nur im Falle der vierten Gruppe sollte man von Opfern des Völkermordes sprechen. Ihre Zahl dürfte nach unterschiedlichen Schätzungen um die 650.000 liegen, plus minus 200.000 bis 300.000.“35

Trotz dieser Differenzierung kommt er zu dem Schluss: „Welche der Zahlen auch immer empirisch am stichhaltigsten ist, an der Tatsache eines umfangreichen Völkermordes an Hunderttausenden von Armeniern, im wesentlichen organisiert durch staatliche Behörden im Schatten des Weltkrieges und der drohenden Aufspaltung des Osmanischen Reiches, kann kein ernsthafter Zweifel bestehen.“36

Ja, man muss den Kriegskontext, die Wirren des Ersten Weltkrieges und die Frontverläufe im Osten berücksichtigen. Ja, man muss alle Opfer und alle Opfergruppen, auch muslimische, nennen, und man muss offen darstellen, warum sie starben. Ja, man muss die Aufstände und Bürgerkriege der christlichen Minderheiten als Hintergrund sehen, die zu eigenen Nationalstaaten auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches führten. Ja, es entstand militärisch ein Nationalstaat Armenien, der sich 1920, von der Entente im Stich gelassen, in die Arme der Russen flüchtete. Ja, der russische Zar bezeichnete die Armenier als seine Verbündeten, und Armenier dienten in der russischen Armee.37 Das alles erklärt zwar nicht, warum in der gesamten Türkei Armenier verschleppt wurden, nicht nur in den Frontgebieten, oder warum man sie nicht tatsächlich in Gebiete deportierte, wo die Armenier dann die Mehrheit in der Region hätten stellen können, sondern sie verhungern ließ. Aber es würde die Türkei eher in eine Reihe mit den oft ebenso skrupellosen anderen Kriegsteilnehmern stellen.

Die Türkei verweigert dem armenischen Patriarchen ebenso wie etwa dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I., der katholischen Kirche oder dem Oberrabiner von Istanbul die Rechtspersönlichkeit ihrer Religionsgemeinschaften. Wäre die Freiheit der christlichen Minderheiten in der Türkei gewährleistet, wären sicher viele Länder oder auch die EU schnell bereit, die „Armenierfrage“ Geschichte sein zu lassen und nicht der modernen Türkei anzulasten. Vor dem Hintergrund, dass die christlichen und anderen religiösen Minderheiten aber nach wie vor rechtlich nicht existieren dürfen und der Staat etwa derzeit die Enteignung des größten Teils des uralten syrisch-orthodoxen Klosters Mor Gabriel zulässt oder initiiiert, nährt sich der Verdacht immer wieder neu, dass die Türkei in hundert Jahren in dieser Frage nichts gelernt hat.

Den christlichen Minderheiten in der Türkei die Freiheit tatsächlich zukommen zu lassen, die sie rechtlich längst haben, würde die Türkei auch in der historischen Armenierfrage stark entlasten und vielerorts aus der Schusslinie dieser Frage nehmen.

ABSCHLIEßENDER EXKURS Kryptoarmenier

In der Türkei soll es viele Bürger geben, die eigentlich armenischer Abstammung sind, dies aber außerhalb der Familie geheim halten, so dass sie für „normale“ Türken gehalten werden. Ich habe selbst mit Türken gesprochen, denen ihre Mutter oder Großmutter auf dem Sterbebett verraten hat, dass die Familie armenisch sei. Oft löst das dann das Interesse der jungen Generation aus, mehr über die eigene Geschichte, aber auch das armenische Christentum zu erfahren. Wie viele solcher „Kryptoarmenier“ gibt es? Wie viele davon wissen noch, dass sie Armenier sind? Die Schätzungen gehen weit auseinander. Ein armenischer Freund schreibt mir: „Es gibt sogar solche, die sagen, es seien ein paar Millionen. Man sagt, mehr als die Hälfte der Menschen in Tunceli, 30 % der Menschen im Kreis Kahta der Provinz Adiyaman seien Armenier. Es ist aber ein Unterschied zwischen Behauptungen und Beweisen. Ich selbst vermute, dass die Zahl bei weit über einer Million liegt. Denn wir begegnen sehr oft Äußerungen wie ‚Auch meine Oma war Armenierin‘.“

1980 formulierte der damalige armenische Patriarch von Konstantinopel, Shnork Kaloustian, vier Hauptgruppen von in der Türkei lebenden Armeniern, eine Einteilung, die sich mittlerweile eingebürgert hat:38

1. Offizielle Armenier, die ihre Identität beibehalten haben. Die meisten davon leben in Istanbul.
2. Islamisierte Armenier oder türkisierte Armenier, die sich – oft schon vor mehreren Generationen – an die türkische Mehrheitsgesellschaft ganz assimiliert haben.
3. Kurdisierte Armenier, die vor drei oder mehr Generationen islamisiert wurden und meist als kurdische Stämme leben, aber nicht wirklich in die kurdische Gesellschaft integriert sind.
4. Kryptoarmenier (Türkisch: „Kripto Ermeniler“), Armenier vor allem in Anatolien, die zwar äußerlich zum Islam konvertiert sind, aber ihre armenische Identität beibehalten haben. Etliche konvertieren zum Christentum zurück und schließen sich der ersten Gruppe an, wenn sie nach Istanbul übersiedeln.

Prof. Dr. Theol. Dr. Phil. Thomas Schirrmacher

Sprecher für Menschenrechte, Vorsitzender der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz und Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit, Bonn

Quelle: AMZ, Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, Nr. 86, Türkische Innenpolitik (Hanns Seidel Stiftung)

ANMERKUNGEN

1       Viele Informationen verdanke ich nicht nur der Literatur und Gesprächen mit Fachkollegen in der Türkei und Deutschland, sondern auch Gesprächen mit dem Patriachatsvikar Erzbischof Aram Ateyan, mit dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. sowie dem syrisch-orthodoxen Metropoliten Yusuf Çetin, dem alten und dem neuen Mufti von Istanbul, sowie türkischen und armenischen Gesprächspartnern. Letztere wollen nicht, dass ich ihre Namen nenne. Alle Web-links wurden am 5.7.2013 überprüft.
2       Akten zur deutschen auswärtigen Politik, Serie D: 1937-1941, Bd. VII, Berlin 1961, S. 193.
3        Die Diskussion, inwieweit die Vertreibung der Armenier in irgendeine Beziehung zum Holocaust an den Juden gesetzt werden darf, etwa als Vorbild oder Vorläufer, ist im vollen Gang; siehe die Beiträge in Fritz Bauer Institut: Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs, hrsg. von Sybille Steinbache, Frankfurt a. M. 2012. Eine Gleichsetzung findet sich bei Güçlü, Yücel: The Holocaust and the Armenian case in comparative perspective, Lanham MD 2012.
4       Schwartz, Michael: Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne, München 2013, S. 32-60.
5       Ebd., S. 61-114.
6       Krüger, Karen: Völkermord an den Armeniern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 10.4.2010, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/integra tion/voelkermord-an-den-armeniern-das-letzte-was-ich-von-den-kindern-sah-1582205.html
 7       Zur Diskussion um die Zahlen vgl. Hofmann, Tessa: Wer in der Türkei Christ ist, zahlt einen Preis dafür, in: Märtyrer 2007: Das Jahrbuch zur Christenverfolgung heute, hrsg. von Max Klingberg, Thomas Schirrmacher, Ron Kubsch, Bonn 2007, S. 156-184, http://www.bucer.de/institute/iirf/maertyrer.html
8       Redgate, Anne Elizabeth: The Armenians, Oxford 2000, S. 271.
9       Krüger: Völkermord an den Armeniern.
10    Zur Einführung siehe Baum, Wilhelm: Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten, Klagenfurt 2005; Hofmann, Tessa (Hrsg.): Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich. 1912-1922, Münster 2004.
11      Die beste (und neueste), äußerst differenzierte Darstellung ist Schwartz: Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne, S. 30-126; vgl. auch Bitschnau, Martin (Hrsg.): Armenien. Tabu und Trauma, Bd. 1: Die Fakten im Überblick, Wien 2010; und die Dokumentensammlungen Berlin, Jörg / Klenner, Adrian (Hrsg.): Völkermord oder Umsiedlung? Das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich. Darstellung und Dokumente, Köln 2006; Gust, Wolfgang (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des Deutschen Auswärtigen Amts, Berlin 2005.
12    Stellvertretend sei genannt Bayraktar, Seyhan: Politik und Erinnerung. Der Diskurs über den Armeniermord zwischen Nationalismus und Europäisierung, Bielefeld 2010.
13     Leider gibt es eine ähnlich gründliche Darstellung wie Hofmann, Tessa: „Armenians in Turkey Today“. Gutachten für „The Forum of Armenian Associations in Europe“, October 2002, www.armenian.ch/gsa/ Docs/faae02.pdf für die Gegenwart nicht.
14     http://www.kath.net/news/41621; http://de.radiovati cana.va/news/2013/06/10/türkei_protestiert_gegen_armenier-äußerung_des_papstes/ted-700154
15    Bayraktar: Politik und Erinnerung, S. 135. In Anatolien dürfte es nur wenige Familien geben, die keine armenischen Kinder aufgezogen haben.
16    Details siehe ebd., S. 230-232.
17    Ebd., S. 15.
18    Quellen siehe ebd., S. 72.
19     Türkei: Minister lobt Vertreibung von Griechen und Armeniern, Die Presse, 11.11.2008, http://diepresse. com/home/politik/aussenpolitik/429389/Tuerkei_Minister-lobt-Vertreibung-von-Griechen-und-Armeniern
20    Eine detaillierte Tabelle mit Belegen für zahlreiche Schätzungen findet sich bei https://en.wikipedia.org/ wiki/Armenian_diaspora
21     Cemal, Hasan: 1915. Ermeni Soykirimi (Der Völkermord an den Armeniern), Istanbul 2012; vgl. http:// www.dradio.de/dlf/sendungen/andruck/1920047/
22    Vgl. Neckel, Sighard: Status und Scham, Frankfurt a. M. 1991; Schirrmacher, Thomas / Müller, Klaus W. (Hrsg.): Scham- und Schuldorientierung in der Diskussion, Nürnberg 2006; Schirrmacher, Thomas: Scham oder Schuldgefühl?, Bonn 2005.
23    Baraktar: Politik und Erinnerung, hat etwa tausend Texte aus der Zeit von 1973 bis 2005 untersucht und die Dauerdiskriminierung der Armenier belegt. Leider fehlt eine ähnlich gründliche Untersuchung für die Gegenwart.
24     Dass die UN-Definition von 1948 aus heutiger Sicht zu eng ist, da sie etwa soziale Gruppen auslässt, andererseits zu weit, da sie nicht vorgibt, dass es eine große Zahl von Opfern geben muss, ja überhaupt die Genozidverfolgung und -forschung heute viel weiter ist, kann hier nicht weiter diskutiert werden.
25      Hofmann, Tessa: Armeniens verborgene Kinder. Die so genannten Krypto-Armenier in der Republik Türkei, Vortrag vom 15.5.2010, http://www.aga-online.org/ news/attachments/TessaHofmann_Vortrag_15052011_Dersim_Armenier.pdf und weitere ihrer Veröffentlichungen.
26     http://haypressnews.wordpress.com/2012/08/29/war-ataturk-armenier/
27     Details bei Bayraktar: Politik und Erinnerung, S. 269.
28     Z. B. Çiçek, Kemal: Die Zwangsumsiedlung der Armenier 1915 bis 1917, Pfungstadt 2011; Çiçek, Kemal / Turan, Ömer / Çalık, Ramazan / Halaçoğlu, Yusuf: Die Armenier. Exil und Umsiedlung, Pfungstadt 2012
29     Jahn, Egbert: Erinnerung an Völkermord als politische Waffe in der Gegenwart, in: Frankfurter Montags-vorlesungen NF 04, 4.6.2012, http://www.fb03.uni-frankfurt.de/46582983/ZSFraMoV04-NET-Voelker mord-14.pdf, S. 4.
30 Krüger: Völkermord an den Armeniern.
31 Siehe Daase, Christopher: Entschuldigung und Ver-söhnung in der internationalen Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 25-26/2013, S. 43-49.
32    Siehe die Literatur bei Bayraktar: Politik und Erinnerung, S. 42, 53-54.
33     Die wichtigsten Vertreter der verschiedenen Positionen listen Barth, Boris: Genozid, München 2006, S. 62-78; und Bayraktar: Politik und Erinnerung,S. 35-36, gut auf.
34    So etwa deutlich Jahn: Erinnerung an Völkermord als politische Waffe in der Gegenwart, S. 16.
35  Ebd., S. 12.
36  Ebd., S. 16.
37  Das ist nur eine Auswahl, mehr bei Schwartz: Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne.
38     Vgl. dazu Khanlaryan, Karen: The Armenian ethno-religious elements in the Western Armenia, in: Noravank Foundation, 29.9.2005, http://www.noravank.am/ eng/issues/detail.php?ELEMENT_ID=3724, sowie unter Vorbehalt gegenüber allen Wikipediabeiträgen auch https://de.wikipedia.org/wiki/Kryptoarmenier, ähnlich die englische Version http://en.wikipedia.org/wiki/ Crypto-Armenians

 

 

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 29. November 2013 um 18:26 und abgelegt unter Christentum weltweit, Gesellschaft / Politik.