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Macht und Gegenmacht des Christentums – Epochenkampf gegen das trinitarische Gottesbild

Dienstag 8. Januar 2013 von Dr. Hans-Peter Raddatz


Dr. Hans-Peter Raddatz

1.   Einstieg in die Langzeitperspektive

Im Rahmen des politkulturellen Diskurses im Westen, speziell in Europa, gibt es keine Religion, keine Ideologie, kein Weltbild, das sich einer so massiven Kritik gegenübersieht wie das Christentum. Im Gegenteil: Obwohl sich der „interreligiöse Dialog“ seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil als Einrichtung etablierte, die das Gemeinsame zwischen den Christen und den nichtchristlichen Religionen suchen und möglichst auch finden sollte, entpuppte er sich in den nachfolgenden Jahrzehnten als eine überinstitutionelle, interkulturelle Organisation, die es sich zur Pflichtaufgabe machte, die offen zutage liegende Masse der trennenden Faktoren unter hohem Aufwand an Kapital, Personal und Rabulistik in Aspekte der Gemeinsamkeit und Harmonie umzumünzen.

Unter der Leitkultur des Islam hat dieser Prozeß inzwischen alle Institutionen der EU-Staaten und der EU selbst erfaßt und dabei auch Methoden entwickelt, die sich zunehmend aggressiv gegen die Kirche, deren Vertreter und die christlich Glaubenden wenden. Dieser Vorgang macht eine Renaissance des modernen Gewaltpotentials deutlich, die das Erbe der links-rechten, antichristlichen Extreme aktiviert und sich über den „Dialog“ mit der Gewalttradition der nichtchristlichen Religionen legitimiert, weil sie durch die Religionsfreiheit geschützt ist. Besonders profitiert davon der Islam, der sich schon im Koran gegen die Juden und Christen definiert (9/29). Seine Praxis der Eroberung und Kolonisierung nichtislamischer Gebiete dauert bis heute an und verfolgt unter EU-Ägide eine umfassende Strategie der Zuwanderung und Propaganda, die weite Teile Europas islamisiert (NO 5/12).

Da der islamische Anspruch auf Unterwerfung des Nichtislam, speziell der Juden und Christen, in der Glaubensbasis wurzelt und die EU-Staaten scheindemokratische Kollaborationsformen mit den islamischen Dachorganisationen entwickeln, gibt es offenbar keine Veranlassung, die Expansion in Europa zu beschränken. Dabei bleibt es indes nicht, weil sich zugleich die politische Feindseligkeit gegen die jüdisch-christlich grundierte Altkultur verstärkt, und ein Schweigegebot über die weiter laufende Tradition des Schleichgenozids im Islamraum verhängt, über den Organisationen wie „Kirche in Not“, „Open Doors“ und andere zwar regelmäßig berichten, ohne allerdings besondere Resonanz in der Öffentlichkeit zu bewirken.

Denn die durchaus verfügbare, historisch korrekte Information wird in einer konzertierten Medienstrategie des „Dialogs“ unterdrückt und in eine islamische Toleranz gewandelt, an die nicht zu glauben den Tatbestand der Islamphobie begründet. Dazu wird ein Christentum in Kontrast gesetzt, dem die Dialogisten eine fortdauernde Mentalität der Kreuzzüge und Inquisition sowie eine mittelalterliche Moral vorwerfen und der Öffentlichkeit als möglichst konsequent zu bekämpfendes Gegenprogramm präsentieren. Dieses Verfahren ist neu, nicht wegen seiner Geschichtsfälschung, die zum Standardrepertoire jeder Machtform gehört, sondern wegen des tiefgreifenden Angriffs auf die historisch gewachsene Kulturbasis und deren Menschen, die mit wachsender Radikalität diskriminiert und verdrängt werden.

Dabei bleibt die übergeordnete Dimension des Moderneprozesses unbeachtet, nicht nur weil sie den Intellekt der meisten Akteure übersteigt, sondern weil sie aus machttechnischen Gründen verschwiegen werden muß. Hier kann ein Blick in die Geschichte helfen, denn der Vorgang reicht in die europäische Geistesentwicklung zurück, die seit der Aufklärung das Christentum, speziell dessen klerikalistische Version, verwirft und die anderen Religionen, allen voran Islam und Buddhismus, verklärt. Mit der Verdrängung alles Christlichen geht nun ein fundamentaler Abbau der Kultur einher, der sich geistig in der Abwehr von Bildung und biologisch in der Abwehr von Reproduktion, primär in der Abtreibung und Erosion der Familie ausdrückt. Hinzu kommt der Abbau der Sozialethik, der einen Raubkapitalismus mit betrügerischen Finanzinstrumenten und steuertreibende „Rettungsschirme“ in Billionenformat hervorbrachte, welche die Banken sanieren und damit auch Teile der Börsenverluste anderskultureller Investoren wiederbeschaffen soll.

Da die Aufklärer und schon die Renaissance-Denker die christliche Besonderheit des trinitarischen Gottesbegriffes und speziell dessen offizielle Vertreter angriffen, aber in ihrer Abfolge eine weltumspannende Kultur hervorbrachten, ist es die These dieses Beitrags, daß letztlich auch die Moderne wie ihre Vorgänger ein Produkt der christlichen Kultur ist. Es vollzieht sich ein epochaler Emanzipationsprozeß, der parasitäre Züge annimmt, weil er ohne die Aufgabe des christlichen, seiner selbst bewußten Menschenbildes, d.h. ohne die Entfesselung der Macht nicht lebensfähig ist. Dem Christlichen und seinen jüdischen Wurzeln wohnt mit der Aufwertung des denkenden Menschen eine singuläre Kraft inne, ohne die es weder den ebenso einmaligen Aufschwung der europäischen Kultur und Wissenschaft, noch deren dunkle Seiten gäbe, die nun mit dem Christlichen das Menschliche abbauen.

Wer wissen will, wie solches zustande kommt, muß logischerweise auch an die Wurzeln des Christentums und seine geistige Entwicklung gehen, weil sonst nicht verständlich wird, wieso eine Kultur, die mit dem Juden Jesus die Freiheit des individuellen Bewußtseins begründet, in einem historischen Prozeß der christlichen Orden ein einzigartiges Wirtschafts-, Sozial- und Bildungssystem entwickelt und der Wissenschaft wichtigste Impulse gegeben hat, nicht fähig ist, sich unberechtigter Kritik zu stellen und Alternativen zu menschenfeindlichen Ideologien wie der globalen Arbeitsoptimierung und Religionen wie den Islam abzuwehren, die ihr gemeinsames eschatologisches Ziel im Verschwinden eben dieser Kultur erkennen.

Der notwendigen Beschränkung dieser Thematik kommt das Faktum entgegen, daß die christen- bzw. kirchenkritische Seite des laufenden Meinungsdrucks nicht eigens bearbeitet zu werden braucht, weil sie im herrschenden Mainstream tagtäglich mit diffamierenden und drohenden Untertönen zu Wort kommt und auch in dieser Zeitschrift eingehend diskutiert wurde. In der folgenden Betrachtung soll es daher um den christlich bedingten Makrotrend gehen, also um die Faktoren christlicher Herkunft, ohne die es weder die Kultur Europas, noch deren Freiheit geben könnte. Mit der modernen, anti-jüdisch-christlichen Front pervertiert sie nun zum Angriff auf sich selbst, wobei es nach dieser Ideologik immer öfter heißt, daß sich die Kultur Europas exklusiv dem tausendjährigen Einfluß des Islam verdanke.

Im ersten Teil der Untersuchung werden geistesgeschichtliche Phasen und Einflüsse im Christentum vorgestellt, um einen differenzierteren Blick auf das Entstehen der vielschichtigen Kräfte zu öffnen, die eine unvergleichliche Dynamik in den Wissenschaften und bildenden Künsten ermöglicht, aber auch die Perspektive auf die vernachlässigte, politische Bedeutung Jesu verstellt haben. Sie ist entscheidend, weil sie den Gedanken der Machtbeschränkung und Selbstprüfung enthält, der dem Machtimpuls zu Ausuferung und Totalitarismus, sei er religiös oder säkular bedingt, systematisch entgegensteht. Der zweite Teil befaßt sich mit wesentlichen Aspekten des Kulturprozesses, dessen Ergebnisse im Recht, in der Bildung, Wissenschaft und Sozialmoral auch heute noch die christliche Handschrift erkennen lassen. Umso offener kommt der Zwang der Moderne zum Vorschein, sich immer aggressiver gegen die Altkultur abgrenzen zu müssen. Für die Christen ist es daher an der Zeit, dieser Gewalttendenz mit klaren Worten zu begegnen, mit hörbaren Signalen, die den modern codierten, geistig desensibilisierten Menschen erreichen. Dies bedingt, daß man die Lebenslüge diktierter Dialog-Kompromisse und Scheinharmonie aufgibt und darüber alternativ informiert, daß der „Dialog“ eine Mißbrauchsform der europäischen Freiheitstradition ist, die sich seinem christlichen Feindbild verdankt.

2.   Frühes Christentum und Gnosis

Um der kulturbildenden Komplexität und Dynamik des Christentums auf begrenztem Raum und dennoch plausibel näher zu kommen, muß sich auf einige wenige, umso prägnantere Aspekte und Phasen der Entwicklung beschränkt werden. Dabei können wir uns nicht auf theologische Dispute einlassen, sondern sollten „nur“ deren Resultate und Auswirkungen auf den Kulturtrend als akzeptierte und empirisch erkennbare Tatsachen in Betracht ziehen. So wird die Diskussion sowohl aus Sicht der Offenbarung als auch der riesigen theologischen Literatur vermieden, denn wie der halbjahrhundertjährige „Dialog“ mit stereotyp christophoben Ergebnisse beweist, sind beide Bereiche offenbar für eine objektive Untersuchung unbrauchbar.

Ein kurzer Überblick über die Faktoren, die religionsgeschichtlich als für das Entstehen des Christentums wesentlich gelten, kann diese keineswegs polemische Aussage verdeutlichen. Das Neue Testament als die primäre Heilige Schrift des Christentums erscheint als eine komplexe Mischung aus ihrerseits schwierigen Strömungen, über die indessen weitgehende Übereinstimmung besteht. Danach sind hier Einflüsse des hellenisierten Judentums, des iranischen Lichtglaubens und der griechischen Philosophie eingegangen, die mit anderen Schwerpunkten auch in der gleichzeitig entstehenden Gnosis wirken. Diese Variante eines kosmisch entrückten Gottes hat sich mit dem Erlösungsglauben des frühen Christentums verähnlicht und einige Kirchenväter, vor allem Irenäus, Tertullian, Clemens und Origines, dazu gebracht, von der „gnostischen Häresie“ zu sprechen.

Die entscheidenden Unterschiede zum Christentum, das sich natürlich auf Jesus Christus als Mensch gewordene Offenbarung Gottes und dessen liebende, also akosmische Zuwendung zu jedem seiner Geschöpfe beruft, bestehen in der materiellen Welt als mißlungener Schöpfung und Manifestation des Bösen sowie im „göttlichen Funken“, den besonders Erleuchtete durch ihnen gewährte Gnosis (Erkenntnis) zur Veränderung des – mißlungenen – Diesseits aktivieren können. Daraus ergibt sich ein Dualismus zwischen Gut und Böse, der sich in der anthropologischen Machtschere zwischen Herrschern und Knechten scharf ausprägt. Er verlangt nach Kontrolle der Menschen, aber auch nach Gerechtigkeit, eine quasigöttliche, aber mißbrauchsgefährdete Mittlerfunktion. Sie taucht gleichermaßen in den Magiern Irans, in den Philosophen Griechenlands und in den Pharisäern Israels auf, wobei stellvertretend letztere von Jesus die „Leviten“ gelesen bekommen.

Unterschiedlich intensiv wirken sich die hellenischen Mysterien aus, deren Mythen vom auferstehenden Gottessohn die platonische Philosophie, die iranischen Vorstellungen vom göttlichen Heiland und den jüdischen Messianismus beflügeln. Während sie in der hermetischen Gnosis auch den ägyptischen Sonnenkult integrieren, halten sie an der gnostischen Weltveränderung fest, die als alchemistische Arkandisziplin in den elitären Machtorden der Renaissance und Aufklärung bis heute fortwirkt, und finden auf andere Weise auch Eingang in das Christentum. Dort konzentrieren sie sich in der Gestalt des Jesus Christus, der nun allerdings die Menschen auf eine im Guten gestaltbare Welt vorbereitet. Denn er wirkt Wunder, treibt Dämonen aus, heilt Kranke und empfiehlt den Herrschern, den „ersten Stein“ nur dann zu werfen, vor allem auf Frauen, wenn sie glauben, selbst ohne Schuld zu sein. Indem er mit dem Kreuzestod die Schuld der Welt tilgt, schafft er einen neuen Bund mit Gott, bricht den Unschuldsanspruch der Macht und öffnet die Zeit von der unbewußten Zyklik in den bewußten Geschichtsprozeß, der umso offener wird, je weiter die Erwartung seiner Wiederkunft in den Hintergrund tritt.

In den Vordergrund rückt zugleich der Glaube des Menschen, der mit dem Wunderglauben auch der an sich selbst sein kann, weil mit der Abwehr des „ersten Steins“ auch die Fähigkeit zur Einordnung in und Kritik an der Welt aktiviert wird. Immer deutlicher wendet sich die Zeit, weil Jesus das individuelle Bewußtsein weckt, durch das überhaupt erst subjektive Zeit entsteht, die als Paradox den autonomen Menschen schaffen und zugleich die Macht beschränken kann. Damit lockert sich auch das orientalische Prinzip der Versklavung und Vermassung, an dem schon die Perser gearbeitet hatten, als sie die Juden aus dem Exil entließen. Im weiteren Verlauf entspannten sich ihre Magier zu Priestern, die mit Taufe, Weihe und heiligem Mahl das persische „Geheimnis“ (raz) zwischen Gott, Mensch und Kult lüfteten und somit eine Vorstufe zur christlichen Trinität bildeten (vgl. Alexander Böhlig, Mysterion und Wahrheit, 16 – Leiden 1968). Insofern ist es kein Zufall, daß deren Rituale um den Glaubensvermittler Mithras in der römischen Diaspora mit Jesus als Vermittler des christlichen Heils konkurrierten, das Kaiser Konstantin zur Staatreligion als historische Ausgangsbasis der Römischen Kirche erklärte.

Ebensowenig zufällig etablierte sich im Iran die islamische Abspaltung der Schia mit der Vorstellung vom „Verborgenen Imam“, der als letzter in einer Kette messianischer Imame – ausgehend vom ersten Märtyrer Ali (Schwiegersohn Muhammads) – über den Schutz der Gerechten vor den Mächtigen wacht (vgl. Raddatz, Iran, 54 – München 2006). Hinzu kommt das Prinzip des idjtihad, das eigene, individuelle Urteil über die Führung der Menschen, das an die jesuanische Machtkritik erinnert und in der arabischen Orthodoxie (sunna) verboten ist. Hier wuchs den Schiiten eine geistige Flexibilität zu, die in Philosophie, Mystik, Esoterik, Literatur, Dichtung, Malerei gegenüber dem arabischen Islam eine reichere Denkwelt, nicht zuletzt auch die Revolution ermöglicht hat, die somit weniger eine islamische, sondern eher eine iranisch-schiitische ist. Für beide Bereiche ist Allah der scheinbar gleiche Gott, der die iranischen Gerechten indes eher erlöst als die arabischen. Hier werden Reste der Rechtstradition erkennbar, die im alten Iran die Lüge verbot, während sie der orthodoxe Islam (sunna) gebietet. Dabei praktiziert sie Allah sogar selbst, wenn sie dem „Glauben“ dient. Im islamischen Iran lebte die Lüge zunächst nur fort (taqiyya), um sich gegen die sunnitische Verfolgung zu schützen, die dann das Prinzip ihrerseits übernahm, um die westlichen Kolonisatoren zu täuschen.

Es läßt sich festhalten, daß sich frühes Christentum und Gnosis auf der Basis gemeinsamer, jüdisch-persisch-griechischer Wurzeln etwa vom 2. bis 4. Jahrhundert parallel entwickelten und miteinander interagierten, bis sich Jesus mit der Abwertung elitärer Macht und der Aufwertung des einzelnen Menschen als der diametrale Unterschied begründet und die Alleinstellung des Christentums gegenüber den anderen Religionen bestätigt hatte. Obwohl einzelne Kirchenlehrer weiterhin gnostische Aspekte einfließen lassen, so bildet sich die Gnosis in der Geschichte der Religion, Philosophie und Politik gleichwohl zur antichristlichen Kraft heraus, die sich, wie noch zu zeigen ist, bis in die Moderne fortsetzt. In diesem Kontext ist der Manichäismus wichtig, der unter Verschärfung der Gegensätze christliche Inhalte übernimmt und Jesus zweiteilt, in einen kosmischen Statthalter und einen „Zweiten Menschen“, welcher der Gemeinde erscheint. Eine Sonderrolle spielt der Gnosisprophet Marcion, der auch Gott verdoppelt und in ein schöpferisches Prinzip des Guten und ein erlösendes der Gerechtigkeit auftrennt. Er bekämpft das Alte Testament und die Juden und ist für den religiösen Antijudaismus, die euro-islamische Strategie gegen die jüdischchristliche Kultur sowie die gegen Israel gerichtete Ideologie vom palästinensischen Opfervolk von großer Bedeutung. Alle antichristlichen Strömungen tragen gnostische Züge und konvergieren in einem zentralen Punkt: Das trinitarische Gottesprinzip muß beseitigt werden, weil es die Herrschaft des Menschen über den Menschen unter Berufung auf Gott behindert.

3.   Christliche und ketzerische Vordenker

Das von Jesus gestiftete Prinzip der grundsätzlichen Machtbegrenzung wurde zwar von der klerikalen Herrschaft, der zufolge der „Heilige Geist weht, wo er will“, oft mißbraucht, hat aber seine epochale Wirkung auf das Bewußtsein der Menschen, die Autonomisierung des Denkens und die Kulturkraft der Kirche nicht verfehlt. Als wichtigste Phase des Prozesses gilt der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, der mit Renaissance, Reformation und Aufklärung in die Moderne führt. Damit geht eine Anti-Erlösung einher, die sich nach elitärgnostischem Muster nicht auf das Jenseits vertrösten, sondern mit der Veränderung bzw. Neugestaltung der Welt schon im Diesseits realisieren läßt. Je deutlicher die Regelhaftigkeit der Natur und die Gesetzmäßigkeit des Kosmos erkannt wurden, desto mehr mußten sich die Vertreter des christlichen Gottes befragen lassen, warum sie sich auf die Schöpfung als Offenbarung zurückzogen und der Erforschung der Naturgesetze verweigerten. Denn Jesu Regel, sich die Welt „untertan zu machen“, bezog sich gerade nicht auf platte Machtausübung, sondern konnte sich durch deren Beschränkung über den Glauben hinaus auch auf die Erkenntnis der Welt als Dienst am Schöpfer ausdehnen.

Damit trat das Vexierproblem zutage, das Gott und Mensch als wechselseitige Schöpfer und Produkte ineinander spiegelt und den Menschen umso größer erscheinen läßt, je größer sein Gott ist. Indem der Gottmensch dies bewußtmachte und der Macht systemgerechte, d.h. menschenverträgliche Grenzen zog, setzte er den Ausgangspunkt der Zeitenwende und den zeitlosen Prüfstein für alle Herrschaftsformen. Es dauerte über ein Jahrtausend nach dem Wandel zur römischen Staatsreligion, bis die christliche Theologie ihre philosophischen Mittel zur aristotelisch geprägten Scholastik entwickelt und mit dieser Erkenntnismethode zu einer maßstäblichen Relation zwischen dem Geist des Menschen und der Schöpfung Gottes kam. Damit war ein wichtiger Schritt getan, denn da die Möglichkeiten der Schöpfung unendlich und die Grenzen des Menschengeistes als deren Teil nicht definierbar sind, war auch die Erkenntnis als nicht grenzenloses, aber aktives Vermögen zu spekulativem Denken anzunehmen, das auch dem Glauben entsprach.

Eindeutig aus der christlichen Religionsphilosophie wuchs der Mensch nun zum Selbstgestalter, der sich von der passiven Weltbetrachtung löste und zum Weltbemächtiger aufschwang. Wichtige Vorbereiter dieses Strukturwandels sind Kirchenleute wie Nikolaus Oresmius (gest. 1382) und Nikolaus Cusanus (gest. 1464), die über mathematische und geometrische Überlegungen dem naturgesetzlichen Denken starke Impulse gaben. Dabei griffen beide weit über ihre Zeit mit Relevanz auch für die Gegenwart hinaus. Cusanus, der alle Gegensätze in Gott vereinigt sah, schwebte eine Weltreligion um einen gemeinsamen Kern vor, der sich in der Moderne in der Tat verwirklichen könnte, allerdings anders, als er sie sich vorstellte.

Für ihn war alles Sein in der complicatio Gottes eingefaltet, das sich in der explicatio der Welt unter Mitwirkung des schöpferischen Menschen entfaltete. Im Rahmen der sich selbst steuernden Handlungssysteme der modernen Arbeits-, Konsum- und Kulturdynamik ist oft von einer mysteriösen „Komplexität“ des Weltprozesses die Rede, die durchaus Eigenschaften eines gnostischen Kosmo- Gottes aufweist, weil sie in unerreichbare Sphären entrückt ist, die nicht nach ihrem Sinn befragt werden dürfen (Norbert Bolz). Die ungeheure Vielfalt der Rollen und Labels täuscht dem modernen Menschen eine Wahlfreiheit vor, die indes zum Käfig gerät, weil alle auf dieselben „Optionen“ verwiesen sind. Auch dies ist bereits bei Cusanus angelegt, indem er erkannte, daß die Individualität des Menschen ein illusionäres Ideal ist, weil sie in der Unendlichkeit der Weltvorgänge nur eine Winzigkeit darstellt, während sich die erdrückende Menge des Möglichen verwirklicht und dabei die Individuen verarbeitet – nichts anderes als die Omnipotenz der Macht.

Die Gegenwart liefert die Bestätigung, denn was die „Gemeinschaft“ hier gemeinsam hat, sind ihre systemgerechten Funktionalitäten, die sich aus der Vielfalt der individuellen Talente und dem geldnormierten Verzicht auf eigenes Denken ergibt, der die Abhängigkeit der Menschen vom System verstärkt und der Moderne einen totalitären Anstrich gibt. Daß das Geld eine auflösende Wirkung auf die Gesellschaft allgemein und die Sozialmoral speziell haben kann, wußte schon Oresmius, der vor über 600 Jahren die erste Geldtheorie verfaßte. Mit dem Übergang in die Neuzeit geht ein weiterer Wandel von immenser Bedeutung einher, nämlich derjenige vom Leitmedium Eucharistie zum Leitmedium Geld (Jochen Hörisch), der die Spaltung des Strukturwandels weiter vertiefte, „in die radikale Selbstentmächtigung einerseits, in die ebenso entschlossene Selbstermächtigung andererseits“.

Letztere Aussage stammt von Hans Blumenberg (gest. 2002), der sich wie kaum ein anderer zeitgenössischer Schriftsteller um die „Legitimität der Neuzeit“ auf Kosten des Christentums bemüht hat. Als logischer Gewährsmann dient ihm Giordano Bruno von Nola, der im Jahre 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, weil er den trinitarischen Gott und seine Inkarnation in Jesus Christus geleugnet und damit das Zentrum des Christentums und die Machtbasis der Kirche angegriffen hatte. Er starb nicht, wie oft kolportiert und von den Inquisitionsakten widerlegt, wegen seines Eintretens für die kopernikanische Wende, die ihm gleichwohl den Impuls zu seiner umstürzenden Kosmologie gab.

Nach Kopernikus gibt es keinen bevorzugten Punkt in Raum und Zeit, der sich irgendwie als Basis für ein besonderes Ereignis, geschweige denn eine besondere Welt definieren ließe. Da Gott allmächtig ist, hat er Bruno zufolge auch eine ubiquitäre Schöpfung mit unendlichen Welten realisiert, denen nichts mehr, somit auch keine Inkarnation, hinzugefügt werden kann. Das Universum des Nolaners wird vom gnostischen Prinzip der Weltseele erfüllt, die einem kosmisch entrückten Vernunftgott folgt und von keiner Philosophie oder Theologie erreichbar ist. Mit einem undurchsichtigen Pantheismus aus Lichtmetaphern und esoterischer Mystik trat er in Gegensatz nicht nur zur Kirche, sondern auch zu Galileis Empirismus, der sich 1591 gegen ihn im Wettbewerb um den Lehrstuhl für Mathematik in Padua durchsetzte.

Trotz einiger Logikschwächen übt dessen Kosmologie eine nachhaltige Wirkung auf Aufklärung und Moderne aus. Für das Licht der Vernunft und den Gegensatz von Wahrheit und Irrtum benutzt Bruno – sozusagen als Meta-Irrtum – die Metapher vom Tag-Nacht-Wechsel, dessen Regelmäßigkeit mit Wahrheit und Irrtum natürlich nichts zu tun hat. Die Wiederkehr des Gleichen entspricht zwar der Ablehnung prominenter Raum-Zeit-Punkte, nicht aber der zukunftsgerichteten Grenzenlosigkeit, deren Impetus nicht nur das Christentum, sondern im Grunde jede Religion, die sich auf ein Gründungsereignis beruft, erledigen soll. Insofern liefert der Brunismus die Basis für einen esoterischen Atheismus, den die Aufklärung in der Tat aufgriff. Auch hier spielt das Licht der Vernunft die zentrale Rolle, doch lehnt sie kosmische Hilfe ab, weil sie sich selbst zum Leuchten bringen und die Finsternis auf Abstand halten will.

Dies bedingt, daß die neue Epoche nicht nur ein Glied in der Kette der Kulturevolution ist und ihrerseits ins Vergessen zurücksinkt, sondern ständig neu bleibt. Eben dies ist das Prinzip der Moderne, die sich ohne Anfang und Ende aus sich selbst heraus entwickelt, solange sie die „Fakten“, also die Unendlichkeit der Dingwelt, hinreichend gestalten kann. Dabei hilft Brunos Gott, der sich in der Schöpfung total verausgabt hat, auf zweierlei Weise: Er macht nicht nur dem schöpferisch erleuchteten Menschen Platz, sondern wandelt sich auch zum Naturprinzip, das wissenschaftlich erforschbar und berechenbar wird.

Die systemische Auswirkung auf die Anthropologie könnte moderner nicht sein. In einer Welt ohne Zentrum und Ereignis gibt es auch kein Individuum in der Masse. „Den Menschen“ gibt es nur als Gattung, die mit allen anderen Gattungen Teil einer kosmo-darwinistischen Evolution ist und sich in der Arbeit erlösen soll. Mit der aktuellen Sozialkybernetik (Luhmann), die mit strikten Arbeits-, Konsum- und Kontrollcodierungen in die transhumane Phase des Globalismus eingetreten ist, hat sich Brunos Vision frappierend bestätigt, was auch seinen Erfolg erklärt. Und nicht nur das: Die Ereignislosigkeit des gnostischen Konformismus provoziert einen suchtartigen Massendrang nach Abwechslung, die ständig neue events mit sich bringen soll und den Euphemismus von der Ereignisgesellschaft erzeugt hat.

Die christliche Theologie muß hier nicht unbedingt an Grenzen stoßen, denn Brunos System steht und fällt mit der Totalschöpfung, die er zur Bedingung der Allmacht Gottes macht. Eine Schöpfung mit Inkarnation scheint demnach eines Gottes zu bedürfen, der seine Allmacht nicht ausschöpft, was sich in Jesus ausdrückt. Mit seinen Warnungen an die Mächtigen und die Geldwechsler im Tempel macht der Gottmensch deutlich, daß die Allmacht Gottes nicht ohne Mitwirkung der (elitären) Menschen gedacht wird. Der gängige Einwand geht dahin, daß ein Gott, der sich zur Ausübung der Allmacht zwingen läßt, nicht allmächtig ist. Wie Blumenberg anmerkt, müßte er sich immer wieder neu in Gänze reproduzieren, sobald der Durchlauf einmal begonnen hat. Dieser Vorgang ähnelt nicht nur dem aktuellen Weltprozeß der globalen „Komplexität“, sondern auch der Praxis Allahs, der sich zugunsten seiner Gläubigen in permanenter Weltschöpfung auch selbst reproduziert.

Beide Prozeßformen sind von technischer Art, während der christliche Gott mit einem zeitenwendenden Schöpfungsakt in Gestalt Jesu auf jeden Menschen zugeht. Indem Blumenberg dies als „menschliches Maß der Sukzessivität“ ablehnt, verfängt er sich in der Aporie desjenigen, der die Macht interessengeleitet verschweigt. Er und viele seiner Kollegen reden unentwegt über die Genese von Gottesbildern, ohne auf das Spiegelspiel zwischen Gott und Mensch einzugehen, der zwangsläufig der Elitenmensch ist. Der zeitlose Imperativ der Diskurspraxis verlangt, über Aspekte der Macht zu schweigen, um die Gunst der Herrschenden zu sichern. Nichts anderes als eine übergeschichtliche Selbstanzeige mißbrauchter Macht Gottes kommt daher in der Inkarnation des Gottmenschen zum Vorschein, der eben nicht den Eliten dient, sondern sich als „Décadent“ (Nietzsche) an die Beladenen der Welt wendet.

Alles, was Blumenberg über die Wandlung des Göttlichen berichtet – Bewußtwerden, Gegenständlichwerden, Sich-selbst-aufdringlich-Werden etc. (vgl. Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, Frankfurt 1976) – sind Spiegelungen des menschlichen Ringens um die Rettung der Seelen, deren machttechnischer Aspekt erst durch Jesus und den „ersten Stein“ auf die Agenda der Geschichte gesetzt wird. In deren Verlauf formiert sich der so politische wie eschatologische Gegensatz zwischen gnostischer Technizität und christlicher Humanität, der in der Moderne eine totalitäre Dimension erreicht hat. Dieser Prozeß schreitet solange weiter fort, wie es gelingt, die göttliche Personalität in der trinitarischen Reflexion zu destruieren, die bewußte Existenz des denkenden Menschen aufzulösen, als Funktionsmodule und nützliche Körper in den Prozeß der globalen Vernetzung einzuspeisen und die Zerfallsprodukte der Armut, Krankheit und Entwürdigung problemfrei zu entsorgen.

Damit ist die janusköpfige Konstellation christlicher Macht und ihrer Gegenmacht umrissen, die nach zweitausendjähriger Praxis auf einen gewachsenen Bestand der kulturbildenden Kraft und machtdienlichen Gegenkraft zugreifen kann. Das erstere Potential, das im zweiten Teil des Beitrags vorgestellt wird, setzt sich aus den Faktoren der Politik, Wissenschaft, Bildung, Ethik etc. zusammen, deren christliche Herkunft unumstritten ist, die Gegenkraft betreibt den empirisch nachvollziehbaren, anti-jüdisch-christlichen Trend, der auch die innerkirchlichen, gegen den Stifterwillen gerichteten Machtansprüche umfaßt. Wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht, bedeutet Christentum „nichts anderes“ als einen Maßstab der Macht, der sowohl transzendent als auch polithistorisch anwendbar ist. Indem die Gegenkraft alle Gewalt auf das Christentum projiziert, zielt sie zunächst nicht auf die Masse, sondern auf den Klerus, der sich über die Dogmen indirekt wieder in jene Macht einsetzte, die Jesus verwarf und zum übergeschichtlichen Machthindernis werden ließ.

Daraus ergibt sich die systemische Konsequenz, daß eine christliche Elite, welche die politische, historisch bestätigte Ethik Jesu hervorhebt und zugleich die empirisch erfahrbare Gewaltpathologie und Amoralität der gnostischen Gegenkraft thematisiert, die sich aus der Triade des rechtslinken Extremismus, des Islam und der radikalen Kapitallogik bildet, ein Doppelinstrument von kaum überschätzbarer Wirkung aktiviert. Solange dies nicht geschieht und unter „Dialog“ eine einseitige Aufgabe der rechtlichen, finanziellen und spirituellen Besitzstände verstanden wird, setzt sich die laufende Spirale aus Demutsforderungen an die eigene Klientel und steigenden Machtansprüchen der Gegenkraft fort, die den islamischen Schleichgenozid sowie den Antichristismus und Antisemitismus im Westen weiter antreibt (vgl. NO 6/11).

4.    Angriff auf das trinitarische Prinzip

Die Geschichte des Antichristismus läßt sich in drei Stufen einteilen, auf denen sich die zunehmend aggressive Emanzipation von Gott und Kirche vollzog. Die Renaissance markierte den Aufschwung des Menschen zum genialen Weltschöpfer, der sich noch mit der Kirche arrangierte, aber in der bald folgenden Reformation klare Front gegen den Machtklerus bezog. Die bekanntesten Exponenten sind Martin Luther (gest. 1546) und Johannes Calvin (gest. 1564), deren Gemeinsamkeit darin besteht, der Kirche durch Kontakte zu antikatholischen Fürsten beizukommen und dabei Affinitäten zur Gewalt zu entwickeln. Calvin, dessen Rechtfertigungslehre auf der Basis von Eigentum – vor allem in Amerika – große Bedeutung erlangte, fällte 50 Todesurteile in Genf gegen Geistliche und Gläubige, die sich angeblich „nicht jesusgerecht“ verhalten hatten. Luther wurde nicht nur durch seine Rechtfertigung allein durch den Glauben und die Schrift bekannt (sola fide – sola scriptura), sondern auch durch seine Ausfälle gegen die Bauern und Juden, die aus seiner Sicht kein vollwertiges Leben darstellten und daher einfach totzuschlagen waren.

Nicht zuletzt zeigt sich Luthers Denken von gnostischen Aspekten beeinflußt, indem er Jesus aus der Trinität herausnimmt und ihr von außen anfügt (additus ad eam) sowie einen „Verdienstschatz“ Jesu kreiert, dessen von jedem aktivierbare „Gnade“ den Gläubigen nun zu einem Gerechten macht, der zugleich auch Sünder sein kann (simul iustus et peccator). Damit war der individuelle Bedeutungsgehalt der Offenbarung aufgehoben und die durch Werke erreichbare Erlösung auf eine kollektive Erwartungsebene herabgestuft, die in eine radikale Prädestination und den Lutherismus in die Nähe des Islam führte. Dekalog und Christi Gebote begannen, ihren ethischen Charakter zu verlieren, die Freiheit des Christenmenschen hatte sich im Vertrauen auf das hoch belastbare Sündenkonto der Zumutungen des Gewissens entledigt. Wie der Gnostiker durch den Vorstoß zum Höchsten geadelt wird, so steht der lutherisch reformierte Christ auf einer verantwortungsfreien Glaubensstufe, die keine Sünde beflecken kann, weil sie in der Rechtfertigung durch Gott steht.

Nachdem die ersten Breschen in das trinitarische Prinzip geschlagen waren, setzte sich ein konsequenter Abbau der kirchlichen Deutungsmacht in Gang, der vom herkömmlichen Gottesbild über den Theismus der neuzeitlichen Wissenschaft und den Deismus der gelehrten Aufklärung mit ansteigend antichristlicher Note in die agnostische bzw. atheistische Christenfeindschaft der Moderne führte. Allerdings ließ ein „mündiger Atheismus“ (Winfried Schröder), der den Antiklerikalismus überstieg, bis in die Neuzeit auf sich warten. Ein Bewußtsein für die Nichtexistenz Gottes kam nur langsam auf, weil dies dem sozialen Konsens schlicht abwegig erschien.

Erst mit der zweiten Stufe der säkularen Emanzipation weitete sich das Denken in Dimensionen, die eine solche Möglichkeit in Betracht ziehen ließen. Dies wird wesentlich markiert von Descartes und Leibniz, die die philosophischmathematische Moderne anschoben sowie Hobbes und Spinoza, die deren philosophisch- politischen Merkmale entwickelten. Zwar halten sie alle noch an einem Gottesbegriff fest, der bei den ersten drei mehr oder weniger christlich und bei letzterem jüdisch konnotiert ist, doch spielt die trinitarische Besonderheit keine wesentliche Rolle mehr. Eher kommt die Frage nach Gut und Böse hoch, die Leibniz die Theodizee schreiben ließ und Hobbes’ Staatsmodell des Leviathan zur Kampfarena der Machtinteressen machte.

Descartes nimmt eine Sonderstellung ein, weil er mit dem Cogito das Denken mit dem Sein verknüpfte sowie Zweifel und Prüfung als Wissenschaftskriterien einführte, um die Erkenntnis vor den möglichen Täuschungen durch einen genius malignus zu schützen. Damit schuf er einen Typus des denkenden Menschen, der politische Willkür zwar säkular, aber ähnlich behindert wie die jesuanische Machtblockade. Der aktuelle Diskurs macht ohnehin keinen Unterschied mehr zwischen Politik und Religion, indem hier eine neognostische Gottesversion des „ganz Anderen“ kultiviert wird und die Protagonisten des politkulturellen Mainstream das cartesische und trinitarische Prinzip in ein vergleichbar aggressives Fadenkreuz nehmen.

So verschieden die führenden Köpfe der Neuzeit sind, so gemeinsam führten ihre Denksysteme in die Gewöhnung an den Atheismus als eine gesellschaftliche Kraft, die mit dem Aufkommen antikirchlicher Geheimbünde auch politische Bedeutung gewann. Die Entwicklung beunruhigte die Zeitgenossen umso mehr, als sich ihre Vernunft, die auf Gottes Existenz beruhte, nun mit einer natürlichen Vernunft konfrontiert sah, die sich aus Mathematik und Naturwissenschaft herleitete und dennoch nicht unbedingt atheistisch sein mußte. Aus dieser Dialektik folgte der Deismus als die offenbarungsfreie Naturreligion der Aufklärer. Sie wollten fest an das glauben, „was allen Menschen guten Willens gemeinsam ist“, konnten dies nicht näher bezeichnen, scheuten aber den ultimativen Absprung ins Nichts, in die von Gott zu räumende Leere. Zum Ausgleich dieses Dilemmas hielten sie an einer anonymen Kraft fest, die Kosmos und Natur steuern und den Menschen einsetzen sollte, deren Potentiale zu nutzen – die moderne Fassung der Gnosis.

Das Tandem aus Gnosis und Atheismus entpuppte sich als intrinsisches Merkmal der antikirchlichen Säkularisierung, die nicht nur von der Bibelkritik weiter vorangetrieben wurde. Von ganz besonderer Wirkung erwiesen sich allerdings die Schriften von Kant, Fichte und Hegel, die der Moderne einen enormen Impetus verliehen. Der Zwiespalt zwischen wissenschaftlicher Ratio und dem Gottesbegriff als Basis der natürlichen Vernunft, wie er in Nietzsches „Gottesmord“ durchbricht, schürte existentielle Ängste. Daran ist bemerkenswert, daß die neuen Ketzer dennoch nicht umgebracht, sondern diskutiert wurden, während man zugleich den Islam als Kulturspitze verklärte, der seine Ketzer und Christen bis heute umbringt. Hier kam eine neue Qualität moderner Gewaltneigung zum Vorschein, die Schuldzuweisungen mit Freiheit verwechselt. Seither ist es der „Blick auf Kreuzzüge und Inquisition“, flankiert durch den aktuellen „Blick nach Rechts“, der die Lizenz zu schuldfreier Diffamierung und Gewalt gegen Christen erteilt.

Natürlich darf bei diesem Thema der Kirchenfeind Voltaire nicht fehlen, dessen Anfrage jeden Glaubensfanatiker und ideologischen Atheisten, mithin auch die radikale Avantgarde des Kulturdialogs betrifft: „Was soll man einem Menschen entgegenhalten, der sagt, er wolle lieber Gott als den Menschen gehorchen, und daher überzeugt ist, in den Himmel zu kommen, wenn er einem den Hals abschneidet?“ Der große Praxisphilosoph war nicht der erste, der die Austauschbarkeit jeglicher „Vernunft“ erkannte, welche die Vernichtung des Mitmenschen mit der gleichen Begründung fordern kann wie der religiöse Fanatiker. Der Unterschied war und ist rein machttechnischer Art und besteht darin, die Erfüllung strikter Gottesregeln durch die Befolgung eines Säkularprinzips zu ersetzen, das wie die Jakobiner und westlichen Extreme der Klasse und Rasse bewiesen, oft selbst gottähnliche Formen annimmt. Da dies wiederum von der politischen Relevanz des „ersten Steins“ in Frage gestellt wird, ist der trinitarische Gott das Feindbild einer jeden gewaltorientierten Ideologie, die sich nun in Gestalt der euro-islamischen Allianz im Orient und in Europa gegen die Christenheit richtet. Dabei spielt der Begriff der Islamophobie eine Schlüsselrolle, weil er sich perfekt eignet, als verbaler gelber Stern die Fanatiker des herrschenden Trends in die Doppelfunktion des Anklägers und Richters über jüdisch-christliche Lebensformen einzusetzen.

Hermann Reimarus (gest. 1768), Kritiker des klerikalen Christentums und des Materialismus zugleich, beharrte gleichwohl auf Kernpunkten der Religion wie Gott und Auferstehung, weil ihm die willkürlichen „Erdichtungen“ der Atheisten suspekt waren. In der Tat liegt hier eine der Gnosis verwandte Schwäche, die den dualistischen Abgleich zwischen Natur und Abstraktion meidet und auf dem einbahnigen „Weg als Ziel“ zu utopischem Denken zwingt. Darin entstehen Vorstellungen, die sich je nach Machtlage auch zu „Fakten“ verdichten, so daß Wunschwelten neue Wirklichkeiten erzwingen und reflexhafte Gedanken zu blindem Handeln führen können. Hier vollzieht sich gnostisches Denken, das machtbedingte Erfolge zeitigt, aber da es ablehnt, sich überprüfen zu lassen, oft genug in Ideologie und Gewalt umschlägt. „Durch unleugbare Beobachtungen in die Enge getrieben‘ … geben sie ihren Standpunkt nicht auf, sondern verlegen sich auf wissenschaftlich unseriöse Ausweichmanöver“ (Schröder, a.a.O., 84), ein Verfahren, das auf alle Ideologen, damit auch auf die Neognostiker des 21. Jahrhunderts zutrifft.

5.   Die strategische Alternative

Die Zahl der kirchenfeindlichen Mainstream-Profiteure ist inzwischen Legion, wobei sie ihre Deutungshoheit über den modernen Gesellschaftsprozeß ständig weiter ausbauen. Wie die hier vorgelegten Betrachtungen belegen und die kirchlichen Kulturimpulse und ihre Gegner im zweiten Teil erhellen werden, gibt es keine Beweisnot dafür, daß sie alle – intellektuelle Gnostiker, klassische Atheisten oder einfache Kirchenkritiker – auf unterschiedlichem Niveau und mit vergleichbar wachsender Radikalität einen gemeinsamen Kampf gegen die Kirche führen. Dieser unter Schwankungen ablaufende, ungebrochene Trend ist wesentlicher Träger des herrschenden Meinungsprozesses und läßt zwei Abteilungen erkennen.

Die erste konzentriert sich auf die Destruktion des trinitarischen Prinzips als Feindbild der von der links-rechten Nachfolge geprägten, zunehmend undemokratischen EU-Staaten und ihrem islamischen Partner, die zweite arbeitet an der Diffamierung und Destabilisierung des Klerus, die umso rascher voranschreiten, je eilfertiger die Forderungen der Gegenseite erfüllt werden. Nach dem Steigerungsprinzip der Moderne ist der „Dialog“ als Teil der kybernetischen Sozialtechnik nicht abschließbar, sondern erzeugt mit jeder Erfüllung weitere Forderungen und Drohungen, die ihrerseits weitere Gehorsamshorizonte öffnen und so fort. Dieser sich selbst verstärkenden Spirale, die vom konformen, oft vorauseilenden Unterwerfungsdrang aller Institutionen gestützt wird und sich mit den Expansionsinteressen der islamischen Organisationen vernetzt (s.o.), kann nur mit dem dargelegten Verfahren begegnet werden. Nur wer sich außerhalb des Systems stellt, von Reaktion zu Aktion übergeht, eigene Kommunikationswege schafft und eine offensive, nachhaltige Informationsstrategie entwickelt, wird rasch auf Aufmerksamkeit stoßen, nicht nur weil das christliche Konzept zeitlos konstruktiv und gemeinwohlfördernd wirkt, sondern weil sich die Fehlentwicklungen des antichristlichen Systems in Wirtschaft, Arbeit, Politik, Bildung, Finanzen und Kultur exponentiell aufstauen.

Im Zentrum einer solchen Strategie steht das Alleinstellungsmerkmal des Christentums, das als einzige Religion auf das Gründerprinzip der Machtbegrenzung verweisen kann und daher auf dem trinitarischen Gottesbegriff als deren logischer Struktur beruht. Kaum zufällig bildet dieses Prinzip das wichtigste Angriffsziel der antichristlichen Aggression, die ihrerseits auf eine lange Tradition esoterischer Machtorden zurückgreifen kann. Hier läßt sich wieder an Bacon anschließen, dem mit dem „Haus Salomon“ eine elitäre, staatsfinanzierte Organisation vorschwebte, „um die Ursachen, Bewegungen und verborgenen Kräfte der Natur zu erkennen, die menschliche Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen zu erweitern“.

Damit war bereits der Funktionszweck der modernen Machtmaschine umrissen, die heute in der Tat die Belastungsgrenzen der Masse austestet. Auch an die notwendige Täuschungsroutine hatte Bacon gedacht, die jede Herrschaftsform beachten muß, um die Masse unter Kontrolle und sich selbst an der Macht zu halten.. „Wir haben … ein Haus der Blendwerke, wo wir alle möglichen Gaukeleien, Trugbilder, Vorspiegelungen und Sinnestäuschungen hervorrufen“ (zitiert im Metzler Philosophen-Lexikon, 78). Der Vertrauensbonus der Beherrschten bzw. das Lügenprivileg der Eliten bildet einen integralen Bestandteil des anthropologischen Gefälles zwischen den Wenigen und den Vielen. Dazu gehören nicht zuletzt auch die Hofschreiber aller Zeiten, die Intellektuellen, Professoren, Experten sowie sonstigen Profiteure und Trittbrettfahrer, die heute den riesigen Troß des „interkulturellen Dialogs“ bilden und dessen Täuschungstaktik mit gleichgerichteten Medien und Zitierkartellen ständig weiter ausbauen.

Einer aus der gehobenen Sparte ist Rainer Marten, ein Heidegger-Schüler, der versucht, vom philosophischen Welterfolg des Meisters zu profitieren, aber nicht ganz an dessen so schwer verständliche wie täuschende Sprache heranreicht. Während zu letzterem noch einiges im zweiten Teil zu sagen ist, bietet Martens Sujet den Vorteil, den neueren Stand der Praxisphilosophie und deren Christenfeindschaft zu studieren. Dieser Autor erweist sich als talentierter Destrukteur, der nicht nur bei Heidegger, sondern offenbar auch bei Derrida gelernt hat. Der stellt selektiv negative Aspekte eines Sachverhalts konzentriert dar, um den Gesamtkomplex zu verwerfen und den Diskurs in die Gegenposition zu lenken. Martens Bücher drehen sich um die Nähe von Philosophie und Religion, deren Gemeinsamkeit darin bestehe, Unmögliches zu behaupten, was der radikalen Aufklärung neue Impulse geben könne, weil die Festlegung auf das Mögliche als das Wirkliche den Menschen allzusehr einenge. (Die Möglichkeit des Unmöglichen, Freiburg 2006).

Damit ist das Programm des autonomen Menschen beschrieben, wozu Martens Heidegger-Zitat paßt, daß eine Rechtfertigung des Menschen weder nötig noch möglich sei. Warum das so ist, sucht er an einer derridaesken Verzeichnung des jesuanischen Ereignisses festzumachen, wobei angejahrte Stereotypen der Bibelkritik Verwendung finden. Jesus wird als läßlicher Scharlatan beschrieben, der Scheinwunder vollbringt sowie Scheinlohn und Scheinstrafe im Jenseits für das Verhalten im Diesseits in Aussicht stellt. Maßstab dafür ist der Glaube, dessen Mangel auch schon die diesseitige Existenz ins Defizitäre verschiebt. Das habe nun zur Folge, so Marten, daß sich der Christ spalte zwischen den Extremen der Jenseitssucht und der Omnipotenz, weil die Wunder immer Glauben, der Glaube immer Lohn und der Unglaube immer Strafe erzeuge (Radikalität des Geistes, 99ff. – Freiburg 2012). Indem er nun eine Wunschstruktur vor sich hat, zieht Marten als geschulter Philosoph daraus die richtige Konsequenz: „Was schlechthin unglaublich ist, das läßt sich, um ein fruchtbares Paradox zu formulieren, nunmehr glauben. Damit der Glaube das aushält, bleibt er seinen eigensten Möglichkeiten entrückt. Wenn es nämlich gelänge, ohne jede Kleingläubigkeit zu glauben, würde Jesus an Macht gleich“ (Hervorh. v. Verf.).

Diese Quintessenz entspricht auffallend genau der politischen Logik des Jesusereignisses, nach welcher der Gottmensch nicht nur die Macht seiner Zeit in die Schranken weist, sondern auch die Inhumanität übergeschichtlicher Macht sichtbar macht, indem er sie mit der Kreuzigung des Machtlosen zur Selbstoffenbarung zwingt. Diese Spiegelseite der Offenbarung kommt nicht zum Austrag, weil der Autor auf den zentralen Aspekt des „ersten Steins“ verzichtet. Das hat zur ebenso logischen Folge, daß ihm die Hinwendung Jesu an die Schwachen und die Sünder wie Zöllner und Huren fremd bleibt, gerade weil der „erste Stein“ sich auf letztere bezieht. Gleichwohl leistet er keinen kleinen Beitrag zu unserer Untersuchung, weil die stimmige Destruktion die konstruktive, trinitarisch abgesicherte Gegenkraft des christlichen Glaubens zum Vorschein bringt. Insofern kann auch keinerlei Rede von irgendeiner „Selbstentrückung“ des Glaubens sein, weil die politische Relevanz Jesu ein empirisch nachprüfbares Faktum ist, das wie hier vorgestellt, durch mehrere Epochen antichristlicher Strömungen mit bedrohlich ansteigender Tendenz bestätigt wird.

Dr. Hans-Peter Raddatz, Orientalist und Finanzanalytiker, ist Autor zahlreicher Bücher über die moderne Gesellschaft, die Funktionen der Globalisierung und den Dialog mit dem Islam.

Quelle: Die Neue Ordnung, Nr. 6/2012, Jahrgang 66 (www.die-neue-ordnung.de)

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 8. Januar 2013 um 18:06 und abgelegt unter Christentum weltweit, Gesellschaft / Politik, Theologie.