Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Wie nötig, dieses Selbstopfer! (Karfreitagspredigt über Hebr 9,15.24-28)

Freitag 6. April 2012 von Pfr. Dr. Tobias Eißler


Pfr. Dr. Tobias Eißler

Hundert Jahre sind es nun her, dass die „Titanic“ unterging. Auch das Evangelische Sonntagsblatt erinnert an die berühmte Katastrophe am 15. April 1912, und zwar mit folgender Personalie: Unter denen, die miterlebten, wie das sicherste Schiff der Welt Zentimeter um Zentimeter absackte, war Josef Benedikt Peruschitz: ein 41-jähriger katholischer Pfarrer aus Oberbayern, Lehrer für Mathematik, Musik und Turnen an der Benediktinerabtei Scheyern, unterwegs nach Minnesota, USA, um dort ein katholisches Gymnasium aufzubauen. Jeden Tag gestaltete er zusammen mit einem anderen Pater Gottesdienste an Bord für die Passagiere zweiter und dritter Klasse. Die erste Klasse feierte exklusiv mit Kapitän Edward John Smith. Am 14. April herrschte kurz vor Mitternacht Hochbetrieb in den Bars: Trinken, Lachen, Feiern – als das 269-Meter-Schiff von dem Eisberg erwischt wird. Die sechs kleinen Risse im Rumpf sind so ungünstig verteilt, dass die absichernden Trennwände nichts nützen. Als sich das herumspricht, bricht Panik aus. Das Personal dirigiert Frauen und Kinder in die Rettungsboote, von denen es viel zu wenige gibt. Josef Benedikt Peruschitz, dem Priester, wird respektvoll ein Platz angeboten. „Er hat es abgelehnt“, berichtet ein Überlebender, „und dafür seinen Sitz einem anderen Mitreisenden überlassen“. Mit erhobenem Sterbekreuz eilt der Pfarrer von Kabine zu Kabine, tröstet und segnet. Fast alle Passagiere habe er auf den Knien angetroffen, heißt es, betend und flehend. Im Kloster Scheyern erinnert eine bescheidene Gedenkplakette an den Benediktiner, der auf jenem Unglücksschiff sein Leben hingab.

Einer verzichtet. Einer opfert sich. Ein anderer steigt ins Rettungsboot. Ein anderer kommt mit dem Leben davon. Eben dies geschieht an jenem Vorbereitungstag des großen jüdischen Festes in Jerusalem. Darum geht’s an jenem scheußlichen Holzkreuz von Jesus, sagt der Hebräerbrief: „damit durch seinen Tod…die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen“.

Ach, keine sinnlose Hinrichtung? Vielmehr: eine sinnvolle Selbstaufopferung? Genau. Der Hebräerbrief leitet uns an, still und staunend unter dem Kreuz stehen zu bleiben. Und zu begreifen:

1. Dieses Selbstopfer – wie nötig!

Wenn der Schiffsrumpf nicht mehr dichthält und das eiskalte Wasser immer höher steigt, dann brauchst du um alles in der Welt einen Platz im Rettungsboot. Und wenn dort schon alles besetzt ist, dann brauchst du das wahnsinnige Glück, dass einer abwinkt und dir den Vortritt lässt. Klar, solch einen Retter musst du haben, wenn es darauf ankommt!

Aber einen Retter wegen der „Übertretungen“, von denen der Hebräerbrief spricht? Einen Erlöser von Sünden? Ein Opfer bloß wegen der paar Fehler und Missgeschicke im Leben? Klar, da läuft mal etwas schief! Gut, da vergreift man sich mal in der Wortwahl! Okay, da kommt mal etwas ziemlich negativ rüber! Aber das gehört eben auch zum Leben, oder nicht? Ist doch kein Beinbruch! Lässt sich wieder einrenken oder lässt sich einfach vergessen! So reden wir unsere Schuld klein. So reden wir unsere Schuld weg. Nein, widerspricht das Gotteswort, sie lässt sich nicht kleinreden oder wegreden. Sie hängt an. Sie wiegt schwer. Sie zieht nach unten: diese schwarze Kette in der eigenen Lebensgeschichte.

„Wenn wir uns streiten“, erzählt der Mann seinem Freund, „wird meine Frau immer gleich historisch!“ „Na, du meinst hysterisch“, wirft der Freund ein; „sie regt sich hysterisch auf“. „Nein, sie wird historisch“, stellt der Ehemann klar. „Sie hält mir jeden Fehler, jede Lieblosigkeit, jedes falsche Wort der letzten zehn Ehejahre in historischer Vollständigkeit vor.“

Wenn es Streit gibt, kommt es freilich zu verkehrten und überzogenen Vorhaltungen. Aber es taucht auch Wahrheit auf. Schuld am Mitmenschen. Sünde gegenüber Gott. Vielleicht können wir sie wegargumentieren. Vielleicht können wir sie verdrängen. Vielleicht können wir 60, 70, 80 Jahre mit der Leiche im Keller leben. Das funktioniert aber dann nicht mehr, wenn Gott nachzubohren beginnt. Wenn er Rechenschaft von uns fordert. Es ist „den Menschen bestimmt“, „einmal zu sterben, danach aber das Gericht“. Ganz unvermittelt taucht dieser Lehrsatz auf. Ziemlich unangenehm kommt er mir entgegen. Das Gericht Gottes? Ist das nicht eine fiese Erfindung des finsteren Mittelalters? Ist das nicht eine bloße Formel bei der Beerdigung: „er sei dir gnädig im Gericht“? Ist das nicht etwas für die Schwerkriminellen, für Großbetrüger, Kriegsverbrecher, Diktatoren? „Es ist den Menschen bestimmt“, „einmal zu sterben, danach aber das Gericht“. Jeder wird am Ende gefragt nach den Übertretungen der Gebote, heißt das. Haben sie das geahnt, die Unglückspassagiere an Bord der Titanic, als sie zuletzt in ihrer Kajüte knieten? Jeder wird gefragt. Nach Übertretung. Nach Menschenverletzung. Nach Gottesmissachtung. Jedem wird seine Verantwortung aufgezeigt. Jedem wird die Konsequenz der Gottestrennung angedroht.

Und jetzt? Bin ich bedroht! Verantwortlich! Schuldbelastet! Was soll ich tun? Das soll ich tun: Aufs Kreuz schauen. Auf ihn schauen. Wie der Terrorist am Kreuz neben Jesus zu ihm herüberschaut. Der Mann, der plötzlich seine ganze Schuld spürt, bittet um Rettung. Jesus nickt ihm zu. Jesus stirbt dahin – eben dies ist die Rettung. „Christus ist erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben.“ Rettung für notorische Übertreter. Für hoffnungslos Verschuldete. Für echte Gottesfeinde.

Dass unsere Sünde Gott trifft und Jesus ans Kreuz bringt, fasst Pfarrer David Jaffin in den bedenkenswerten, kantigen Satz: „Nur wer Jesus umgebracht hat, kann von ihm gerettet werden.“ „Nur wer Jesus umgebracht hat, kann von ihm gerettet werden.“ Gemeint ist: Nur wer sich eigene Sünde eingesteht, gerichtswürdige Sünde, Sünde, die sich der Gekreuzigte auflädt, eben derjenige wird herausgerettet aus dem Untergang durch den Mann am Kreuz. Dieses Selbstopfer – wie nötig!

2. Dieses Selbstopfer – wie einmalig!

Das, was sich Josef Benedikt Peruschitz zugemutet hat, das kannst du logischerweise nur einmal machen im Leben. Einmal kannst du diesen Preis bezahlen. Weil du nur ein Leben hast.

Jesus hat nur ein Menschenleben. Er gibt es her. Er setzt es ein. Weil es das einzige ist, was wirklich rettet. Aber nein, so könnte damals jemand einwenden, der im jüdischen Denken zuhause ist, wir aus dem Israelvolk benötigen nichts Neues, Rettendes, Erlösendes. Wir haben den Tempel. Wir haben die Priester, die täglich Tieropfer schlachten. Wir haben die Zusage des Gotteswortes, dass dieser Ritus wirklich hilft: „So soll der Priester die Sühnung für ihn vollziehen vor dem HERRN, und ihm wird vergeben, was er getan und womit er sich verschuldet hat.“ Wenn das Tier sein Leben lässt, wenn die Blutstropfen an den Altarhörnern abperlen, wenn das Fleisch in Feuer und Rauch aufgeht, dann geschieht: Schuld-Verbrennung, Schuld-Wiedergutmachung, Schuld-Befreiung. So dass Gott den Menschen wieder ertragen kann. Und der Mensch wieder mit Gott kann. Mit ihm reden. Auf ihn bauen. Von seiner Zuwendung leben.

Der Verfasser des Hebräerbriefs, vielleicht Paulus selbst oder jemand aus seinem Mitarbeiterkreis, kennt die alte Opfer-Ordnung. Es ist Gottes Ordnung, hilfreich und lehrreich. Aber doch nur eine vorläufige Ordnung. Das kann man schon daran erkennen, dass die Opferdarbringungen täglich wiederholt werden müssen. Der Altardienst bringt nichts, was endgültig und umfassend erlöst. Tierblut, Menschen im Priesteramt, ein irdischer Tempel mit einem verbotenen heiligen Raum – das kann nur eine vorbereitende Ordnung sein. Was sie vorbereitet? Die Großtat von Jesus: „In der Vollendungszeit ist er ein für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben.“ Der Mann aus Nazareth, von den Soldaten an ein Kreuz geheftet, schlüpft in die Rolle des Priesters. Was bringt er als Opfer dar? Sich selbst. Welches Opferblut sprengt er an den Altar? Sein eigenes. Welcher Gottesdienstbesucher wird dadurch von Schuld befreit? Jeder in der weiten Welt; jeder, der auf Jesus zugeht. Befreit von welcher Schuld? Von aller Schuld; von schwerer, offensichtlicher, massiver und subtiler, verborgener, giftiger Schuld. Und nun ist der Zugang eröffnet? Ja, aber nicht zu einem alten Tempelraum, sondern zum Himmel. Zum Thron des Herrlichen. Zu deinem versöhnten Vater, der dir von Herzen gut ist. Ein für alle Mal. Heute. Morgen. An den Tagen der Ewigkeit, die du erleben wirst. Hört sich fast zu schön an, um wahr zu sein, oder nicht?

Dann darf das also aufhören, das ständige und unausrottbare Mühen des Menschen darum, bei Gott gut anzukommen und Gott gnädig zu stimmen?

Von Sisyphus erzählt der griechische Mythos: er sei dazu verdammt worden, einen Felsbrocken den Steilhang hinaufzurollen. Kurz vor dem Gipfel machte sich der Felsbrocken jedes Mal selbstständig, polterte hinab und die Sisyphus-Arbeit begann von neuem.

Sich selbst zu Gott hinaufarbeiten, eigene Schuld abarbeiten, den Zugang zur Gnade erarbeiten wollen: das sind Sisyphus-Mühen. Jesus beendet sie. Glaube: ist kein Erarbeiten, sondern Empfangen. Gottesdienst: ist kein geschuldetes Abbüßen, sondern befreiendes Beschenktwerden. Beten: ist kein Gnädig-Stimmen, sondern ein Berührtwerden von der Gnade. Christenleben: ist kein Abarbeiten von Schuld, sondern der aufrechte Gang der Schuldbefreiten. Das ist die neue Ordnung. Die ein für alle Mal gilt und ausreicht. Seit dem einen Augenblick, in dem der Mann am Kreuz seinen Todesschrei ausstößt und uns zum Priester und zum Opfer wird. Dieses Selbstopfer – wie einmalig!

 3. Dieses Selbstopfer – wie zukunftsträchtig!

Wer stieg in der Titanic-Unglücksnacht ins Rettungsboot anstelle von Josef Benedikt Peruschitz? Jemand, der dankbar aufatmete. Jemand, der den sicheren Hafen erreichte. Der plötzlich wieder Zukunft hatte, 10, 30, 50 Jahre Leben.

Der Verbrecher am Kreuz, der sich demütig bittend an Jesus wendet, hat plötzlich eine Zukunft vor sich. Ein neues Leben bei Gott. Beobachter am Kreuz wie der Chef des Hinrichtungskommandos, wie das Regierungsmitglied Nikodemus, wie die entsetzten Jünger haben ein neues Leben vor sich. Seinen  Zielpunkt beschreibt der Hebräerbrief so: „Christus ist einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.“ Der mit den Nägelmalen in Händen und Füßen ist im Kommen. Er wird königlich auftreten, unübersehbar, nach allen Seiten rufend. Welch eine Freude für die, die ihm entgegenleben! Welch ein Schrecken für die, die ihn als historische Figur und religiöse Karfreitagstradition in der Schublade abgelegt haben! Ihnen tritt er entgegen mit der Frage nach der Schuld, nach der Sühne und nach dem, was sie vor Gott rechtfertigt.

Martin Walser, der Schriftsteller aus Überlingen, fragt in seinem Alterswerk plötzlich nach Rechtfertigung. „Wir leben“, meint er, „seit langem ohne Bedürfnis nach Rechtfertigung…Rechtfertigung wird ersetzt durch Rechthaben“. Der 85jährige tastet nach Luther, Calvin, Karl Barth: sie wussten doch, was rechtfertigt. Wie man stehen kann vor Christus, dem ankommenden König. Wie man bestehen kann vor Gott, dem dreimal Heiligen.

Ich kann es, indem ich unter das Kreuz trete. Das Großgeschenk des Gekreuzigten in Anspruch nehme. Heute schon freien Zugang habe zu meinem versöhnten Vater, der mir von Herzen gut ist. Und eine ganze Zukunft bei ihm habe voller Herrlichkeiten.

Nur eins, mahnt der Hebräerbrief: Bleibe in der Gemeinde! Bleibe im Glaubensgespräch! Bleibe im gemeinsamen Dienst! Bleibe im Rettungsboot! Damit dein Glaube nicht herunterkommt, deine Hoffnung, dein Ausblick auf den wiederkommenden Herrn.

Sein Selbstopfer – wie nötig, wie einmalig, wie zukunftsträchtig! Amen.

Pfr. Dr. Tobias Eißler, Gunzenhausen
6. April 2012

 

 

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 6. April 2012 um 16:30 und abgelegt unter Predigten / Andachten.