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„O Mensch, weißt du Bescheid?“

Mittwoch 24. November 2010 von Pfr. Dr. Tobias Eißler


Pfr. Dr. Tobias Eißler

Predigt: „O Mensch, weißt du Bescheid?“
(Römer 2,1-11)
 

Der Name des jungen Mannes aus Pakistan klingt eigenartig: Aziz heißt er. Bräunliche Hautfarbe, schwarze Haare. Im Jahr 2000 flüchtete er nach Deutschland. Die Behörden zuhause waren ihm auf den Fersen. Aziz hatte an Demonstrationen gegen die Militärregierung teilgenommen. Im Asylbewerberheim in Sachsen lernte er eine 70jährige freundliche Frau kennen, die dort Besuche machte. Sie lud ihn zum Gottesdienst ein. Nicht lange danach entschloss sich Aziz, Jesus Christus zu vertrauen. Und nicht länger der islamischen Religion. Die Frage, warum er seinen Glauben gewechselt habe, beantwortet er so: „Es war die Liebe, die ich erfahren durfte. Dass Gott die Menschen so sehr liebt, dass er sich durch Jesus Christus selbst opfert und stirbt, damit die Menschen erlöst werden, das gibt es so nicht im Koran.“ Um diese Zeit bekam Aziz den Bescheid des Verwaltungsgerichts, dass sein Asylantrag abgelehnt sei. Zurück nach Pakistan, bedeutete das, wo sie ihn vor Gericht stellen würden aus politischen Gründen. Brandgefährlich für einen Christen, der in Pakistan nicht nur mit dem Gefängnis, sondern mit dem Tod rechnen muss. Die Freunde aus der Kirchengemeinde in Sachsen machten einen Rechtsanwalt ausfindig, der sich für den bedrohten Asylbewerber einsetzte. Es sah nicht gut für ihn aus. Doch nach vielen Eingaben, Verhandlungen und Ablehnungen kam im Mai 2009 doch der ersehnte Bescheid: keine Abschiebung, sondern dauerhaftes Bleiberecht. Jubel und Freude bei dem jungen Christen und seinem Rechtsanwalt! Auf Jubel und Freude soll es auch bei uns hinauslaufen. Gerade deshalb mutet es uns der Apostel Paulus zu, die Gefahr zu erkennen, die von einem Hohen Gericht ausgeht. Nur wer sie erkennt, versteht auch den rettenden Ausweg. Persönlich und leidenschaftlich spricht uns der Apostel in Römer 2 an, und zwar in zweifacher Hinsicht:

1. O Mensch, weißt du nichts von Gottes Gericht?
Das wird dem jungen Mann aus Pakistan schon klar gewesen sein, dass er es hier in Deutschland mit Ämtern und Gerichten zu tun bekommt. Aber dass es so schwierig werden würde, sich angesichts der Bedrohung im Heimatland hier in Sicherheit zu bringen, dürfte ihn überrascht haben. Auf einmal hängt das Leben von einem Richter ab. Von seiner Betrachtungsweise. Von seinem Urteil. Am Ende hängt dein Leben von Gott, dem Richter, ab. Von seiner Betrachtungsweise. Von seinem Urteil. So lautet die gewichtige Mitteilung in diesem Kapitel der Bibel. Eine gewichtige Mitteilung an jeden Menschen, der über diese Erde geht. „Wie bitte“, möchte ich empört zurückfragen: „Gott soll ein Richter sein? Gott will irgendetwas über mein Leben verhandeln? Gott befindet es für nötig, ein Urteil zu fällen? Was soll denn das? Bin ich denn ein Asylant? Oder ein politischer Extremist, der mit den Gesetzen in Konflikt gekommen ist? Oder so etwas wie ein Kleinkrimineller: ein Taschendieb, ein Computerhacker, ein Autozerkratzer, dem die Polizei mit Recht auf die Finger klopft?“ Strafverfolgung muss sein, das können wir ohne weiteres verstehen. Gericht muss sein. Gerechtigkeit muss sein. In diesen Tagen bekam ich eine Zeitung in der Hand, die eine Begebenheit aus dem Jahr 1938 erzählt. Viele Eltern tauchten mit ihren Kindern auf dem Nürnberger Bahnhof auf. Sie sagten ihren Kindern, dass sie nun eine schöne Reise nach England unternehmen dürften. Die Kinder wurden in den Zug gesetzt. Manche erst drei Jahre alt. Weinend winkten sie aus dem Fenster. Manche von ihnen sahen ihre Eltern nie wieder. Die Aufnahme in England rettete ihnen das Leben. Nach den Angriffen auf die Juden in der Reichsprogromnacht vom 9. November fingen die Nazis damit an, jüdische Mitbürger in die KZ-Todeslager abzutransportieren. Wieviele von denen, die verantwortlich waren und die mitmachten, wurden später zur Rechenschaft gezogen? Wieviele empfingen das gerechte Urteil? Gericht muss sein. Sonst gerät die Welt vollends aus den Fugen. Aber ein Gottesgericht? Eine oberste Instanz nach dem Sterben? Ein Allerhöchster, „der einem jeden geben wird nach seinen Werken“, d.h. jedem, wie er’s verdient? Ist das überhaupt denkbar? Wenn der Himmel leer ist: nein. Wenn da oben keiner ist, der hinsieht und hinhört: nein. Wenn Gott nicht mehr ist als ein kuscheliger Teddybär und eine lahme Ente: nein. Aber wenn es anders ist. Wenn der Himmel nicht leer ist. Wenn einer von oben her hinsieht und hinhört. Wenn Gott eine Leidenschaft hat für das Leben und für das Wahre, Faire, Lebensförderliche. Dann ja. Dann wird es denkbar: ein „Tag des Zorns“ und „eine Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes“, das Paulus ansagt. Irgendwann muss es ja herauskommen, dass der Mensch nicht für sich alleine über diesen Globus spaziert, von dem Zufall und von dem Nichts herkommend. In Wahrheit kommt er von dem intelligenten Schöpfer her, der seinen Fingerabdruck absichtlich in jeder genialen Körperzelle und in jeder wahnsinnsriesigen Galaxie hinterlassen hat – von wem denn sonst? Diesem Schöpfer ist der Mensch davongelaufen. Ich erinnere mich, wie mein zweijähriger Sohn aus dem Hof des Pfarrhauses gelaufen war: die Zufahrt hinunter zur Hauptstraße. Wir Eltern waren nicht im Bilde. Als wir sein Fehlen bemerkten, eilten wir hektisch hin und her. Dann die erlösende Entdeckung: der Kleine spielt an einem Geländer neben der Straße. Im Unterschied dazu ist Gott sehr wohl im Bilde. Er sieht uns davonlaufen. Wir nutzen unsere Freiheit nicht nur zum Spielen. Sondern für die Gier, für den Neid und für das Gerede. Wir sind nicht harmlos wie ein Dreijähriger, sondern wir sind hochmütig, erfinderisch im Bösen, den Eltern ungehorsam, unvernünftig, treulos, lieblos. Schwer für uns zu hören, ich weiß. Mir fällt es auch schwer. Aber so stellt es Paulus fest in Römer 1. Ist das nicht die Wahrheit in konzentrierter Form? Gott läuft uns hinterher, wie ein Vater, dem das Kind davongelaufen ist. Gott stellt uns zuletzt zur Rede wie ein Kind, das andere verletzt hat und sich selbst in Gefahr gebracht: „Wo warst du, Mensch? Warum hast du das getan?“ Wir Menschen entschuldigen uns mit derselben Taktik wie damals ganz am Anfang Adam, Kain oder Lamech: „Ich weiß von nichts. Der andere war schuld. Und außerdem kenne ich viele Leute, die viel Schlimmeres angerichtet haben als ich.“ Dieses Ausstrecken des Zeigefingers auf andere nennt Paulus richten. Selbst Richter spielen. Urteile verteilen, um von sich selbst abzulenken. Eine unkluge, vergebliche Taktik. Denn wer urteilt, verwendet Maßstäbe, die er selbst nicht wirklich erfüllt. Wer lebt denn nur das Vernünftige? Wer lebt denn nur das Menschenfreundliche und das Gottangemessene? Wer lebt denn nur die Liebe? „Darum, o Mensch, kannst du nicht entschuldigen.“ Unsere Entschuldigungen werden blass und fadenscheinig in dem Augenblick, in dem Gott nachfragt. Er durchschaut sie, so wie eine Lehrerin erlogene Entschuldigungen selbstverständlich durchschaut. Aber ihm, dem lebendigen Gott, wollen wir immer noch etwas vormachen? Wollen behaupten, wir seien nicht davongelaufen? Wir seien an niemanden schuldig geworden? Wir, die guten Menschen von Sezuan, hätten uns den Himmel verdient? O Mensch, weißt du nichts von Gottes Gericht? Die zweite Frage, vor die uns der Apostel stellt, lautet:

2. O Mensch, weißt du nichts von Gottes Güte?
Ein schwieriger Augenblick für den Flüchtling aus Pakistan, als er den Briefumschlag mit dem Gerichtsbescheid öffnet und ihn die Angst vor der Unrechtsjustiz und dem aggressiven Islam in Pakistan anspringt. Aziz wird neue Hoffnung geschöpft haben, als ihm die Freunde von der Kirchengemeinde die Adresse des Rechtsanwalts überbrachten. Das war sicher keine Frage für ihn, dass er diese Chance, der Gefahr zu entkommen, nutzen würde. Sofort anrufen! Demnächst einen Gesprächstermin vereinbaren! So bald wie möglich einen Antrag auf Bleiberecht auf den Weg bringen! Um solch eine Entschlossenheit geht es dem Apostel Paulus. Um solch einen Blick für die rettende Chance. Um solch ein Tempo. Wenn es wirklich ein Gericht des Schöpfers gibt, in dem die üblichen Entschuldigungen zerplatzen wie die Seifenblasen, dann braucht es jetzt und sofort einen Rechtsanwalt. Eine rettende Strategie. Eine tatsächliche Bewältigung aller aufgelaufenen Schulden. In Römer 3 stellt Paulus unseren Rechtsanwalt vor. Er heißt Jesus. Er hat beste Beziehungen zur obersten Instanz. Er kennt die rettende Strategie. Er verfügt über das schlagende Argument, an dem der Richter aller Richter nicht vorbeikommt: „Vater, für die konkreten Schulden dieses Menschen habe ich am Kreuz gebüßt.“ Dieses Argument führt zum Freispruch. Es führt zum Bleiberecht in Gottes Nähe. Es führt zum Aufenthaltsrecht im ewigen Leben. Also gibt es für mich nichts Dringenderes zu tun, als den Rechtsanwalt anzurufen. Ihn auf meine Seite zu bringen. Vor ihm meinen Fall ehrlich und offen auszubreiten, ohne Entschuldigungen, ohne Beschönigungen, ohne Herumgerede um den heißen Brei. Er ist durch das Gebet leicht erreichbar. Nichts, was ihm an Schuld vorgetragen wird, kann ihn erschrecken oder abstoßen. Das Einfachste von der Welt ist es, ihn auf meine Seite zu bringen. Denn er hat ein heißes Interesse an mir. Er hat ein Herz für mich. Er hat keine größere Sorge als diejenige, dass ich es ohne ihn versuchen könnte und deswegen scheitern. Heute hält er nach mir Ausschau. Heute wartet er auf mich. Heute ist Zeit, die Kurve zu kriegen und ihm die Hand zu reichen. Das meint das biblische Wort „Buße“, das in dem Namen dieses Feiertags „Buß- und Bettag“ steckt. Heute ist Zeit, die Kurve zu kriegen und ihm die Hand zu reichen. Ganz gleich, ob es das erste Mal oder das tausendste Mal ist. Wer gibt mir die Zeit für dieses Entscheidende, Rettende und Schöne? Na wer wohl? Paulus fragt: „Verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?“ Gott gibt mir Zeit. Gott schenkt mir Leben. Gott umwirbt mich mit Freundlichkeiten, mit Ferientagen, mit toller Musik und mit Coca-Cola. Gott hat Geduld mit mir. Mit meinem Zorn. Mit meiner Sucht. Mit meiner Verschlossenheit. Gott hat noch Geduld. Oft schon hat er seine Finger im Spiel gehabt in den wirklich gefährlichen Augenblicken. Ich bin noch einmal davongekommen auf der Autobahn, im Krankenhaus und in der Familienkrise. „Nochmal davongekommen, doch nirgends angekommen, so vieles vorgenommen – nichts draus gemacht! Den Lastern abgeschworen, kaum eins davon verloren. Gefühlt wie neugeboren – was hat’s gebracht?“ So fragt der Liedermacher Manfred Siebald danach, ob wir unsere Chance genutzt haben. Die Sekundenerkenntnis, dass Gott gut zu uns war. Die Gelegenheit, die Kurve zu kriegen und Jesus die Hand zu reichen. Für Aziz, den Mann aus Pakistan, war die Gelegenheit gekommen, als er in Deutschland anfing, die Gottesdienste zu besuchen. Als er anfing, sich der Frage zu stellen: O Mensch, was weißt du von Gottes Gericht? Was weißt du von Gottes Güte? Aziz hat die Kurve hin zu Jesus Christus gekriegt. Was war nochmal der Grund dafür? „Es war die Liebe, die ich erfahren durfte. Dass Gott die Menschen so sehr liebt.“ Amen.

Pfarrer Dr. Tobias Eißler, Bußtag 17.11.2010

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 24. November 2010 um 10:00 und abgelegt unter Predigten / Andachten.