Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Umgang mit Fremden in der Bibel

Montag 9. August 2010 von Prof. Dr. Markus Zehnder


Prof. Dr. Markus Zehnder

Umgang mit Fremden in der Bibel – Gott und die Fremden

Im alten Israel gab es differenzierte Vorstellungen darüber, wie man mit Fremden umgehen sollte. Schon innerhalb des Alten Testaments wurden diesbezügliche Vorschriften später an die veränderte gesellschaftliche Situation angepasst. Im Neuen Testament verändert sich dann die Perspektive grundlegend; der Rahmen ist nicht mehr ein ethnisch-religiös geschlossenes Gemeinwesen, sondern die neue Gemeinde, in der ethnische Gesichtspunkte zurücktreten.

Die Probleme, die sich in weiten Teilen Europas im Blick auf die Migration und das Zusammenleben zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“ ergeben, gehören zu den drängendsten Fragen, die sich unserer Gesellschaft heute stellen. Das zeigt sich schon allein an der Vielzahl von Massnahmen, mit denen der Staat die Probleme zu lösen versucht. Auch christliche Politiker und die Kirchen nehmen sich der Thematik an, in der Regel auf Seiten derer, die eine „offene“, d.h. Migrations-freundliche Haltung einfordern.

Kaum biblisch begründet

Dabei bleibt aber die biblisch-theologische Begründung auffallend dünn. Man beruft sich auf abstrakte Prinzipien wie „Jesus ruft uns auf zur Solidarität“ oder man wählt ein paar wenige Bibelstellen aus und versucht, sie ungeachtet ihrer ursprünglichen sozio-kulturellen Einbettung einfach eins-zu-eins auf unsere heutige Situation zu übertragen. Besonders beliebt sind Stellen wie „Einen Fremdling sollst du nicht bedrücken“ (2. Mose 22,20) oder „Einerlei Gesetz und einerlei Recht soll gelten für euch und für den Fremden, der bei euch wohnt“ (4. Mose 15,16).

Dabei eröffnen sich dem, der geduldig und aufmerksam danach fragt, wie das Volk Gottes in der Bibel mit Fremden umgegangen ist, eine Vielzahl an erstaunlichen, oft ungewohnten, aber in manchem auch heute hilfreichen Erkenntnissen.

Das biblische Bild vom Umgang mit Fremden ist wesentlich komplexer als oft angenommen. Das zeigt auch ein näherer Blick auf die zwei genannten Stellen aus dem Alten Testament: Mit dem „Fremdling“ aus 2. Mose 22 ist nicht irgendein Fremder gemeint, sondern nur der „Beisasse“, d.h. derjenige, der bereit ist, sich weitgehend an die israelitische Gemeinschaft zu assimilieren. Beim „gleichen Recht“, das in 4. Mose 15 für den Fremden gefordert wird, geht es wiederum um das Recht nur für den sich assimilierenden Fremden (den „Beisassen“), und die Gleichberechtigung ist gemeint als Gleichverpflichtung, bezogen auf ganz konkrete, eingegrenzte Lebensbereiche, so dass von einer allgemeinen Gleichberechtigung nicht gesprochen werden kann.

Eckdaten im Umgang mit Fremden

Welche Eckdaten zum Umgang mit Fremden, die für die gegenwärtige Migrationsthematik von Bedeutung sind, lassen sich der Bibel entnehmen?

– Jedem Menschen kommt, unabhängig von Rassen- oder Volkszugehörigkeit, eine unendliche Würde aufgrund seiner Gottesebenbildlichkeit zu; jedem Rassendünkel ist damit der Boden entzogen.

– Die Vielfalt der Völkerwelt und die damit verbundene volle Herausbildung der Unterschiede der Ethnien ist etwas Positives; ihre Auflösung in einem Einheitsbrei, in einem multikulturellen gesichtslosen Mix, ist kein biblisches Ziel.

– Es ist zu unterscheiden zwischen zwei Hauptgruppen von Fremden. Die eine verharrt emotional, kulturell oder religiös in grösserer Distanz zur Gesellschaft, die sie aufnehmen soll; die andere ist bereit, sich auf allen Ebenen stärker zu assimilieren. Die Kategorie „Ausländer“ als generalisierender Begriff ist nicht biblisch. Diese Feststellung steht in Spannung zum postmodernen Grundsatz des generellen Verbots der Ungleichbehandlung von Menschen ungleicher Herkunft und Zugehörigkeit (Prinzip der „Nicht-Diskriminierung“).

– Je nach Lebensbereich und je nach Assimilationsgrad des Fremden gehen Berechtigung und Verpflichtung unterschiedlich weit. Fremde, die sich nicht dauerhaft in die Volksgemeinschaft einfügen wollen, werden von spezifischen Förderungsmassnahmen wie dem Schuldenerlass im Sabbatjahr und dem Zinsverbot ausgenommen (5. Mose 15,3; 23,20-21). Immer gilt, dass das Mass, in dem sich der Fremde einzufügen bereit ist, mit dem Mass an Aufnahme- bzw. Integrationsbereitschaft seitens der Einheimischen korrespondieren muss. Das widerspricht Versuchen, die Erteilung von Rechten an nicht oder kaum angepasste Fremde als Mittel der Integration zu gebrauchen.

– Einwanderung von Fremden und ihre Betreuung geschieht nicht auf der Ebene einer zentralisierten Staatsbürokratie, sondern im direkten Bezug zu konkreten Privatpersonen oder überschaubaren lokalen Gemeinschaften.

– Von denjenigen Fremden, die sich dauerhaft in Israel niederlassen, wird nicht nur die Übernahme der „zivilen“ Ordnungen Israels verlangt, sondern auch ein Mindestmass an Anpassung im religiösen Bereich. Dazu gehört das Halten des Arbeitsverbotes am Sabbat und am Jom Kippur (2. Mose 20,10; 3. Mose 16,29). Es wird im Alten Testament zwar verschiedentlich davon berichtet, dass an Angehörige nicht-israelitischer Religionen Sonderrechte zur Ausübung ihres Kults erteilt werden; in der Sicht der biblischen Autoren ist ein solches Vorgehen aber falsch. Damit stimmt überein, dass sich weder im Alten noch im Neuen Testament von den Verfassern legitimierte Vorbilder für den modernen „interreligiösem Dialog“ finden.

– Eine Pflicht zur Anpassung oder gar Preisgabe eigener kultureller Werte zugunsten der hinzu kommenden Fremden ist biblisch nicht zu begründen.

Wer gehört vollberechtigt dazu?

Dazu ein Beispiel. Das Gesetz über den Eintritt in die Gemeinde (5. Mose 23,2-9):

Es legt fest, dass nicht-israelitische Eunuchen, Ammoniter und Moabiter bis ins zehnte Geschlecht, d.h. grundsätzlich nicht in die Gemeinde des Herrn aufgenommen werden können, Edomiter und Ägypter erst nach der dritten Generation. Im Blick dieser Regelung ist nicht die Frage, wer sich im Land Israel aufhalten darf, sondern es geht um den Zugang zur Religionsgemeinschaft Israels und damit auch zu den politisch bestimmenden Gremien, also darum, wer “Bürger” Israels im vollen Sinne werden kann. Es wird demnach deutlich zwischen Aufenthalts- und Mitbestimmungsrecht unterschieden. Hier wird das Modell einer Gesellschaft entworfen, in der auch auf längere Sicht verschiedene Klassen von unterschiedlich integrierten Landesbewohnern nebeneinander leben.

Die entscheidenden Gesichtspunkte, die über die Zulassung zur Gemeinde entscheiden, sind physische Integrität, historische Berührungen mit Israel in der Vergangenheit und geneaologische bzw. ethnische Nähe zu Israel. Weil unmittelbar theologische Kriterien fehlen und ethnischen bzw. historische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen, rückt die in 5. Mose 23 sich manifestierende Konzeption in die Nähe dessen, was später als “nationalistisch” bezeichnet wird.

Anpassungen bei Nehemia

Das Gesetz ist darum besonders interessant, weil wir innerhalb des Alten Testaments etwas über seine Anwendung in einer späteren Epoche erfahren: In Nehemia 13,1–3, einem Text, der sich etwa auf die Mitte des 5. Jahrhunderts vor der Zeitenwende bezieht, wird berichtet, dass nach der öffentlichen Verlesung von 5. Mose 23 „alles fremde Volk“ aus Israel ausgeschieden wurde. Das alte Gemeindegesetz wird damit über seinen ursprünglichen Wortsinn hinaus ausgeweitet auf Menschen fremder Herkunft, die im ursprünglichen Text nicht direkt angesprochen sind. Aufgrund der Gesamttendenz des Wirkens Nehemias ist aber zugleich damit zu rechnen, dass alle diejenigen, die sich zum Gott Israels bekehren, von dieser Massnahme nicht betroffen sind (Neh 10,29). Damit ist die Aufnahme des alten Gesetzes in den Tagen Nehemias sowohl mit einer Verschärfung als auch mit einer Erleichterung verbunden.

So stehen wir vor einem interessanten Befund: Einerseits wird ein aus ganz anderen historischen Zusammenhängen stammendes Gesetz wegen seiner Würde auch in viel späterer Zeit trotz der völlig veränderten Situation aufgenommen und angewendet. Andererseits erfolgt diese Anwendung wegen der weitreichenden Veränderung der äusseren Umstände in bemerkenswert grosser Freiheit.

Die Kombination von Traditionsbindung und historisch sensitiver Flexibilität in der Traditionsanwendung, wie sie hier  zutage tritt, darf wohl als vorbildhaft für den Umgang mit den Fremdenbestimmungen des Alten Testaments auch in den veränderten Umständen unserer Zeit und unseres Umfelds gelten.

Heute ist vieles anders

Die Unterschiede der historischen Situation verbieten eine simple eins-zu-eins-Übertragung von biblischen Vorbildern auf die heutige politische Situation. Das betrifft zum einen die Sonderrolle Israels, die nicht einfach auf einen modernen Staat wie die Schweiz übertragbar ist. Das betrifft aber auch die Tatsache, dass wir es in der heutigen Situation mit neuen Faktoren zu tun haben, für die es keine direkten Analogien in der biblischen Welt gibt.

Hier wäre etwa an das gewerbsmässige Schlepperwesen zu denken, aber auch an die weltweite Vernetzung. Sie führt dazu, dass potenziell viele Menschen eine Migration v.a. aus wirtschaftlichen Gründen anzustreben, um so an einem Lebensstil teilhaben zu können, von dem sie unter den Bedingungen früherer Zeiten nichts gewusst oder den sie aufgrund praktischer Hindernisse nicht als Ziel angestrebt hätten. Die modernen Kommunikations- und Fortbewegungsmöglichkeiten machen es heute im Gegensatz zu früher möglich, dass man auch am neuen Wohnort in intensiver Beziehung zu seinem Herkunftsort stehen kann. Das hindert tendenziell den Willen zur Assimilation. Schliesslich ist zu bedenken, dass ein bedeutender Teil der heutigen Migrantinnen und Migranten dem Islam angehören. Weil dieser aber von seiner Wurzel her eine Gegenthese zum Christentum und Judentum darstellt, spitzt sich die Frage nach der religiösen oder allgemein kulturellen Kompatibilität in einer Weise zu, dass sie nicht mit der Berufung auf allgemeine Prinzipien zu lösen ist.

Eine neue Sicht im Neuen Testament

Das Neue Testament „überwindet“ nicht die alttestamentlichen Aussagen zum Umgang mit Fremden, sondern beleuchtet die Frage aus einer anderen Perspektive: Hier geht es nicht um die Ebene einer ethnisch-religiösen Gemeinschaft, die in sich geschlossen und staatlich geordnet ist, sondern um die Ebene der (neuen) Gemeinde. In der christlichen Gemeinde gilt, dass es in der Stellung vor Gott keinen Unterschied mehr gibt zwischen „Juden und Griechen“ (Gal 3,28). Zudem unterliegt die innerhalb der Gemeinde zu übende Bruderliebe keinen ethnischen Beschränkungen; sie wird aber stets der allgemeineren Nächstenliebe vorgeordnet. Da Gemeinde und Staat nicht miteinander identisch sind, können die für die Gemeinde gültigen Grundsätze nicht einfach auf den Staat übertragen werden. Schöpfungsmässig vorgegebene Unterschiede wie die der ethnischen Herkunft sind mit Blick auf die Stellung vor Gott irrelevant, aber nicht in der Organisation staatlichen Lebens. Der Staat ist nach biblischem Verständnis kein „Hilfswerk für alle“, sondern Garant eines geordneten Zusammenlebens nach innen und Verteidiger gegen Feinde von aussen. Eine biblisch verantwortete Migrationspolitik hat diesen Vorgaben Rechnung zu tragen.

Die Bibel liefert keine Rezepte:

Die Gefahr ist gross, dass wir als Christen (wie manche andere) in der Frage nach dem Umgang mit Fremden bloss vorgefasste Meinungen vertreten, und diese (im Unterschied zu anderen) mit Bibelzitaten untermauern, die aber aus dem Zusammenhang gelöst sind und die nur nachträglich begründen, was wir vorher schon für richtig hielten. Wenn wir versuchen, die aktuellen Migrationsfragen zu beantworten, kann uns nur ein geduldiges Hören auf die differenzierten und präzisen Aussagen des Alten und des Neuen Testaments zum Umgang mit Fremden vor oberflächlichen Schnellschüssen bewahren; dazu gehört auch das Beachten aller verfügbaren soziologischen und historischen Erkenntnisse. Einfache Lösungen und eins-zu-eins kopierbare Modelle werden uns in der Bibel nicht geboten. Hier stossen wir auf vielschichtige Einsichten, die je nach äusseren Umständen und im Blick auf konkrete Personengruppen unterschiedliche Akzente setzen. Zwei der wichtigsten Unterscheidungen werden in der öffentlichen Diskussion oft übergangen:

– Ein Fremder ist nicht einfach ein Fremder; seine kulturelle, insbesondere religiöse Distanz sowie das Mass seiner Anpassungsbereitschaft spielen eine wichtige Rolle bei der Frage nach der Regelung des Umgangs mit ihm.

– Soziales Engagement für Fremde ist biblisch gesehen keine abstrakt-staatliche, sondern eine konkret-persönliche Aufgabe. Und sie geschieht stets nach dem Prinzip einer bestimmten Rangordnung: zuerst die Glieder der Gemeinde, die in Not sind, dann auch die anderen.

Markus Zehnder

Quelle: Magazin INSIST zum Thema „Kulturen“ vom Januar 2010, www.insist.ch

Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 9. August 2010 um 9:44 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik.