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Vom Anstand des Lebens

Mittwoch 9. Juni 2010 von Die Tagespost


Die Tagespost

Prof. em. Dr. Manfred Balkenohl
Vom Anstand des Lebens

Nietzsche beginnt seine „Moral für Ärzte“ mit den Worten: „Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. „

Nun ist diese Mitteilung im ausgehenden 19. Jahrhundert nichts Außergewöhnliches. Das Thema Euthanasie und das, was derzeit „assistierte Selbsttötung“ genannt wird, war damals in der Vorstellung schon gegenwärtig. Manchmal glaubt man heute, in diese Zeit zurückversetzt zu sein. Aber es gibt doch wesentliche Unterschiede zu früher. Wenngleich Nietzsche mit solchen Mitteilungen eine damals schon um sich greifende Ideologie beförderte, so gab es doch den geschlossenen Widerstand des ärztlichen Standes, der Kirchen sowie der Gesamtgesellschaft gegen solche Bestrebungen.

In der Ärzteschaft besann man sich auf den „Eid des Hippokrates“, in dem es heißt: „Nie werde ich jemandem, auch auf Verlangen nicht, ein tödlich wirkendes Gift geben und auch keinen Rat dazu erteilen; gleicher weise werde ich keiner Frau ein fruchtabtreibendes Mittel geben: heilig und fromm werde ich mein Leben bewahren und meine Kunst.“ Nietzsche dagegen verlangt in seiner „Moral“ das „rücksichtsloseste Nieder- und Beiseitedrängen des entartenden Lebens“.

Der Arzt des 19. Jahrhunderts jedoch formulierte – Ausnahmen gab es – eine klare Absage gegen jeglichen Missbrauch seiner Person und wusste sich dem Schutze des Lebens verpflichtet.

Die Kirche stand und steht ebenfalls kompromisslos auf Seiten des Lebensrechtes und des Lebensschutzes. Gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche kirchliche Krankenhäuser errichtet, selbst in kleineren Gemeinden; und man legte geistig die Grundlagen dafür, was später mit Menschenwürde umschrieben wurde. Die Antwort staatlicher Organe auf libertinistische Tendenzen war eine konsequente Rechtsprechung zugunsten des Lebensrechtes eines jeden Menschen.

Schon im 19. Jahrhundert gab es Bewegungen für die Euthanasie
Aber dennoch übten Mitteilungen wie die „Moral für Ärzte“ unterschwelligen Einfluss aus. Es gab im 19. Jahrhundert „Trittbrettfahrer“, also solche Leute, die Nietzsche beipflichteten, so zum Beispiel einen sonst unbedeutenden Autor namens Adolf Jost mit seinem Buch: „Das Recht auf den Tod“, in dem er sich namentlich auf Nietzsche beruft. Dieser hatte in der genannten „Moral“ die Selbsttötung ausdrücklich begrüßt: „Wir haben es nicht in der Hand zu verhindern, geboren zu werden, aber wir können diesen Fehler wieder gutmachen. Wenn man sich abschafft, tut man die achtungswürdigste Sache, die es gibt“.

Nun soll man Nietzsche nicht verteufeln. Er machte wahrlich in seinem Krankheitsprozess Situationen der Verzweiflung durch: aber es fehlte ihm eben auch der christliche Sinn für Krankheit, Leid, Sterben und Tod.

Eine Fortsetzung findet Nietzsche im 20. Jahrhundert, etwa in dem 1920 erschienenen Buch von Binding und Hoche: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Hier tauchen die Begriffe „Ballastexistenzen“, „leere Menschenhülsen“, „geistig Tote“ auf, die man auf legalem Wege zu beseitigen forderte. Interessant dabei ist folgendes: Zum einen wird dem Nationalsozialismus ein Stück seiner Ideologie schon vor der Machtergreifung frei Haus geliefert, mit allen Konsequenzen, zum anderen berufen sich Binding und Hoche auf den oben genannten Autor Adolf Jost. Hier lassen sich direkte Linien zwischen dem 20. und 19. Jahrhundert finden. Auch ist der Einfluss der Euthanasiegesellschaften aus dem anglo-amerikanischen Raum sowie des Monistenbundes unverkennbar. Ebenfalls ist hier der Einfluss des Darwinismus und Neo-Darwinismus ins Feld zu führen.

Nach den Schreckensjahren des Nationalsozialismus erleben wir heute wieder nicht nur eine neue Euthanasiedebatte, sondern schon mannigfache Formen der Euthanasie selbst. Nach dem Zweiten Weltkrieg war man noch entsetzt gewesen über die Verbrechen und deren Ausmaß im Nationalsozialismus. Man formulierte angesichts dieser Ausschreitungen den sogenannten Nürnberg-Code: In dem im Ärzteprozess ergangenen Urteil des amerikanischen Militärtribunals in Nürnberg (1947) wurden Grundsätze wie zum Beispiel der über die Unzulässigkeit medizinischer Versuche an Menschen aufgestellt. Nach diesem Code widersprechen deren Missachtung „den Grundsätzen des Völkerrechts, wie diese sich aus den unter Kulturvölkern angenommenen Gebräuchen, den Gesetzen der Menschlichkeit und dem Diktat des öffentlichen Gewissens ergeben“. Der „Nürnberg-Code“ ist die Grundlage der 1964 in Helsinki und 1975 in Tokio von der Generalversammlung des Weltärztebundes beschlossenen Deklaration über die Durchführung medizinischer Versuche beziehungsweise Forschung am Menschen.

Die Väter (und Mütter) des Grundgesetzes hatten ebenfalls aus der Geschichte gelernt und mit Artikel 2 Absatz 2 Satz I betont: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Die ausdrückliche Aufnahme des an sich selbstverständlichen Rechtes auf Leben in die Verfassung erklärte sich als Reaktion auf die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, auf „Liquidierungen“ und „Endlösungen“, die vom nationalsozialistischen Regime durchgeführt wurden. Später hatte das Bundesverfassungsgericht erklärt, dass der Staat – unabhängig von einer geschriebenen Verfassung nicht die Rechtsmacht hat, Angriffe auf das Leben zu gestatten. Und es erklärte ebenfalls wiederholt und unmissverständllich, dass der Satz: „Jeder hat das Recht auf Leben“ auch auf das ungeborene Kind zutrifft und verbürgt somit seine biologische und personale Existenz nochmals mit Verfassungsrang. Diese rechtliche Position muss man im Auge haben, wenn die Freiheit der Forschung auf das Grundrecht auf Leben stößt.

Das Recht auf Leben ist das elementarste und wichtigste Persönlichkeitsrecht. Es nimmt unter allen Rechtsgütern und subjektiven Rechten eine Sonderstellung ein, denn es ist die unabdingbare Voraussetzung für das Innehabenkönnen eines jeden anderen Rechtes und aller Grundrechte. Das Recht auf Leben ist das einzige Grundrecht, das nicht vorübergehend verkürzt oder eingeschränkt werden kann, um es dann wieder in Gebrauch nehmen zu können. Denn die Unterdrückung des Lebens hat den Tod zur Folge. Daher ist der Schutz des Lebens von Anfang an durch die Verfassung garantiert. Gegenüber dem Recht auf Leben gibt es kein wichtigeres Grundrecht.

Wurzelgrund und Voraussetzung für die Menschenrechte ist die Menschenwürde. Sie ist als absoluter innerer Wert, als das höchste Prädikat für den Menschen zu verstehen. Sie ist ebenfalls durch unsere Verfassung garantiert. Denn der in Artikel I Grundgesetz (GG) genannte Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde darf nach Artikel 79, Absatz 3 GG nicht durch eine Verfassungsänderung berührt werden. Des Weiteren ist Menschenwürde als der einzigartige Rang des Menschen die Grundlage der Konzeption von Grundrechten und Grundpflichten. Die Menschenwürde beinhaltet die Würde des Menschen als Gattungswesen. Niemand kann sie je verlieren; keine Instanz kann sie dem Menschen je verleihen oder ihm wieder nehmen. Ebenfalls durch „unwürdiges Verhalten“ kann sie niemals verloren gehen. Auch in einem noch so erbarmungswürdigen Zustand der Krankheit und des Sterbens bleibt sie voll erhalten.

Die Rechtsstaatlichkeit basiert nun in erster Linie auf Menschenwürde und Lebensrecht eines jeden Menschen. Vor diesem Hintergrund und angesichts heutiger Praxis der Abtreibung sowie anschwellenden Euthanasieforderungen ist auch die schon seit langem unter Juristen, Ethikern, Biologen, Medizinern und Theologen in Gang gekommene Diskussion darüber zu verstehen, ob die Rechtsstaatlichkeit nicht hintangesetzt wird, ja ob wir überhaupt noch in einem Rechtsstaat leben und auch darüber, auf welche Weise denn die Rechtsstaatlichkeit wieder hergestellt werden kann. Zumal von einem Sozialstaat ebenfalls keine Rede mehr sein kann, wenn die schwächsten Glieder einer Gesellschaft getötet werden.

Auf dem Lebensrecht beruht der Rechtsstaat – oder nicht?
In diesen Kontext gehören auch die Aufforderungen von Ärzten zur Suizidbeihilfe. Man kann heute kaum noch eine Tageszeitung zur Hand nehmen, in der nicht über Forderungen berichtet wird, Ärzte sollten Patienten bei einem Suizid zur Hand gehen. Es vollzieht sich zur Zeit – von vielen Menschen fast unbemerkt – ein grausamer Krieg gegen das Leben. Eine Verfügungs- und Wegwerfmentalität konnte sich schleichend auf höchste Lebenswerte übertragen. Wenn man zum Beispiel bedenkt, dass die pränatale Diagnose (zusammen mit PID (Präimplantationsdiagnostik)) zu einer Abtreibungsstrategie führen kann und tatsächlich führt, so dass sich der Automatismus „mögliche Erkrankung des Kindes – Abtreibung“ verfestigt, dann wird deutlich, auf welchen tönernen Füßen auch die Fürsorge um Behinderte heute bereits steht. Behinderte müssen bei der gegenwärtigen Praxis doch das Empfinden haben, dass sie eigentlich nicht existieren sollten, sondern dass sie ihr Leben lediglich einem bedauerlichen Missgeschick zu verdanken haben, nämlich ihre genetisch angelegte Krankheit nicht rechtzeitig vor der Geburt diagnostiziert zu haben. Andererseits und gleichzeitig, das zeigen beispielsweise Diskussionen mit Studenten, wächst heute eine neue Sensibilität für den Schutz des Lebens. Es wird nämlich gefragt, wieso es denn unter rechtsstaatlichen Bedingungen dazu kommen kann, dass wieder über eine Art „Endlösung der Behindertenfrage“ mittels pränataler Diagnose und Präimplantationsdiagnostik (PID) nachgedacht werden kann.

Was dabei auch eine wichtige Rolle spielt: Der Sinn von Krankheit, Leid, Sterben und Tod wird heute kaum mehr gesehen. Der kulturstiftende, ja der schöpferische Sinn von Krankheit und Leid ist für den Leidenden wie den helfenden Menschen von Bedeutung. Im helfenden und heilenden Menschen werden angesichts des Leidens die tiefsten personalen und sozialen Kräfte geweckt, deren der Mensch fähig ist und die zum Einsatz und zum Spenden von Trost ermutigen. Beim Leidenden selbst werden Krankheit und Elend durch die Kommunikation erträglicher. Häufig können wir beobachten, dass durch menschliche Begegnungen und Beziehungen Heilungsprozesse in Gang kommen, auch und gerade dann, wenn medikamentöse und apparative Einwirkungen erfolglos bleiben. Schon Paracelsus betonte: „Die Liebe ist die beste Arznei.“

Ja, es gibt einen Sinn von Leid, Krankheit und Sterben
Viele Menschen heute sind kaum noch fähig, Leiden auch als Bereicherung zu erfahren. Unverständlich wird heute der heilbringende Sinn von Krankheit und Leid. Dieser Verlust ist eine der Wurzeln für Tötungen von Menschen durch Menschen. Letztlich ist es gar nicht möglich, Leiden zu erklären, Leiden muss man bestehen. Sinn und Ziel des Leidens im christlichen Sinn wird vom Apostel Paulus so gesehen: „Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm verherrlicht zu werden“ (Rom 8,7).

Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein glaubte man, das Thema der Euthanasie und deren Anwendung nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus weit hinter sich gelassen zu haben. Ein Trugschluss. Heute konkurriert wieder die Auffassung vom absoluten Schutz des Menschen von seinem Anfang bis zu seinem Ende mit der Vorstellung und Absicht, Macht und Herrschaft des Menschen über den Menschen auszutoben, bis hin zu seiner Vernichtung. Die lebensfeindliche Ideologie hatte weder mit dem Nationalsozialismus eingesetzt noch war sie nach seinem Zugrundegehen verschwunden. Eine Massenverblendung führt oft ein zähes Dasein. Der Hexenwahn mitsamt den Hexenverbrennungen dauerte beispielsweise drei Jahrhunderte. Auch die gegenwärtige lebensfeindliche Ideologie lässt sich überwinden. Allerdings nur unter Einsatz aller lebensbejahenden Kräfte.

Prof. em. Dr. Manfred Balkenohl lehrte Systematische Theologie und Moraltheologie an den Universitäten Osnabrück und Vechta.

Der Beitrag ist erschienen am 27.04.2009 in „Die Tagespost – Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur“ (www.die-tagespost.de). Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 9. Juni 2010 um 11:29 und abgelegt unter Lebensrecht, Medizinische Ethik.