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Verantwortete Elternschaft und Egoismus

Dienstag 6. April 2010 von Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.


Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.

Verantwortete Elternschaft und Egoismus –
Die Hauptursachen von erstem und zweiten „Demographischen Ãœbergang“

Das wirksamste Verhütungsmittel ist der Kapitalismus. Musterbeispiele hierfür sind die neuen Industrieländer in Ostasien (Südkorea, Singapur u. a.): Parallel zur ihrem wirtschaftlichen Aufstieg brach die Geburtenrate (TFR) von etwa 6 Kindern (1950-55) auf 1,0-1,6 Kinder pro Frau zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein (1). Im Zuge des Wandels von agrarischen zu (post)industriellen Gesellschaften sinken die Geburtenraten weltweit sukzessive unter den Generationenersatz von zwei Kindern pro Frau (2). Das Ende des jahrtausendelangen Wachstums der Weltbevölkerung ist deshalb vor der Mitte dieses Jahrhunderts absehbar (3).

Deutschland ist der Trendsetter dieser welthistorischen Zäsur: Bereits seit 1972 gibt es mehr Sterbefälle als Geburten und seit 2003 wird dieses Geburtendefizit auch nicht mehr durch Zuwanderung kompensiert – die Bevölkerung altert und schrumpft. Die „demographische Revolution“ von der kinderreichen Agrar- zur nachwuchsarmen postindustriellen Gesellschaft vollzog sich in Deutschland in zwei Phasen: Während des „Ersten Demographischen Ãœbergangs“ (nach 1870) fielen die Geburtenzahlen von fünf auf etwa zwei Kinder pro Frau. Die Fertilität passte sich so der gesunkenen Kindersterblichkeit an, das Verhältnis zwischen älterer und jüngerer Generation blieb ungefähr im Gleichgewicht. Im „Zweiten Demographischen Ãœbergang“ ab 1965 sank das Geburtenniveau um ein Drittel unter den Generationenersatz: Auf 100 Eltern  kommen nun ca. 66 Kinder und 40 Enkel – die Generationen implodieren (4).

Beide Phasen der „säkularen Nachwuchsbeschränkung“ (Hans Linde) unterscheiden sich grundlegend: Maßgeblich für den Rückgang der durchschnittlichen Kinderzahlen nach 1870 war die neue Norm „verantworteter Elternschaft“: In der sich industrialisierenden Gesellschaft sank der Nutzen von Kindern als Arbeitskraft und Altersvorsorge und zugleich stieg der Aufwand für die Pflege, Erziehung und Ausbildung der Kinder. Ehepaare reagierten hierauf, indem sie etwa ab dem zweiten oder dritten Kind Geburtenplanung praktizierten. Gerade weil sie mehr in sie investieren mussten, gewannen Kinder an emotionalem Wert für ihre Eltern: Kinder galten als Teil der Lebenserfüllung, Kinderlosigkeit als ein Unglück (5). Die Ehe war die Norm, unverheiratet zu bleiben ein persönlicher Makel (6). Diese „dominante Geltung der Familie“ (Thomas Nipperdey) unterstützten alle politischen Fraktionen und weltanschaulichen Glaubensgemeinschaften von den christlichen Kirchen bis zur Sozialdemokratie (7).

Der „Zweite Demographische Ãœbergang“ beendete diese Epoche der bürgerlichen Familiengesellschaft. Ehe und Familie verlieren seitdem sukzessive an sozialer Geltung: Zunächst nahmen Scheidungen zu, dann breiteten sich nichteheliche Lebensgemeinschaften aus und schließlich wuchs die Zahl der Singles. Die Familiengründung verschob sich immer mehr in ein höheres Lebensalter, zuerst wurden höhere Geburtenparitäten seltener und schließlich nahm auch die Kinderlosigkeit zu (8). Kinder sind längst nicht mehr ein selbstverständlicher Teil der Lebensplanung, sondern konkurrieren mit anderen Optionen (Konsum, Freizeit, Beruf). Im Zentrum der postmodernen Mediengesellschaft steht das autonome Individuum: Sein Selbstverwirklichungsstreben soll nicht durch endgültige Bindungen an Personen (Kinder, Ehegatten), Institutionen (Staat, Kirche) und Moral behindert werden (9). Die „traditionelle“ Familie gilt dem postmodernen Individualismus als überholte Institution und ihr Bedeutungsverlust als emanzipatorische Befreiung. Gerne verdrängt werden die Kosten dieser Emanzipation: Weil die Familie ausfällt, muss immer häufiger der Staat für Kinder und alte Menschen sorgen (10). Gleichzeitig schwindet das Reservoir junger Arbeits- und Pflegekräfte, Steuer- und Beitragszahler (11). Diese Kollateralschäden der Emanzipation unterhöhlen die Fundamente des seit dem 19. Jahrhundert aufgebauten Wohlfahrtsstaatsgebäudes. Im Gegensatz zu Deutschland hatten die „neuen Industrieländer“ kaum Zeit, eine solche Sozialarchitektur zu errichten: Fast zeitgleich erleben sie den ersten und den zweiten „Demographischen Ãœbergang“ – umso härter dürften sie die sozialen Konsequenzen des „exzessiven Individualismus“ (E. Durkheim) treffen (12).

IDAF, Nachricht der Wochen 13-14 / 2010

 (1) Siehe: http://www.i-daf.org/159-0-Woche-18-2009.html.

(2) Diese „kapitalistische Sterilisation“ können selbst theokratische Sittenwächter-Regime nicht verhindern: Der Iran erlebte in den vergangenen 25 Jahren den „schnellsten Fertilitätsrückgang der Menschheitsgeschichte“ (Wolfgang Lutz): Die Geburtenrate brach von 6-7 Kindern pro Frau (1980-85) auf 1,8 Kinder (2006-2009) ein. Siehe hierzu: http://www.i-daf.org/118-0-Woche-5-2009.html.

(3) Der bekannte belgische Demograph Ron Lesthaeghe schreibt zum weltweiten Geburtenrückgang: „In the 1960´s, nobody dared forecasting that several sub-Suharan African populations would begin adopting contraception already in the 1980´s, and that almost all of them would do so prior to 2000. [?] It was believed that cultural and economic factors jointly formed a formidable obstacle to it. Now, some thirty years later, nobody believes in „formidable obstacles“ anymore. In this very short period of time, world history has taken a decisive turn. Evidently, the feature of the demographic growth momentum, linked to the young age distribution of the world population, will still produce substantial population growth over the next forty years, but the foundations for the end of global population growth were definitely laid in the 1970-2000 period.“ Siehe: Ron Lesthaeghe/Johan Surkyn: When History moves on: The foundations and Diffusion of a Second Demographic Transition, Brüssel 2010, http://sdt.psc.isr.umich.edu/.

(4) Vgl.: Herwig Birg: Grundkurs Demographie –  5. Lektion: 100 Jahre Geburtenrückgang, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.2.2005, S. 41. Siehe hierzu auch Abbildung unten: „Wohin führt der „Demographische Ãœbergang“?.

(5) Thomas Nipperdey analysierte den Geburtenrückgang im Deutschen Reich nach 1870 wie folgt: „Der Grund des Geburtenrückgangs ist klar, er liegt in der Geburtenkontrolle, dem Rationalitätsverhalten auch bei der Fortpflanzung. [?] Der Geburtenrückgang ist eher Anpassung an neue ökonomische Bedingungen und soziale Normen, an Wohlstand und Bildung, an die neue Möglichkeit, die neue Notwendigkeit und das neue Ideal der bewussten (und nicht selbstverständlichen, nicht billigen) Aufzucht von Kindern als eine Anpassung an die zurückgehende Sterblichkeit. [?] Aber es ist auch eher eine Zunahme der Verantwortung, wie man am Einsetzen der Geburtenregelung nach etwa drei Kindern sieht, als zunehmender Hedonismus, das wurde erst ein Phänomen in späterer Zeit. [?] Kinder sind gewiss auch eine Last, aber zuerst einmal sind sie ein Glück, ein Teil der Lebenserfüllung, Kinderlosigkeit ist Ausnahme, ist Unglück.“ Siehe: Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1914, Band I Arbeitswelt und Bürgergeist, Broschierte Sonderausgabe, München 1998, S. 26 und S. 52-53. Diese Einschätzung bestätigt der Demograph Lesthaeghe bezogen auf alle westlichen Industrienationen: ?During the FDT, the decline in fertility was „unleashed by an enormous sentimental and financial investment in the child“ [?], whereas the motivation during the SDT is adult self-realization within the role or life style as a parent or more complete and fulfilled adult.? Siehe: Ron Lesthaeghe/Johan Surkyn: When History moves on, op. cit. S. 3.

(6) Hierzu Nipperdey: „Die dominante Geltung der Familie kommt auch darin zum Ausdruck, dass es die Norm des Erwachsenen ist, verheiratet zu sein. Singles spielen keine Rolle, sie sind nicht wirklich anerkannt, sie sind – von der alten Jungfer bis zum Hagestolz – Gegenstand des Spottes und der Karikatur.“ Siehe: Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1914, op. cit. S. 44.

(7) „Die Familie, um mit dem Normativen anzufangen, steht unbestritten in höchster Geltung. Sie ist Keimzelle des Staates wie der Gesellschaft, ist Kernbestand und Ursprung aller Moral, die ja jenseits der natürlichen Egoismen abhebt, ja die Familie ist religiös geweiht, sakrosankt, ist ein „heiliges Naturverhältnis“ (Meyers Lexikon 1867). Im Grunde rangiert die Familie vor dem Individuum. [?] Alle Parteien, alle religiösen Richtungen, alle Klassen teilen diesen Glauben an die Familie: Protestanten, Katholiken und Agnostiker, Konservative, Liberale und auch Sozialdemokraten, wenn man von ein paar intellektuellen Randexistenzen und ihren utopischen Vorstellungen von einer „anderen Familie“ absieht“ (Ebenda, S. 43). Lesthaeghe beschreibt die Stellung der Familie in den europäischen Gesellschaften zwischen 1860 und 1960 wie folgt: „All pillars also had their views on the desirable evolution of the family. For the religious pillars these views were based on the holiness of matrimony in the first place, but their defense of a closely knit conjugal family also stemmed from fears that the industrial society would lead to immorality, social pathology and to atheism. The secular pillars (i. e. Liberal and Socialist) equally saw the family as a first line of defense against the social ills of the 19th century, and a foundation for their building of a new social order. Hence, although for different reasons, all pillars considered the family as the cornerstone of society.“ Siehe: Ron Lesthaeghe/Johan Surkyn: When History moves on, op. cit. S. 6-7.

(8) Vgl. ebenda, S. 4-6. Surkyn und Lesthaeghe heben den Geltungsverlust der Familie im „Zweiten Demographischen Ãœbergang“ hervor: „The SDT (Anm.: Second Demographic Transition) witnessed a long period of low divorce rates and the principle of a unique, life-long legal partnership is questioned“ (Ebenda, S. 4). Siehe hierzu auch Abbildung unten „Postmoderne: Monopolverlust der Ehe“.

(9) Hierzu Lesthaeghe:  „The SDT starts with a multifaceted revolution, and all aspects of it impact fertility. Firstly there was a contraceptive revolution [?.]. Secondly there was also a sexual revolution [?]. Thirdly there was the „gender revolution“. [?] Finally, these three revolutions fit within the framework of an overall rejection of authority and a complete overhaul of the normative structure. Parents, educators, churches, army and much of the entire State apparatus end up in the dock“ (Ebenda, S. 5).

(10) Siehe: http://www.i-daf.org/195-0-Woche-2829-2009.html.

(11) Siehe: http://www.i-daf.org/250-0-Woche-47-2009.html.

(12) Beispielhaft hierfür ist Südkorea, das zu den Ländern mit den niedrigsten Geburtenraten weltweit gehört. Vgl.: Carl Haub: Did South Korea´s Population Policy work to well –  Washington, DC 2010, http://www.prb.org/Articles/2010/koreafertility.aspx.

Durch Anklicken können die folgenden Tabellen vergrößert werden:

geburtenrueckgang_seit_dem_19jh

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 heiratshaeufigkeit_von_1850_bis_heute

 

 

 

 

 

 

 

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 6. April 2010 um 14:53 und abgelegt unter Demographie, Ehe u. Familie.