Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Der Mensch zwischen Niemand und Gott

Dienstag 8. Oktober 2024 von Prof. Dr. Benjamin Kilchör


Prof. Dr. Benjamin Kilchör

Religiöse Bilder auf den Titelseiten kurz nach Himmelfahrt: Der Messias, in pinkem Purpurmantel, gekrönt mit einer Dornenkrone, nimmt den Pokal des Eurovision Songcontest entgegen. Nemo bedeutet «niemand». Der Name erinnert an Odysseus, der sich «Niemand» nennt, um dem Zyklopen zu entkommen. Als dieser um Hilfe ruft und erklärt, Niemand sei geflüchtet, gelingt Odysseus dank diesem rhetorischen Trick die Flucht.

Nemo ist kein Künstlername. Seine Eltern haben ihn «Niemand» genannt, um ihm keine Identität vorzugeben. Er soll sich selbst erschaffen. Auch hier ein rhetorischer Trick: Nemo zu heissen, ist auch eine Identität.

Um aus Nichts Etwas zu machen braucht es eine Schöpfung aus dem Nichts. Diese ist in der Bibel Gott vorbehalten. Menschen können nur mit dem, was sie vorfinden, kreativ umgehen.

Nemo verkörpert den Homo Deus, den Gottmenschen. Wie ein Messias nimmt er den Preis entgegen. Die Dornenkrone wurde Jesus aufgesetzt, nachdem er ausgepeitscht und bespuckt wurde und bevor er ans Kreuz genagelt wurde mit der spöttischen Inschrift «König der Juden». Gekreuzigt wurde aber eher die israelitische Künstlerin Eden Golan als Nemo.

Auch der Liedtext ist religiös aufgeladen, passend zum Himmelfahrtsfest, wo der auferstandene Christus in den Himmel aufgefahren ist, nach seinem Abstieg in das Reich des Todes.

«I went to hell and back, to find myself on track». Nemos Botschaft: Ich habe den Code geknackt, ich bin in die Hölle hinabgestiegen und zurückgekehrt ins Paradies, habe mein Heil, mein Reich „zwischen 0 und 1“, also im non-binären Bereich, gefunden. «That’s where I found my kingdom come» lässt das Vaterunser, anklingen, wo Jesus seine Jünger beten lehrt: «Dein Reich komme» («thy kingdom come»).

Die Weltanschauung des säkularen Menschen sagt, dass er sich selber verwirklichen und sich selber eine Identität geben muss. In der Bibel findet der Mensch seine Freiheit gerade darin, nicht Gott zu sein und von Gott einen Namen zu bekommen.

Beim Turmbau zu Babel versammeln sich die Menschen gegen Gott, «um sich einen Namen zu machen» (Genesis 11,4). In Dürrenmatts Komödie «Ein Engel kommt nach Babylon» baut Nebukadnezar diesen Turm als Speerspitze gegen den Himmel:

«Ich will die Menschheit in einem Pferch zusammentreiben und in ihrer Mitte einen Turm errichten, der die Wolken durchfährt, durchmessend die Unendlichkeit, mitten in das Herz meines Feindes. Ich will der Schöpfung aus dem Nichts die Schöpfung aus dem Geist des Menschen entgegenstellen.»

In der Bibel lässt Gott den Turmbau scheitern durch eine Sprachenverwirrung: Wenn der Geist jedes Menschen selber die Schöpfung aus dem Nichts vollbringen muss, dann können keine zwei Menschen sich mehr miteinander verständigen. Und Sprachenverwirrung bedeutet Vereinsamung. Nichts verbindet uns mehr, jeder ist sein eigener Gott.

Im Folgekapitel der Bibel beruft Gott Abraham: «Ich will dir einen grossen Namen machen» (Genesis 12,2). Es ist ein Grundmotiv, das sich durch die Bibel zieht, dass Gott dem Menschen einen Namen gibt und den Menschen erlöst und davon befreit, selber Gott sein zu müssen (was, solange man keine Allmacht hat, ziemlich anstrengend ist).

Nemo steht für den heutigen Menschen, der vor die Wahl gestellt ist, Niemand oder Gott zu sein. Mani Matter fragte in einem seiner nachdenklichsten Lieder, ob wir, die wir in diesen «gottvergessenen» Städten leben müssen, von nichts mehr anderem träumen dürfen, als von Ferien am Meer und einem schönen Häuschen. Von Hand hat er dazu notiert: «Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!»

Gottvergessenheit führt zu schlechten Träumen. Wenn der identitätslose Mensch sich aus dem Nichts erschaffen muss, führt das zu keiner besseren Gesellschaft. Bizarre Bilder und eine antisemitische Grundstimmung prägten den ESC. Das jüdisch-christliche Bekenntnis, dass Gott unser Schöpfer ist und uns beim Namen ruft, stimmt hoffnungsvoll. Der Mensch ist nicht niemand und muss auch nicht Gott sein. Jesus hat die Dornenkrone getragen, Nemo muss sie nicht tragen.

Prof. Dr. Benjamin Kilchör, STH Perspektive, März 2024

 

 

Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 8. Oktober 2024 um 9:00 und abgelegt unter Gender, Gesellschaft / Politik, Sexualethik.