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Menschenfresser brauchen das Evangelium nicht

Mittwoch 20. Juli 2022 von Holger Lahayne


Holger Lahayne

„Beinahe alle Übel und alles Böse dieser Welt haben ihren Ort und Ursprung im Krieg“, schrieb Mitte des 16. Jahrhunderts der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger. Eines dieser Übel ist die Entmenschlichung der Einwohner des feindlichen Landes. So geschieht es auch nun wieder, auf dem Hintergrund des Krieges zwischen der Ukraine und Russland. Litauen führt zwar direkt keinen Krieg gegen den großen Nachbarn im Osten, doch im öffentlich-rechtlichen Sender LRT hörte man, „die Mehrheit [der Menschen Russlands] sind Zombies“ – all diejenigen, die auf die eine oder andere Weise Putin unterstützen oder sich nicht von ihm abgrenzen, seien keine richtigen Menschen. „Am Putinismus sind 80% der Russen erkrankt“, so Vytautas Landsbergis weiter. Ihr Hirn arbeite nicht mehr normal. Es blieben nur 20% – „Noch haben sich nicht alle Russen in Zombies und Menschenfresser verwandelt.“

Das sind leider keine Einzelstimmen. Der bekannte Journalist (und Lutheraner) Rimvydas Valatka meinte im April, nicht Putin, sondern das russische Volk sei das eigentliche Problem. Die Russen hätten in ihrer Geschichte immer wieder die Chance verpasst, zu Menschen zu werden. Nun habe man ein Volk von „Monstern“, das sich einen passenden Präsidenten gewählt hat. Im Hinblick auf russische Kriegsverbrechen benutzte auch Präsident Nauseda den neuen Modebegriff: „Diese Grausamkeiten können nur von Zombies, nicht von Menschen, begangen worden sein.“ Schließlich ist ein einflussreicher Influenzer zu nennen, der sagte, die Russen seien (alle?) Aggressoren, die der „Verwertung“ zugeführt werden sollten.

Zombies, Monster und Menschenfresser sind keine richtigen Menschen – lebende Tote, Ungeheuer, furchteinflößende Mischwesen. Solche „Untermenschen“ können, ja müssen beseitigt werden. Deutsche wissen nur zu gut, dass es zu solchen Vorstellungen kommt, wenn über Generationen Hass auf ganze Völker aufgebaut wird. So schrieb Ernst Moritz Arndt im Jahr 1813 in „Über Volkshaß“, jedes Volk müsse „eine feste Liebe, einen festen Haß haben“. Im Krieg gegen Napoleon war Haß gegen die Franzosen gefragt, und zwar „für immer“. „Dieser Haß glühe als die Religion des deutschen Volkes, als heiliger Wahn in allen Herzen“. 1809 sprach er davon, dass das Ziel des Hasses die Vernichtung des „Scheusals“ sei; die Soldaten der Heere Napoleons seien „Franzosenungeziefer“, das zu beseitigen sei. Anfang des I Weltkriegs übernahm Ernst Lissauer die Staffel und schrieb den „Haßgesang gegen England“, den viele Deutsche bald auswendig kannten.

Ganz oben an der Stadtverwaltung von Vilnius prangt ein riesiges Plakat mit englischer Aufschrift: „Putin, Den Haag wartet auf dich“. Gemeint ist, dass sich der russische Präsident vor einem Kriegsverbrechertribunal verantworten und wie schon die Anführer der Serben verurteilt werden soll. Vor einem Gericht stehen aber nur Menschen, keine Zombies. Einen Verrückten sperrt man in die Psychiatrie weg, ein Monster wird beseitigt. Allen (normalen) Menschen dagegen muss ein faires Verfahren gemacht werden, denn alle sind nach dem Ebenbild Gottes geschaffen und besitzen eine unverlierbare Würde – auch oder gerade der Verbrecher.

Bibelstellen wie 1. Mose 9, 5-6, 2. Mose 21, 24 und 5. Mose 25, 1-3 machen deutlich, dass die Würde des Menschen verlangt, angemessen und begrenzt bestraft zu werden. Strafe „verdienen“ Menschen, nicht Tiere oder andere Wesen. Dabei muss Schuld, ein konkretes Verbrechen, auch tatsächlich vorliegen und der Person nachgewiesen werden – und dann muss die verdiente Strafe aber auch verhängt werden. Es darf nicht willkürlich oder nur zu Abschreckung gestraft werden. Der Bestrafte bleibt „Bruder“ oder Mitbürger, der nicht entehrt oder öffentlich gedemütigt werden darf (5. Mose 25, 3).

1945 offenbarten sich der Welt nach und nach alle barbarischen Untaten der Nazis. Das Volk der Dichter und Denker war einen teuflischen Abhang hinabgerutscht – direkt in die Arme einer verbrecherischen und skrupellosen Bande. Sollte man die Haupttäter des „Dritten Reiches“ nicht kurzerhand erschießen, wie Churchill vorschlug? Die Alliierten entschlossen sich jedoch dazu, nicht weiter an der Spirale des Hasses zu drehen. Recht sollte gesprochen werden; ein Signal, dass auch Verbrechen durch eine Staatsführung geahndet werden können. Beim Nürnberger Kriegsverbrechertribunal saßen 1945/46 21 Männer aus der Spitze der Diktatur auf der Anklagebank. Nach dem um Fairness bemühten Verfahren wurden drei Angeklagte freigesprochen, sieben zu Haftstrafen verurteilt und die anderen zum Tode verurteilt (Göring entzog sich dem Strang durch Selbstmord).

Die Nazi-Führer bekamen als Menschen einen ordentlichen Prozess, der sie ihrer irdischen Strafe zuführte. Als Menschen wurden ihnen auch zwei Militärseelsorger zur Seite gestellt: der katholische Priester Sixtus O’Connor und der Pfarrer Henry Gerecke aus der lutherischen Kirche der Missouri-Synode. Beide Amerikaner wussten um die Gräuel der Nazis (O’Connor war unter den ersten, die das befreite KZ von Mauthausen bei Linz betraten). Als Christen hatten sie keine Illusion über die Abgründe des Bösen, die sich in jeder menschlichen Seele auftun können. Beide bemühten sich intensiv um ihre verlorenen Schafe.

„Es waren die siegreichen Alliierten, die in Nürnberg über die Verbrechen der führenden Nazis urteilten. Aber es war ein Pastor der amerikanischen Lutherischen Kirche (Missouri Synod), der diesen Männern zu zeigen versuchte, dass das, was sie eigentlich fürchten sollten, das Gericht Gottes war“, schreibt Tim Townsend in seinem Buch über Gereckes Mission in Nürnberg (Letzte Begegnungen unter dem Galgen, Hänssler, 2016).

Gerecke glaubte, so Townsend weiter, „dass es seine Pflicht als Pastor und Seelsorger war, diesen Seelen Erlösung zu bringen und so viele dieser Nazi-Größen, wie er konnte, vor ihrer Hinrichtung zum Glauben zu bringen“. Einige der Angeklagten wie Rosenberg, Kaltenbrunner oder Streicher wiesen die Bemühungen der Seelsorger jedoch zurück. Letzterer posaunte noch vor der Hinrichtung „Heil Hitler!“ hinaus.

Der lutherische Pastor hatte keine billige Gnade im Angebot. Zum Abendmahl ließ er nur die diejenigen zu, die nicht nur Bedeutung dieses Sakraments verstanden, sondern auch in Buße und Glauben innerlich dafür bereit waren. Gerecke verweigerte Göring Brot und Wein, da dieser zwar an Gott, wie er sagte, aber nicht an den Retter Jesus Christus glaubte. Wilhelm Keitel, zuvor Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, kehrte dagegen zum Glauben zurück und bedankte sich bei Gerecke: „Sie haben mir mehr geholfen, als Sie sich vorstellen können. Möge Christus, mein Heiland, mir bis zum Ende helfen und zur Seite stehen. Ich werde ihn so nötig brauchen.“

Auf dem Weg zum Galgen summte Keitel das Lied „Harre, meine Seele“ von Johann Friedrich Räder (EG, 596). Vor der Hinrichtung betete er Graf von Zinzendorfs Worte mit Gerecke nach: „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel werd eingehn“. Keitel und andere waren bis zum bitteren Ende willige Helfer Hitlers. Die Führungsclique des Nazis hatte Millionen Menschenleben auf dem Gewissen. Doch in seinem Bericht schreibt Gerecke, er glaube aufrichtig, dass Frick, Sauckel, Ribbentrop und Keitel „als reuige Sünder starben, die auf Gottes Gnade vertrauten und um Vergebung baten. Sie glaubten an Jesus, der sein Blut für ihre Sünden vergossen hat.“

Die Mehrheit der Menschen Russlands wie auch Deutschlands oder Litauens sind zwar einst Getaufte (wie alle auf der Anklagebank in Nürnberg), doch ihnen fehlen persönliche Reue über Sünde und persönlicher Glaube. Menschenfresser und Zombies brauchen das Evangelium tatsächlich nicht, doch Menschen – wie tief auch immer sie gefallen sind – ist die Gute Nachricht von „Christi Blut und Gerechtigkeit“ weiterzusagen.

Holger Lahayne, 15. Juli 2022 (www.lahayne.lt)

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 20. Juli 2022 um 18:11 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Seelsorge / Lebenshilfe.