Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Widerstand und Ergebung 2020

Freitag 15. Mai 2020 von Prof. Dr. Harald Seubert


Prof. Dr. Harald Seubert

In Krisen lernen die Menschen in der Regel sich selbst und ihre Nächsten besser kennen. Krisen bringen zutage, was sonst verborgen bleiben würde. Dabei wird unter Juristen und Rechtsphilosophen diskutiert, ob der Grundsatz: „Not kennt kein Gebot“ zutrifft oder ob der Gegensatz gilt: „Not kennt ein anderes Gebot“. Für den Christen sollten solche Situationen aber zuerst und zuletzt auf Gottes Gebot und seine Ordnungen zurückführen.1

Gesundheit gegen Rechtsschutz?

Durch die Covid 19-Pandemie und die ihr folgenden Aktionen geht es auch um die Frage, ob Gesundheit gegen Rechtsschutz eingetauscht werden kann. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben sieht zu Recht die Gefahr einer neuen Barbarei heraufziehen, in der der medizinisch rundum betreute Mensch alles mit sich machen lässt, wenn nur sein Leben geschützt wird.2 Eine solche Tendenz besteht tatsächlich. Christen müssen diesem Rad in die Speiche zu fallen versuche – in Tun, Unterlassen, Denken und Ethos.

Seit 1945 ist in die freiheitlichen Grundrechte nicht so tief eingegriffen worden wie derzeit. Dies betraf auch die freie Religionsausübung. Ihr zentraler Ort ist für Christen nach wie vor der Gottesdienst: Das Hören auf Gottes Wort, in seinem Namen und seiner Kraft (Röm 8,15; Gal 4,6; Joh 14 und 16), die Feier seiner Gegenwart und die Neuausrichtung auf ihn (vgl. Psalm 84,10).3 Christen sind hier im Herzen ihres Glaubens angesprochen und sie sind angegriffen, wenn instinktlos von „Gottesdienstverboten“ die Rede ist. Gottesdienste sind etwas wesentlich Anderes als andere Veranstaltungen. Der Mainstream der deutschsprachigen Christenheit hat es in der jüngsten Zeit versäumt, auf diese Mitte des Glaubens hinzuweisen. Vielleicht weil der reale Gottesdienst nicht mehr das wichtigste Anliegen ist, das er sein sollte. Aus Gottes Wort und dem Gebet gewinnt alles andere christliche Engagement aber erst seinen christlichen Sinn und seine Mitte.

Christliches politisches Engagement in der gegenwärtigen Situation

Benjamin Splitt wirft richtige und wichtige Fragen auf. Unstrittig, dass der Mittelweg, den er empfiehlt, den beiden anderen Wegen vorzuziehen ist. Die Mitte ist schon für Aristoteles der Ort der Tugend gewesen.4 Doch die Mitte zu finden ist nicht einfach. Für uns Christen ist sie nur zu finden, wenn wir in allen Situationen unser Denken und Handeln an dem orientieren, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist (Joh 14,6).

Christen sollten sich im Sinn dieser Mitte an der Lehre von den zwei Reichen orientieren, die Jesus Christus mit der Aussage: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist“ (Mt 22,21) umreißt. Daraus folgt der Imperativ, dass Gott mehr zu gehorchen ist als den Menschen (Apg 5,29), dem sich die christliche Zweireiche-Lehre seit Luther und Augustinus verpflichtet wusste.5

Daraus folgt weiterhin ein klares Kriterium für christliches politisches Engagement in der gegenwärtigen Situation: Es sollte den von Gott gesetzten Ordnungen entspringen, etwa der aus der Gottebenbildlichkeit folgenden Würde des Menschen. Eine Regierung muss, wenn sie Freiheiten einschränkt, dem Maßstab der Menschenwürde folgen. Sie muss also gute Gründe dafür haben und sie auch offen und freimütig aussprechen. Dies bedeutet, dass sie Perspektiven des Wiedereinstiegs ins normale Leben und einen begrenzten Zeitraum nennen muss, für den die Einschränkungen gelten. All dies ist in Deutschland und den meisten Ländern Europas viel zu wenig geschehen. Man muss nicht Verschwörungstheoretiker sein, um die klammheimliche, etwa vom ehemaligen Außenminister Fischer geäußerte Freude an Paternalismus und einem Betreuungsstaat verdächtig zu finden.

Christen sollten ihr bürgerliches Mandat daher gerade in dieser Krise im vollen Sinn wahrnehmen. Sie sollten nüchtern und wachsam sein (1. Petrus 5,8), wo immer im Namen übergeordneter ideologischer Ziele bürgerliche Rechtsfreiheiten eingegrenzt und neue Pseudoreligionen etabliert werden. Diese sind immer verfehlt und werden diabolisch. Auch wenn sie Ziele verfolgen, die für sich genommen Sinn haben und berechtigt sind. Dies gilt für das Klima, es gilt auch für die Hygiene. Die Formen des politischen Engagements sind frei und vielfältig. Ihre Wahl wird sich nach Situation, Begabung, Möglichkeiten bemessen. Allen ist zu misstrauen, die nur einen Weg vorschreiben möchten. Der reinen Gesinnungsethik ist eine umsichtige Verantwortungsethik vorzuziehen. Die Grenze zur Gewalt dürfen sie in einem freiheitlichen Rechtsstaat, in dem andere Möglichkeiten gegeben sind, in keiner Weise überschreiten.

Dann lassen sich mit Urteilskraft Einzelfragen für gegenwärtiges Handeln beantworten: Petitionen sind sinnvoll, wenn sie rechtzeitig erfolgen und an die richtigen, gutwilligen Adressaten gehen. Ziviler Ungehorsam, wo er das rechte Maß hält, kann Pflicht sein, wenn er in Demut und Rücksicht geschieht. Demonstration ist ein Instrument der demokratischen Ordnung. Hier kann der „Marsch für das Leben“ sinnvolles Vorbild sein. Auch das Gespräch mit und das Gebet für Politikerinnen und Politiker ist sinnvoll und wesentlich. Doch Christen sind wie alle Bürger auch zum Einspruch und zur Kritik und Mahnung berechtigt, wenn sie nur beherzigen, dass alles, was sie tun in Liebe geschieht (1. Kor 16,14).

Ein christlicher Mainstream als Zivilreligion

In all dem ist zu bedenken, dass die Politik Gottes Hoheit gegenüber immer nur ein Vorletztes und die – demokratisch legitimierte – Obrigkeit vor Gott eine „Untrigkeit“ ist, wie Luther sagte. Dies bedeutet nicht, dass uns Krisen gleichgültig sein dürften. Nein: Es bedarf eines christlichen Mainstreams als Zivilreligion, sonst werden andere Zivilreligionen sich an seine Stelle setzen. Der agnostische frühere italienische Senatspräsident Pera sieht in einer solchen Zivilreligion sogar einen großen Gewinn auch für die Nicht-Christen in einer Gesellschaft.6

So bedarf es der Wachsamkeit und unter Umständen auch des Widerstands gegen weltliche Mächte und Denkformen, aber der Ergebung in Gottes Rat. Politische Intelligenz und das Gebet erfordern einander. Gerade in der Krise wird das sichtbar!

Prof. Dr. Harald Seubert, 7. Mai 2020

Quelle: https://kirche-und-corona.de

Prof. Dr. Harald Seubert leitet seit 2012 den Fachbereich für Philosophie und Religionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel. Zudem ist er Dozent für Politische Philosophie an der Hochschule für Politik München und Vorsitzender der Martin-Heidegger-Gesellschaft.

 

Fußnoten

  1. Dazu E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen. Entwurf einer protestantisch-theologischen Ethik. Zürich, New York 1932; und G. Huntemann, Biblisches Ethos im Zeitalter der Moralrevolution. Holzgerlingen 1999.
  2. G. Agamben, in NZZ 18.3.2020 und 7.4.2020 zur Corona-Krise.
  3. Dazu R. Slenczka, Kirchliche Entscheidung in theologischer Verantwortung. Grundlagen, Kriterien, Grenzen. Göttingen 1991, S.24 ff. Siehe auch meinen Disput mit R. Anselm in: idea Spektrum 7, 22.4.2020.
  4. Aristoteles, Nik. Ethik 1102 a ff.
  5. Dazu U. Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre. Stuttgart 21982; sowie G. Rohrmoser, Religion und Politik in der Krise der Moderne. Graz, Wien, Köln 1989.
  6. M. Pera und J.Ratzinger, Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur. Augsburg 2005.

 

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 15. Mai 2020 um 12:20 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Kirche.