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Nicht dümmer sein als Ochs und Esel. Die Botschaft der Tiere an der Krippe.

Freitag 4. Januar 2019 von PD Dr. theol. Meik Gerhards


PD Dr. theol. Meik Gerhards

Eine Darstellung der Geburt Christi in der „Basilica di Sant‘ Ambrogio“ in Mailand (um 390 n. Chr.) zeigt das Kind in der Krippe umgeben von Ochs und Esel. Ochs und Esel waren dem Künstler offenbar wichtiger als Maria und Joseph, Hirten und Könige. Allerdings sind die beiden Tiere in der Weihnachtsgeschichte (Lk 2,1-20) gar nicht erwähnt. Sie sind Jes 1,2f. entnommen. Schon die altkirchliche Auslegung verknüpfte das Jesaja-Wort mit der Weihnachtsgeschichte. Angesichts mancher Verkürzungen und Banalisierungen, denen die Weihnachtsbotschaft selbst in kirchlichen Kreisen ausgesetzt ist, lohnt es sich, über diese Verknüpfung zweier Bibelstellen noch einmal nachzudenken, Jes 1,2f. zur Grundlage einer weihnachtlichen Besinnung zu machen und damit Ochs und Esel als unverzichtbare Figuren unserer Weihnachtskrippen zu würdigen.

Das ist freilich nicht möglich, ohne neu darüber nachzudenken, wie Christen das Alte Testament lesen können. Die Not auch mancher Theologen, in einer biblisch angemessenen Weise über Weihnachten zu sprechen, hat viel mit dieser Frage zu tun. Hier ist manches von älteren Schriftauslegern zu lernen, die das Alte Testament in der festen Überzeugung lasen, dass es auf das Kommen Jesu Christi vorausweist. „Höret, ihr Himmel, und Erde, nimm zu Ohren, denn der HERR redet: Ich habe Kinder großgezogen und hochgebracht, und sie sind von mir abgefallen! Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt’s nicht, und mein Volk versteht’s nicht (Jes 1,2f.).

1.) „Eine jüdische Familie bekommt ein Kind, das ganz im jüdischen Glauben aufgeht“ – Weihnachten für Einsteiger?

„Chrismon plus. Das Evangelische Magazin“, eine Zeitschrift der Evangelischen Kirche, zu deren Herausgeberkreis der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Dr. H. Bedford-Strohm, und die Präses der Synode der EKD, Dr. I. Schwaetzer, gehören, enthält die regelmäßige Kolumne „Religion für Einsteiger“. Unter dieser Rubrik widmet sich der Diplom-Theologe E. Kopp in der Dezemberausgabe 2018 dem Thema „Wussten schon die Propheten von Jesu Geburt?“ Der Untertitel lautet: „Jahrhunderte liegen zwischen den Verheißungen der alten Propheten und der tatsächlichen Geburt in Bethlehem. Das wirft doch einige Fragen auf“ (1) Es lohnt sich, diese Kolumne zum Anlass ausführlicherer Überlegungen zu nehmen, weil sie selbst zu kritischen Rückfragen Anlass gibt. Darin ist sie leider typisch für viele kirchliche Äußerungen nicht nur zu Weihnachten, sondern zu Kernfragen des christlichen Glaubens überhaupt.

Kopp bezieht sich auf die Ankündigung der Geburt Jesu in Mt 1,18-25. Joseph ist überrascht: Seine Verlobte Maria ist schwanger, ohne dass die beiden die Ehe vollzogen haben. Ein Engel offenbart ihm, dass das Kind vom Heiligen Geist sei, dass sie einen Sohn gebären werde, den er „Jesus“ – also „Retter“ – nennen solle, weil er sein Volk von ihren Sünden retten werde (Mt 1,21). Und alles das geschehe, damit erfüllt werde, was Gott durch den Propheten gesagt hat: „Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel geben“ – „Immanu El“ das heißt: „Gott mit uns“ (Mt 1,22f.).

Kopp warnt allerdings davor, das prophetische Wort als Vorhersage der Zukunft zu verstehen. „Propheten geben keine Prognosen. Sie sagen nicht etwas Zukünftiges voraus, sondern versuchen, die Hoffnung auf Veränderungen zu stärken. (…) Ihre Aussagen nehmen nicht die Zukunft vorweg, sondern bereiten Menschen auf Veränderungen vor“. Geburt und Leben Jesu als „Erfüllung“ der Geschichte zu sehen, die im Alten Testament erzählt ist, sei zwar „ein großartiges Bekenntnis“, es berge aber eine Gefahr in sich: Es könnte Christen verleiten, „die jüdische Vergangenheit und das Judentum“ abzuwerten. Aber: „Für christliche Herablassung bietet die zutiefst jüdisch geprägte Weihnachtsgeschichte keinen Anlass. Eine jüdische Familie bekommt ein Kind, das ganz im jüdischen Glauben aufgeht, bis es dann eigene Wege geht und das Reich Gottes verkündigt“.

Über den letzten Satz muss man stolpern. Hatte Kopp seine Kolumne nicht damit begonnen, dass Joseph Zweifel hat, weil seine Verlobte schwanger ist, ohne dass er mit ihr zusammen war? Sagt der Engel nicht, dass Maria als Jungfrau vom Heiligen Geist schwanger ist? Die Situation von Maria und Joseph war also nicht so gewöhnlich wie es der Satz „Eine jüdische Familie bekommt ein Kind“ vermuten lässt. Der Satz bricht der Erzählung die Spitze ab. Er verschleiert das Wunder, dass ein ganz besonderes Kind auf ganz besondere Art zur Welt kommen soll: ein Kind, das keinen menschlichen Vater hat, in dem aber Gott mit den Menschen ist.

Und was hat es mit dem weiteren Satz auf sich, dass Jesus „ganz im jüdischen Glauben aufgeht“, bis er „dann eigene Wege geht und das Reich Gottes verkündigt“. Kopp hatte doch zuvor geschrieben, dass das Kind „Jesus“ = „Retter“ heißen soll, weil er „sein Volk von ihren Sünden retten wird“ (Mt 1,21). Was hat Jesus der Retter mit dem Verkündiger des „Reiches Gottes“ zu tun, zu dem Jesus nach Kopp wird, wenn er eigene Wege zu gehen beginnt?

2.) Ein der Aufklärung verpflichtetes Jesusbild – liberal, aber an den Pointen des Textes vorbei

Wer die Geschichte der evangelischen Theologie der letzten zweihundert Jahre kennt, ahnt, woher der Wind hier weht. Kopp referiert zwar das Neue Testament, im entscheidenden Moment – am Schluss der Kolumne, wo er zusammenfasst, was der Leser mitnehmen soll –, wird aber die Botschaft des biblischen Textes verkürzt oder gar verabschiedet. Übrig bleibt, was der „moderne“ Mensch stehenlassen kann, der sich dem Gedankengut der Aufklärung des 18. Jh.s verpflichtet sieht. Die Pointe des biblischen Textes wird dabei aber verfehlt. Die Schwangerschaft der Jungfrau, mit der der Spannungsbogen der Erzählung eröffnet wird (Mt 1,18), wird durch etwas Alltägliches ersetzt, das auch der Mensch nicht anzuzweifeln braucht, der sich nach heute verbreitetem Sprachgebrauch als „aufgeklärt“ versteht: „Eine jüdische Familie bekommt ein Kind“.

Dass dieses Kind der in Jes 7,14 angekündigte Heilsbringer ist, wird am Ende der Kolumne ebenfalls verschwiegen. Stattdessen wird Jesus zum Verkündiger des Reiches Gottes: Aus dem König, der selbst ein Friedensreich errichtet, wird ein Prediger, der ein Friedensreich verkündigt. So stellen sich protestantische Theologen, die sich der Aufklärung verpflichtet sehen, Jesus vor: Die Grenzen aufklärerischer Philosophie hindern sie daran, in ihm den menschgewordenen Gottessohn zu sehen; die protestantische Prägung, gewöhnt an die zentrale Stellung der Predigt im Gottesdienst, legt es nahe, Jesus vor allem als Lehrer und Prediger zu verstehen. Schließlich wird – als Erfordernis aufgeklärter Toleranz – der Frieden der Religionen propagiert: „Doch die Bibel wird sowohl Juden als auch Christen nur dann gerecht, wenn sich die einen nicht auf Kosten der anderen profilieren oder das Alte Testament als Steinbruch für das Neue missbrauchen“.

Tatsächlich geht es nicht an, dass Christen die Bibel dazu benutzen, sich auf Kosten anderer zu profilieren. Bevor sie anderen Menschen biblische Wahrheiten weitersagen, müssen sie sich diese Wahrheiten selbst gesagt sein lassen. Das darf aber nicht dazu führen, entscheidende Differenzen zwischen dem christlichen Glauben und anderen Religionen einzuebnen.

3.) Die besondere Brisanz des Verhältnisses von Christentum und Judentum

Die Frage, ob bereits die Propheten des Alten Testaments die Geburt Jesu angekündigt haben, betrifft eine Differenz zwischen christlichem und jüdischem Glauben. Die Sache ist daher von besonderer Brisanz. Das Judentum ist keine fremde Religion, sondern wie das Christentum aus der Wurzel des alttestamentlichen Gottesvolkes hervorgegangen. Aber es gibt die leidvolle Geschichte, in der Christen Juden schlecht gemacht, verfolgt und getötet haben. Die Erinnerung daran hat eine Scheu erzeugt, Differenzen zwischen christlichem und jüdischem Glauben, christlichem und jüdischem Bibelverständnis hervorzuheben. Werden diese Differenzen aber relativiert oder gar verschwiegen, leidet die Frohe Botschaft von Jesus Christus Schaden. Jesus wie ihn die protestantische Aufklärung sich vorstellt, als Prediger des Reiches Gottes (was immer das dann konkret heißt), mag sich weitgehend störungsfrei in ein christlich-jüdisches Verhältnis einfügen – Jesus wie ihn das Neue Testament verkündigt, als Messias, der schon im Alten Testament angekündigt ist, bildet den entscheidenden Differenzpunkt zwischen Christen und Juden. Aber diese Differenz ist auszuhalten – gegenseitigen Respekt, ja, Nächstenliebe vorausgesetzt.

Kopp sagt zurecht, dass die Bibel nicht als „Steinbruch“ für eigene Ansichten missbraucht werden darf. Er bezieht dies auf den christlichen Umgang mit dem Alten Testament. Doch schlägt er selbst der Erzählung Mt 1,18-25 sperrige Ecken und Kanten ab, um sie für seine Theologie passgerecht zu machen und wohl auch, um die Differenz zum Judentum zu minimieren. Damit aber missbraucht er das Neue Testament als „Steinbruch“.

4.) Christen, ihre jüdischen Wurzeln und ihr Zugang zum Alten Testament

Der christliche Glaube ist in seinem Kern nichts anderes als die Überzeugung, dass Jesus der in alttestamentlichen Texten angekündigte oder erwartete Messias („Gesalbte“) (z.B. Ps 2,2), Davidsohn (z.B. Jes 9,1-6), Immanuel (Jes 7,14), Gottesknecht (z.B. Jes 52,13-53,12) und Menschensohn (Dan 7,13) ist. Ohne diese Überzeugung ergäbe die Bezeichnung „Jesus Christus“ keinen Sinn, die ja nichts anderes besagt als dass Jesus der Messias ist – „Messias“ und „Christus“ bedeutet beides „der Gesalbte“, die Wörter sind austauschbar. Wenn aber die Bezeichnung „Jesus Christus“ keinen Sinn macht – es sei denn, sie sollte bedeuten, dass Jesus der Messias ist, den das Alte Testaments ankündigt –, dann sind die, die diese Überzeugung nicht teilen, keine Christen im eigentlichen Sinn des Wortes.

Die Differenz in der Frage, ob Jesus der Messias ist, bestand ursprünglich innerhalb des Judentums, waren doch alle, die sich am Anfang zu Jesus als Messias bekannten, Juden. Aus der innerjüdischen Differenz sind die beiden klar unterschiedenen Religionsgemeinschaften der Christen und der heutigen Juden hervorgegangen. Damit ist es eindeutig: Die Kirche hat jüdische Wurzeln; schon deshalb hat sie aber prinzipiell keinen Grund, sich über das Judentum zu erheben.

Gerade, weil das Christentum jüdische Wurzeln hat, gehört es aber zum Christsein, sich als geistlicher Erbe des alten Israel zu verstehen, von dem und zu dem das Alte Testament spricht. Luther nennt die alten Israeliten deshalb „unsere Vorfahren“ (2). Wir Christen können daher das, was im Alten Testament über und zu Israel gesagt ist, auf uns beziehen – allerdings in der Überzeugung, dass das Alte Testament noch nicht die ganze Geschichte Gottes mit Israel und der Menschheit kennt. Deren Erfüllung ist erst in Jesus Christus eingetreten. Christen können davon nicht absehen, wenn sie wirklich Christen sind; Juden können dem nicht zustimmen. Deshalb kann man das Alte Testament an vielen Stellen gerade nicht so lesen, dass es „sowohl Juden als auch Christen gerecht“ wird. Kopp jagt einer Illusion nach, wenn er sich das wünscht.

5.) Was hat das Alte Testament uns Christen zu sagen? – Bibelauslegung alter Schule

Wollen wir das Alte Testament so lesen wie es der christliche Glaube ermöglicht – als ersten Teil unserer Bibel, der noch nicht ausdrücklich von Jesus Christus erzählt, aber doch auf ihn vorausweist –, dann ist es hilfreich, bei Bibelauslegern in die Schule zu gehen, die von dieser christlichen Grundüberzeugung durchdrungen waren und alttestamentliche Texte im Licht der neutestamentlichen Erfüllung lasen. Zu denen gehören die Kirchenväter und andere Theologen der Alten Kirche, die Bibelausleger des Mittelalters, aber auch die Reformatoren und älteren Ausleger der evangelischen Kirche.

Vom Neuen Testament ist eine solche Auslegung von Joh 5,39 her geboten, wo Jesus zu jüdischen Gesprächspartnern sagt: „Ihr sucht in den Schriften“ – gemeint sind die heiligen Schriften Israels, unser Altes Testament – „denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie sind‘s, die von mir zeugen“. Sollte dieses Wort nicht auch christlichen Bibellesern gelten, die verlernt haben, das Alte Testament als Zeugnis von Jesus Christus zu lesen?

Das Verlernen ist nicht zuletzt eine Folge der historischen Bibelwissenschaft, die sich seit ca. 200 Jahren an den theologischen Fakultäten durchgesetzt hat. Prinzipiell ist dagegen auch nichts einzuwenden. Schädlich für den Glauben wird es aber, wenn die Erkenntnisse dieser Forschung absolut gesetzt werden: So wie die moderne Bibelwissenschaft biblische Texte untersucht, kann sie diese nur als Dokumente der allgemeinen Religionsgeschichte, als Ausdruck menschlicher Ansichten und Erfahrungen in den Blick bekommen. Das sind die biblischen Texte zweifellos auch! Wird das aber als die ganze Wahrheit ausgegeben, nimmt man die Bibel nicht mehr als Zeugnis göttlicher Offenbarung oder gar als Gottes Wort wahr. Im Interesse des christlichen Glaubens ist daher mit der Einsicht ernstzumachen, dass die neuzeitliche Bibelwissenschaft zwar viele Erkenntnisse über die historischen Hintergründe und den historischen Sinn biblischer Texte erarbeitet hat, dass ihre Fragestellungen und Methoden aber kein Urteil darüber erlauben, ob die Bibel mehr ist als eine Sammlung religionsgeschichtlich interessanter Texte.

Um die tiefere Dimension der Bibel zu erfahren, ist von den älteren Auslegern neu zu lernen, sie als die eine Heilige Schrift zu lesen, die sich von ihrem Zentrum her selbst erschließt. Dieses Zentrum ist die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, von der das Neue Testament zeugt, nach Joh 5,39 aber auch schon das Alte. Vertrauen wir mit den älteren Auslegern darauf, dass sich die Heilige Schrift selbst auslegt, können wir fragen, wie das Alte Testament den Glauben an Jesus Christus fördert und bereichert und wie umgekehrt Texte des Alten Testaments im Licht dieses Glaubens verständlich und aktuell werden.

6.) Die rätselhaften Ankündigungen des Jesajabuches

Mit diesem Vorhaben nähern wir uns allmählich wieder dem Thema „Weihnachten“. In Mt 1,22f. wird die Jungfrauengeburt Jesu als Erfüllung der Verheißung der Geburt des „Immanuel“ (Jes 7,14) angekündigt. Neben 7,14 enthält das Jesajabuch noch weitere Prophezeiungen, die nach dem Neuen Testament in Jesus Christus erfüllt sind. Das betrifft nicht nur Prophezeiungen, die sich in seiner Geburt erfüllt haben (Jes 7,14; 9,1-6; 11,1-10), sondern auch das Lied vom leidenden Gottesknecht (Jes 53), das sich in der Passion erfüllt. Der Kämmerer aus Äthiopien liest dieses Lied, als Philippus zu ihm geschickt wird, um ihm daran das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen (Apg 8,26-39).

Damit sind wir aber bei der Frage, mit der Kopp seine Kolumne überschreibt: „Wussten schon die Propheten von Jesu Geburt?“ Etwa Jesaja? Die Jahrhunderte, die zwischen der Lebenszeit dieses Propheten und der Geburt Jesu in Bethlehem liegen, werfen „doch einige Fragen auf“. Die Frage ist verständlich. Wer sie aber so auf die Person der Propheten zuspitzt, wird weder dem heutigen Stand der historischen Bibelwissenschaft gerecht (3) noch der Auffassung der Bibel als Wort Gottes.

Die historische Bibelwissenschaft hat die Frage, was ein Prophet zu seiner Zeit wusste oder sagen wollte, gegenüber der Frage zurückgestellt, welche Bedeutung die Prophetenworte im Zusammenhang der Bücher haben, in denen sie überliefert sind. Was das Jesajabuch angeht, so besteht Einigkeit darüber, dass in ihm prophetische Texte aus verschiedenen Jahrhunderten versammelt sind. Die Ankündigungen der Geburt des Messias oder des „Immanuel“ in Jes 7; 9 und 11 mögen auf den Propheten Jesaja, Sohn des Amoz, zurückgehen, der im 8. Jh. v. Chr. in Jerusalem wirkte und unter dessen Namen das ganze Buch gestellt ist (Jes 1,1); das Lied vom leidenden Gottesknecht in Jes 53 wird dagegen einem Propheten zugeschrieben, der während des babylonischen Exils (587-539 v. Chr.) wirkte und mit dem künstlichen Namen „Deuterojesaja“ („zweiter Jesaja“) bezeichnet wird. Aber die prophetischen Einzelgestalten treten hinter dem Buch zurück. Dass die Worte überhaupt schriftlich aufgezeichnet wurden, setzt die Überzeugung voraus, dass sie eine Wahrheit enthalten, die nicht nur für die Zeitgenossen, sondern auch für spätere Generationen Bedeutung hat. Schriftlichkeit verleiht Worten Dauer. Bücher, die über Jahrhunderte hin immer wieder abgeschrieben wurden, beanspruchen nicht nur für eine Generation Aktualität. Im Übrigen beanspruchen die Prophetenworte eine Wahrheit zu enthalten, die nicht von Menschen kommt, sondern von Gott: „So spricht der HERR“ oder „Spruch des HERRN“ finden sich als übliche Formeln am Anfang oder am Ende einzelner Worte. Auch deshalb geht es nicht nur darum, was ein Prophet als inspiriertes „Sprachrohr“ Gottes zu seiner Zeit sagen wollte. Vielleicht wollte er, mit Kopp gesagt, seinen Zeitgenossen „keine Prognosen“ geben, sondern „die Hoffnung auf Veränderung“ stärken. Bei der Auslegung der Prophetenbücher darf aber die Frage nicht ausbleiben, was sie als Wort Gottes auch Menschen späterer Zeiten zu sagen haben.

Dann aber fordern einige Worte des Jesajabuches zu der Frage heraus, von wem sie eigentlich handeln: Wer ist der Sohn der Jungfrau, der den Namen „Immanuel“, „Gott (ist) mit uns“, haben soll (Jes 7,14)? Wer das Kind, das den Thron Davids innehaben wird, dessen Geburt „ein großes Licht“ für das „Volk, das im Finsteren wandelt“ sein wird (Jes 9,1-6)? Wer ist der Gottesknecht, der unsere Krankheit trägt und unsere Schuld auf sich lädt (Jes 53,4)? Der Kämmerer aus Äthiopien bringt das Rätsel dieser Texte auf den Punkt, wenn er fragt: „Von wem redet der Prophet das, von sich selbst oder von jemand anderem?“ (Apg 8,34). Der Kämmerer liest das Lied vom leidenden Gottesknecht (Jes 53). Wen der Prophet, den wir „Deuterojesaja“ nennen, damit gemeint hat, werden wir nie erfahren. Spekuliert wird, ob sich der Text auf das Schicksal dieses Propheten selbst bezieht, ob er an eine Person seiner Zeit, an das Volk Israel oder an einen Teil des Volkes gedacht hat (4).

Die historische Bibelwissenschaft stößt hier an die Grenzen dessen, was sicher erkennbar ist. Aber, selbst wenn sich eine dieser Alternativen als historisch wahrscheinlich begründen ließe, bleibt die Frage, was das Gottesknechtslied damit heute zu sagen hätte. In dieser Ratlosigkeit erhält der Text von anderer Seite einen guten Sinn: Das schriftlich niedergelegte und damit auf dauerhafte Aktualität angelegte Prophetenwort wird im Licht des Sterbens und Auferstehens Jesu als Wort Gottes verständlich, in dem dieser Tod und diese Auferstehung angekündigt und erklärt werden (5).

Dass in Jesus der gekommen ist, um den es in Jes 53 geht – das ist der Inhalt des „Evangeliums von Jesus“, das Philippus dem Kämmerer verkündigt (Apg 8,35). Und die Frohe Botschaft überzeugt: Der Kämmerer bittet um die Taufe (Apg 8,36). Sollte es weniger überzeugen, die Ankündigung der Geburt des Immanuel durch die Jungfrau (Jes 7,14) und das Hervorgehen eines Friedensherrschers aus der Davidfamilie (Jes 9,1-6; Jes 11,1-10) als in Jesus erfüllt zu sehen? Sollten nicht auch andere Worte des Jesajabuches im Licht dieser Erfüllung etwas Aktuelles zu sagen haben?

7.) Was hat Jes 1,2f. uns Christen zu sagen? Eine Idee der frühen Bibelauslegung

Ganz am Anfang des Jesajabuches, vor den Texten über den Immanuel, Davidsohn und Gottesknecht, wird eine Klage Gottes in den Kosmos hinausgerufen: Höret, ihr Himmel, und Erde, nimm zu Ohren, denn der HERR redet: Ich habe Kinder großgezogen und hochgebracht, und sie sind von mir abgefallen! Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt’s nicht, und mein Volk versteht’s nicht (Jes 1,2f.).

Sollte man die Klage, mit der das Buch eröffnet wird, nicht auch auf die Ankündigungen des göttlichen Heilsbringers beziehen, die sich an späteren Stellen des Buches finden und die für sich genommen rätselhaft bleiben? Sollte uns die Klage nicht zu der Frage anregen, ob wir den Herrn kennen, um den es an diesen Stellen geht?

Kirchenväter und andere frühe Theologen, die das Alte Testament in der Überzeugung lasen, dass in ihm das Kommen Jesu vorbereitet wird, haben auch die Klage von Jes 1,2f. im Licht dieser Überzeugung wahrgenommen. Ein Stichwort fiel ihnen daher besonders auf: die „Krippe des Herrn“. Es erinnerte sie an die Krippe, in die Maria das Jesuskind legt (Lk 2,7) und die zum Zeichen wird, an dem die Hirten den Heiland erkennen sollen: „in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“ (Lk 2,12.16) (6).

Die Verknüpfung von Jes 1,2f. mit der Krippe von Bethlehem hat bis heute ihre Relevanz nicht verloren. Sie ist noch immer in den meisten Weihnachtskrippen und an vielen anderen Orten sichtbar, an denen die Geburt Jesu dargestellt ist: Ochs und Esel gehören dazu, wenn die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem abgebildet wird. Zwar fehlen die Tiere in der Weihnachtsgeschichte von Lk 2; über die Verknüpfung mit Jes 1,2f. sind sie aber doch in den Stall von Bethlehem hineingekommen. Gehen wir bei den älteren Bibelauslegern in die Schule, die die Bibel als die eine Heilige Schrift lasen, die sich selbst auslegt, sollten wir auch über diese Verknüpfung nachdenken. Die Anwesenheit von Ochs und Esel an der Krippe von Bethlehem ist ein Kommentar zur Weihnachtsgeschichte, der von einer anderen Stelle der Heiligen Schrift angeregt ist.

8.) Jes 1,2f. als Kommentar zur Weihnachtsgeschichte

In Jes 1,2f. klagt Gott, er habe Kinder großgezogen, aber sie seien von ihm abgefallen. Und er weist auf die unglaubliche Dummheit hin, die in diesem Abfall liegt: Selbst Tiere sind klüger! Ein Ochse kennt seinen Herrn, und ein Esel die Krippe seines Herrn – aber Israel kennt’s nicht, und sein Volk versteht’s nicht.

Dieses Wort sagt uns Christen nichts, wenn wir bei „Israel“ und Gottes „Volk“ an das heutige Judentum denken. Wir würden uns dann nicht angesprochen fühlen. Gerade dann läge aber die Gefahr nahe, dass wir uns, mit Kopp gesagt, auf Kosten des Judentums profilieren. Es handelt sich ja um ein sehr kritisches Wort, das Israel vorwirft, dümmer als Ochse und Esel zu sein. Diesen Vorwurf sollten wir aber nicht auf das heutige Judentum beziehen, sondern zunächst als Frage an uns selbst verstehen. Jedem Hochmut gegenüber dem Judentum wird damit der Boden entzogen. Stattdessen sind wir gefragt: Erkennen wir den Herrn? Kennen wir die Krippe des Herrn? Oder, um die Verknüpfung mit der Weihnachtsgeschichte gleich mit zu bedenken: Erkennen wir den Herrn in der Krippe?

Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe des Herrn. Warum sind die Tiere klüger als das Volk Gottes, womöglich also klüger als wir? Weil sie an den Umgang mit ihrem Herrn gewöhnt sind; weil sie die Stimme ihres Herrn kennen; weil sie wissen, dass ihr Herr ihnen immer wieder Futter in die Krippe legt. Die Tiere sind durch die guten Erfahrungen mit ihrem Herrn konditioniert. Sind sie denn darin ein Vorbild für uns? Dass wir kritisch denken können, macht unsere menschliche Würde mit aus – manchmal aber auch unsere Not. Denn manchmal sind wir gerade deshalb dümmer als Ochs und Esel.

Haben denn nicht auch wir gute Erfahrungen mit dem Herrn in der Krippe? Vielleicht nicht jeder Einzelne. Aber als Christen sind wir mit unseren Erfahrungen und unseren Erfahrungsdefiziten nie allein. Wir sind durch die Taufe hineingenommen in die Gemeinschaft der Kirche. Eltern und Paten sollten dabei versprochen haben, dass sie uns in den christlichen Glauben einführen. Aber auch wer keine Eltern und Paten hat, die sich an dieses Versprechen gehalten haben, ist nicht allein. Eltern und Paten sind nur ein kleiner Teil der vielen Generationen von Christen, die vor uns gelebt und den Glauben bis in unsere Tage weitergetragen haben.

Seit fast 2000 Jahren wird die Botschaft verkündigt, dass das Kind in der Krippe von Bethlehem der Messias ist, der im Alten Testament verheißen ist. Unzählige Menschen haben daraus Trost und Zuversicht gewonnen und die Gewissheit, dass sich die Welt mit der Geburt dieses Kindes verändert hat – noch nicht so, dass es alle wissen oder dass die Welt davon ganz durchdrungen wäre, aber doch so, dass mit der Geburt, dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi etwas Neues geworden ist, hinter das es kein Zurück gibt. Etwas Neues, das auf Vollendung in der Zukunft aus ist, auf die Überwindung von Tod und Leid, die mit der Auferstehung Christi schon begonnen hat. Weihnachten zieht Ostern nach sich; Ostern gäbe es ohne Weihnachten nicht.

Und auch so ist die Welt eine andere geworden, dass wir, seit Christus in der Krippe lag, die Gewissheit haben, dass dem ewigen Gott nichts Menschliches fremd ist. Der Menschgewordene ist ganz handgreiflich der „Gott mit uns“ („Immanu El“) geworden. Diese alte Botschaft ist von der Kirche 2000 Jahre lang bis in unsere Zeit getragen worden. Oder müsste es nicht heißen, dass diese Botschaft die Kirche 2000 Jahre lang getragen hat? Wäre die Kirche nicht längst ausgestorben, wenn die Botschaft vom Kommen des Immanu El ihre Kraft nicht immer wieder neu entfaltet hätte?

Nachdem Philippus ihm erklärt, von wem Jes 53 handelt, fragt der Kämmerer aus Äthiopien: „Was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?“ (Apg 8,36). Die Botschaft hat ihn überzeugt. Sollten wir nicht fragen: „Was hindert uns, nach all den Erfahrungen in der langen Geschichte der Kirche dieser Botschaft auch heute zu vertrauen?“ So zu vertrauen, wie Ochs und Esel ihrem Herrn vertrauen, dass er ihnen auch heute Futter in die Krippe legt? Sollte die Kraft dieser Botschaft nicht stärker sein als die kritischen Fragen, die uns aufgeklärten Menschen in Fleisch und Blut übergegangen sind?

Wo wirklich klug gefragt wird, muss das Fragen aber auch um seine Grenzen wissen. Die moderne Wissenschaft hat uns einen Schatz an Wissen und technischen Fähigkeiten beschert, von dem frühere Jahrhunderte nicht entfernt träumen konnten. Aber trotz allem kann sie nicht sagen, wer Gott ist und was er für uns vorhat. Um das zu erkennen, muss noch immer Gottes Wort seine überzeugende Kraft erweisen wie es die Kirche seit 2000 Jahren erfährt. Wer diese Erfahrung in den Wind schlägt und womöglich versucht, die Botschaft den Grenzen seines Horizontes entsprechend zu beschneiden, der mag noch so berechtigte Fragen haben. Er muss sich fragen lassen, ob er nicht dümmer ist als Ochs und Esel.

Die Tiere an der Krippe warnen uns davor! So bewahrt ihre Anwesenheit an der Krippe von Bethlehem Weihnachten vor der Verflachung durch seichte Theologie, die auch in Zeitschriften verbreitet wird, deren Herausgeber hochrangige Repräsentanten der EKD sind. Die Anwesenheit der Tiere bewahrt Weihnachten vor Moralisierung, Verkitschung und Kommerzialisierung. Denn ihre Botschaft lautet im Anschluss an Jes 1,2f.: „Sei nicht dümmer als Ochs und Esel! Kenne deinen Herrn und die Krippe deines Herrn! Ja: Erkenne in der Krippe deinen Herrn!“ Nur denen erschließt sich der tiefe Ernst und die wahre Freude des Weihnachtsfestes, die für diese Botschaft offen sind.


Endnoten

(1) Die Kolumne von E. Kopp findet sich in „Chrismon plus. Das Evangelische Magazin“ 12.2018 auf S. 72f. (online unter https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2018/41792/weihnachten [gesehen am 23.12.2018]).

(2) Luther nennt die alten Israeliten in einer Auslegung von Jes 37 nostri antecessores: Das, was sie nach den alttestamentlichen Texten „äußerlich und körperlich“ (externe corporaliter) erfahren haben, können christliche Leser „innerlich und geistlich“ (interne et spiritualiter) nacherleben (WA 31/2, 243, 7-9). So können Christen die Zusage Jesajas an Hiskia, dass die Erretteten des Hauses Juda wieder Wurzeln schlagen und Frucht bringen werden (Jes 37,31), abgelöst von der ursprünglichen Situation als Ermunterung verstehen, auch in aussichtslosen Situationen an der Hoffnung festzuhalten.

(3) Anders als die Forschung des 19. und frühen 20. Jh.s fragt die heutige Prophetenforschung weniger nach den bedeutenden Einzelpersönlichkeiten, die am Anfang der Überlieferung stehen, sondern nach der Entstehung der Prophetenbücher sowie der aktualisierenden und kommentierenden theologischen Arbeit, die insbesondere in den späteren Schichten und Texten des Prophetencorpus festzustellen ist. Dabei gilt aus religionsgeschichtlicher Sicht, dass „das Phänomen der Prophetie im Alten Testament (…) gewiss kein analogieloses“ ist, denn es gibt auch im Alten Orient prophetische Texte, die sich aber nur an Menschen ihrer Zeit richten. In dem Maße, in dem die Entstehung von Prophetenbüchern einzelnen Worten Dauer und bleibende Aktualität verlieh und sie zur Grundlage weiterer theologischer Arbeit werden ließ, ist das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie „immer analogieloser geworden“ (J. Jeremias, Das Wesen der alttestamentlichen Prophetie, Theologische Literaturzeitung 2006, Sp. 3-14, Zitat: Sp. 3). Diese Besonderheit der biblischen „Schriftprophetie“ ist zu berücksichtigen, wenn man über die Rezeption prophetischer Texte im Neuen Testament nachdenkt. Dann kann es z.B. nicht nur darum gehen, was ein bestimmter Prophet Jahrhunderte vor der Geburt Jesu gewusst oder gedacht haben mag.

(4) Einen Eindruck von den Problemen der Identifizierung des Gottesknechtes in Jes 53 und anderen Deuterojesaja-Texten vermittelt H.-J. Hermisson, Art. „Gottesknecht“ (v.a. 3.2. „Der Streit um den ‚Gottesknecht‘ der Lieder), in: www.wibilex.de [erstellt: Januar 2018; gesehen am 23.12.2018].

(5) Allerdings bilden das historische Verständnis des Textes und sein Verständnis im Licht des Todes und der Auferstehung Christi nicht unbedingt einander ausschließende Alternativen. Eine ausführliche Exegese sollte sogar ihre Aufgabe darin sehen, beide Perspektiven miteinander zu verbinden.

(6) Vgl. dazu J. Ziegler, Ochs und Esel an der Krippe. Biblisch-patristische Erwägungen zu Is 1,3 und Hab 3,2 (LXX), Münchener Theologische Zeitschrift 3 (1952-1954), 385-402.

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PD Dr. theol. habil. Meik Gerhards
mgerhar3@uni-koeln.de
(Alle Rechte vorbehalten)

Quelle: Netzwerk Bibel und Bekenntnis
newsletter 3.1.2019

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 4. Januar 2019 um 17:28 und abgelegt unter Gemeinde, Theologie.