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Alter und neuer Mensch nach Martin Luther

Dienstag 27. November 2018 von Dr. Joachim Cochlovius


Dr. Joachim Cochlovius

1.) Die Erbsünde und der alte Mensch

Wenn er vom Menschen vor Gott (lat. coram deo) spricht, weist Luther immer wieder zunächst auf die Erbsünde hin. In den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 führt er im Anschluss an Röm 5,12 aus: „Die Früchte der Erbsünde sind die bösen Werke, die in den Zehn Geboten verboten sind wie Unglaube, Abgötterei, ohne Gottesfurcht sein, Vermessenheit, Verzweiflung, Blindheit, in summa: Gott nicht kennen oder Gottes Wort nicht achten, den Eltern ungehorsam sein, morden, Unkeuschheit, stehlen, trügen usw.“[1]

In der theologischen Deutung der Erbsünde geht Luther dabei weit über die Scholastik hinaus. Dort galt die Erbsünde als ein angeborener Defekt, als eine Schwäche und Disposition zum Bösen, die erst durch eine Reizung von außen zur Tatsünde wird. Für Luther ist die Erbsünde kein Mangel, kein Defekt, sondern böse Leidenschaft. Er sagt dazu passio, und er meint damit das dunkle Gefälle im Menschen, das ihn zum Bösen hintreibt. Die Erbsünde des natürlichen Menschen äußert sich in verschiedenen gottlosen Grundhaltungen. Ich möchte hier drei der wichtigsten nennen: Undankbarkeit, Hochmut und Begierde. Was meint Luther mit diesen Begriffen?

Die Undankbarkeit ist diejenige Haltung, in welcher der Mensch die Güter seines Lebens, die er täglich von Gott empfängt, selbstverständlich gebraucht, ohne an Gott zu denken. „Wir gehen damit um, als hätten wir es selbst und nicht Gott geschafft. Der Mensch lebt so, als wäre er selbst Gott und Herr auf Erden.“[2] In der Römerbriefvorlesung sieht Luther in der Undankbarkeit des natürlichen Menschen den Anfang einer verhängnisvollen Kette, die bis hin zum praktischen Atheismus und Götzendienst führt.

„Der erste Schritt besteht in der Undankbarkeit. Das bewirkt das Wohlgefallen an sich selbst, wo man sich nicht über das Empfangene freut, als wäre es nicht empfangen. Die zweite Stufe ist die Eitelkeit. Man weidet sich an sich selbst und an der Kreatur und genießt, was einem nützlich ist. So wird man eitel in Gedanken, Plänen und Bestrebungen. Man sucht in ihnen nur sich selbst, seinen eigenen Ruhm, seine Befriedigung, seinen Vorteil. Die dritte Stufe ist die Verblendung. Man wird in seinem ganzen Herzen, in all seinem Denken blind, weil man sich völlig von Gott abgewendet hat. So kommt es zum Abirren von Gott. Und das ist das Schlimmste. Die vierte Stufe führt zur Abgötterei.“[3]

Damit sind wir schon bei der zweiten gottlosen Grundhaltung, dem Hochmut bzw. der Hoffart oder Selbstgefälligkeit (lat. superbia). Luther beschreibt in immer neuen Wendungen, wie unheimlich gefährlich der Hochmut ist, besonders auch im frommen Gewand. Gerade auch der religiöse und fromme Mensch versucht immer wieder, seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten. Im tiefsten Herzen bildet er sich etwas auf sein frommes Tun ein. Er will etwas gelten vor Gott. Er will Gott etwas bringen. Er ist im tiefsten mit sich zufrieden.

Ein dritter Wesenszug des natürlichen Menschen ist die Begierde (lat. concupiscentia). Luthers Deutung und Wertung der Begierde geht ebenfalls viel weiter als in der Scholastik, wo sie im Wesentlichen auf sexuelle Triebe und Augenlüste bezogen wurde. Die Begierde sitzt unheimlich tief. Sie kommt darin zum Ausdruck, dass der Mensch in all seinem Tun letztlich nur das Seine sucht. In der Römerbriefvorlesung heißt es:

„Der Mensch ist so sehr in sich verkrümmt (lat. incurvatus in se), dass er nicht nur die leiblichen, sondern auch die geistlichen Güter sich selbst zudreht und sich in allem sucht. Die menschliche Natur sieht sich allein, sie erstrebt sich in allen Dingen und geht über alles, was dazwischen liegt, auch über Gott selbst hinweg, als ob sie es gar nicht sähe, und richtet sich rein auf sich selbst. Sie setzt sich selbst an die Stelle Gottes. Sie ist sich selber der vornehmste und wichtigste Abgott.“[4]

Die Begierde im frommen Gewand ist die schlimmste. Luther sagt, ebenfalls in der Römerbriefvorlesung, dass es auch für den Christen sehr schwer ist, in seinem geistlichen Leben immer zu erkennen, ob er wirklich Gott oder nicht vielmehr sich selbst sucht. In allen geistlichen Dingen, so sagt er, wie Erkenntnis, Keuschheit und Frömmigkeit, kommt es häufig vor, dass wir sie nicht deswegen üben, weil sie Gott gefallen, sondern weil sie uns befriedigen und unserem Herzen Ruhe geben oder weil wir von Menschen gelobt werden. Wir sind also letztlich nicht um Gottes Willen, sondern um unseretwillen fromm. Prüfstein für die Echtheit des geistlichen Lebens ist nach Luther die Anfechtung. Wenn wir keine angenehmen Empfindungen im geistlichen Leben haben oder kein Lob für geistliche Werke empfangen und dann deswegen darin träge werden, so ist dies ein Beweis dafür, dass unser geistliches Leben letztlich doch nur um uns selbst kreist und kein echter Gottesdienst ist.

Undankbarkeit, Hochmut und Begierde sind also die Hauptkennzeichen des gefallenen Menschen. Sie sind Ausdruck der Erbsünde. Wohl keiner hat die Sünde in ihrer wirklichen gottfeindlichen Sündhaftigkeit so tief erfasst wie Luther. Seine theologische Sicht lässt alle bloß moralischen Deutungen der Sünde weit hinter sich und entlarvt sie als das von Satan inspirierte Streben im Menschen, selbst Gott zu sein und den lebendigen Gott vom Thron zu stürzen. Alles Reden von einem natürlichen Streben nach Gott ist seit Luther nicht mehr möglich.

Natürlich ist Luthers Einsicht nur eine Wiederentdeckung der biblischen Sicht des Menschen. Man kann auch ohne Luther, etwa durch das Studium des Römerbriefes, zu dieser Sichtweise kommen. Hauptsache ist es, dass wir auch in unserer Verkündigung und Seelsorge die Sünde des Menschen in ihrer ganzen Schärfe und Tiefe richtig erfassen. Nur wenn dem Menschen die Sünde wirklich sündig wird, wenn er sich als ein zu Recht Angeklagter und zum Tode Verurteilter erfasst, kann es bei ihm zu der alles entscheidenden Frage kommen: Was muss ich tun, um errettet zu werden? In diesem Sinn sind Luthers Definitionen des alten Menschen von größter Wichtigkeit für eine wirklich erweckliche Verkündigung.

Der „alte“ Mensch ist, für sich betrachtet, ein verlorener Mensch. Von Gott total entfremdet, in seinem innersten Wesen nur auf sich selbst bezogen, geht der Mensch verloren, wenn Gottes Erbarmen nicht in sein Leben hineinspricht. Diesen Ruf Gottes an den verlorenen Menschen in Gesetz und Evangelium und das Annehmen der in Christus dargebotenen Gnade durch den Menschen nennt Luther das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders. Dies ist unser zweiter Abschnitt.

2.) Die Rechtfertigung und der neue Mensch

Das geistliche Geschehen, das wir heute mit den Worten Erweckung, Bekehrung und Erneuerung beschreiben, hat Luther Rechtfertigung genannt. Das rechtfertigende Handeln Gottes – im ganzen Geschehen der Rechtfertigung ist für Luther immer Gott der eigentlich Handelnde – beginnt damit, dass Gott den Menschen in Verzweiflung führt. Er benutzt dazu das Gesetz. Das Gesetz Gottes ist das einzige Mittel, um den Menschen zur Sünden- und Selbsterkenntnis zu führen. Luther spricht einmal von der „verruchten Sicherheit, die so tief in allen Menschen drinsitzt, dass sie nichts erschüttern kann als Gottes Gesetz“ (Zweite Disputation gegen die Antinomer 1538).[5] Obwohl es das eigentliche Ziel des Gesetzes ist, den Menschen zum Leben zu führen, vermag es wegen der menschlichen Natur nicht mehr als dies, ihn zur Verzweiflung zu führen. Dies ist ein geistlicher, ein gottgeschenkter Vorgang. „Die evangelische Verzweiflung, zu der das Gesetz hintreiben soll, ist nicht böse und bleibt nicht für immer, sondern sie macht gleichsam Bahn für den Empfang des Christusglaubens, wie geschrieben steht: Den Armen wird das Evangelium verkündigt.“ (Zweite Disputation gegen die Antinomer 1538)[6]

Luther wird nicht müde zu betonen, dass der Mensch erst wirkliche Sündenerkenntnis braucht, ehe er das Evangelium im Glauben ergreifen kann. Dabei ist es für Luther wichtig, dass echte Sündenerkenntnis nicht nur im Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse besteht, sondern dass die Sünde in ihrem tiefsten Wesen als Auflehnung gegen den lebendigen Gott, als Unglaube, also als grundsätzliche Antihaltung gegen das erste Gebot begriffen wird. So groß und schwer ist die Sünde, dass Luther einmal formulieren kann: „Wenn ein Mensch die Größe der Sünde fühlte, so würde er nicht einen Augenblick mehr leben. Solche Gewalt hat die Sünde.“[7] Nur wer die Sünde in ihrer Furchtbarkeit aufzuzeigen vermag, kann nach Luther Evangelist, also Gnadenbote sein.

Das Mittel, das Gott benutzt, um den Menschen zur Sündenerkenntnis zu führen, ist also das Gesetz. Hier entwickelt nun Luther die für ihn typische Lehre vom Gesetz. „Aber das vornehmste Amt oder Kraft des Gesetzes ist es, dass es die Erbsünde mit ihren Früchten und allem offenbare und dem Menschen zeige, wie tief seine Natur gefallen und grundlos verderbt ist, und es ihm sagen muss, dass er keinen Gott habe noch achte, dass er vielmehr fremde Götter anbete, was er zuvor ohne das Gesetz niemals geglaubt hätte. Damit wird er erschreckt, gedemütigt, verzagt, verzweifelt, wollte gern, dass ihm geholfen würde, und weiß nicht wie und wo“ (Schmalkaldische Artikel).[8]

In dieser Auffassung vom Gesetz ist Luther eindeutig schriftgebunden. Genauso beschreibt Paulus die geistliche Funktion des Gesetzes, dass es nämlich die Sünde in ihrer Gottesfeindschaft erst richtig aufdeckt (Röm 5,20 und 7,7). Paul Althaus beschreibt in seiner „Theologie Martin Luthers“ die Wirkung des Gesetzes auf den Menschen wie folgt: „Der Mensch spürt, was es um Gottes heilige Forderung ist. Sie wächst ihm ins Riesenhafte. Er fühlt, dass er mit ihr nicht fertig wird. Er verzweifelt an Gott, an Gottes Barmherzigkeit und am eigenen Heil.“[9]

Als Beispiel für diese Erfahrung füge ich hier ein Zeugnis von Erich Schnepel an, dem bekannten Evangelisten. Er war als junger Mann in der Nordsee von einem friesischen Fischer vor dem Ertrinken gerettet worden. Und dort – noch gezeichnet von Todesangst – hatte er die Stimme des lebendigen Gottes im Gewissen gehört. „Da war kein Pastor und keine Kirche, aber die Wirklichkeit Gottes war mir unaussprechlich gewiss. Zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich aus unmittelbarer Erfahrung um ihn selbst. Es ist nicht gemütlich, dem lebendigen Gott zu begegnen. Es beginnt die große Auseinandersetzung mit ihm. Was er mir zu sagen hatte, war klipp und klar die Frage: Was wäre aus dir geworden, wenn du aus den Wellen der Nordsee nicht wiedergekommen wärst? Die Antwort brauchte mir kein Mensch zu sagen, die wusste ich selber. Ich wusste, es wäre schrecklich gewesen, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen. Ich wusste, dass ich vor Gott verloren gewesen wäre. Dabei war nach üblichen Begriffen alles tipptopp in meinem Leben. Primus des Gymnasiums, dem keiner etwas nachsagen konnte, im Begriff, bald auf die Universität zu gehen, um alte Sprachen und Geschichte zu studieren, was wollte man noch mehr! Aber es ist etwas völlig anderes, wenn wir mit Gott selbst zusammengetroffen sind. Dann erfolgt eine Umwertung aller Werte. Wir bekommen einen völlig neuen Blick für uns. Es werden uns Dinge erschlossen, die wir bis dahin gar nicht beachtet haben. Es braucht einem kein Mensch mehr zu erklären, was Sünde ist.“[10]

Für eine recht verstandene Gesetzespredigt ist dieser sog. zweite Gebrauch des Gesetzes („Sünden mehren“) unverzichtbar. Wenn es nicht mehr gelingt, durch die Verkündigung des Gesetzes den Menschen dahin zu bringen, dass er sich als ein zu Recht angeklagte und verlorenes Unglückswesen erfasst, wenn er nicht mehr dahin geführt wird, die Frage aller Fragen zu stellen, die in jeder echten Erweckung aufbricht: Was muss ich tun, um gerettet zu werden?, wird die Verkündigung des Evangeliums wenig Frucht bringen können.

Was muss ich tun? Das war die Frage der beiden großen Erweckungsbewegungen, von denen das Neue Testament berichtet, in der Täuferbewegung und zu Pfingsten. Luk 3,10: Das Volk fragt Johannes: Was sollen wird denn tun? Apg 2,37: Als sie das hörten, ging es ihnen durchs Herz und sie sprachen zu Petrus und zu den anderen Aposteln: Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?

An dieser Stelle, wo der Mensch an sich und seinen Möglichkeiten verzweifelt, kommt es nach Luther zu einer entscheidenden Weichenstellung. Entweder verstockt sich hier der Mensch gegen Gott, dann ist er verloren, oder es kommt zum Eingeständnis seiner Sünde in der Buße. Die Buße, also das Eingestehen der eigenen Gottlosigkeit und Selbstverliebtheit, ist ebenso wie die Verzweiflung ein Werk Gottes am Menschen. Luthers eigentlicher Einwand gegen die römisch-katholische Bußpraxis hat hier seine Begründung. Buße ist keine religiöse Leistung, sondern Werk Gottes an uns. Der römisch-katholischen Bußtheologie, die einen Dreierschritt lehrte: contritio cordis, die Reue des Herzens, confessio oris, das Bekenntnis mit dem Mund, und satisfactio operis, die Genugtuung mit der Tat, war damit die Basis entzogen.

Wichtig ist nun, dass Luther unter Hinweis auf das Neue Testament Buß- und Evangeliumspredigt immer koppelt. „Tut Buße und glaubt an das Evangelium“ (Mark 1,15), das ist der doppelte Inhalt evangelischer Predigt. Beides gehört zusammen. Beides bedingt einander. Bußpredigt ohne Evangelium ist grausam und verkennt Gottes Liebesabsicht mit dem Sünder. Evangeliumspredigt ohne Bußpredigt verschleudert das Evangelium und erreicht keine geistliche Frucht. In jeder Gesetzespredigt muss das Evangelium hervorleuchten, ja, sie muss vom Evangelium getragen sein. Erst das Evangelium, so könnte man sagen, bewirkt die Bekehrung. Ludwig Hofacker hat es einmal so ausgedrückt: „Glaub es mir, Lieber: Eine wahre Herzenszerknirschung, ein wahres Armsündersein kann nur durch das Evangelium uns gegeben werden. Nur durch Anerkennung der Liebe, die uns zuerst geliebt hat, kann Satans Werk in uns zerschlagen und ausgefegt werden. Das Gesetz kann auch zerschlagen, aber es ist, wie wenn du ein Stück Gummi mit dem Hammer zerschlagen wolltest. Solange der Hammer darauf liegt, bleibt es breit. Tut man aber den Hammer weg, so geht es wieder zusammen. Da muss man mit Feuer, und zwar mit Liebesfeuer kommen und die Materie zergehen und zerfließen lassen – das hilft und das hilft allein.“[11]

Damit sind wir beim entscheidenden Geschehen in der Rechtfertigung. Im Evangelium wird Christus als der Heiland verkündigt, der von Sünde, Tod und Teufel befreit. Es kommt nun alles darauf an, dass sich der verzweifelte und bußfertige Mensch Christus aneignet. Diese Aneignung geschieht durch den Glauben. Deswegen nennt Luther den wahren Heilsglauben eine fides apprehensiva, einen Christus ergreifenden Glauben.[12]

Immer wieder ist es zu Missverständnissen der Rechtfertigungstheologie Luthers gekommen, weil man das Wesen des Heilsglaubens nicht verstanden hat. Wenn die Rechtfertigung z.B. so verstanden wird, dass der Mensch nur den Freispruch von der Sünde zu akzeptieren hat, dann ist sie gründlich missverstanden. Von Rechtfertigung kann man im Sinne Luthers erst dann sprechen, wenn der Mensch in einer Grenzerfahrung seines Lebens sich als verlorenen Sünder vor Gott begreift und den lebendigen Christus als persönlichen Heiland ergreift. Ein bloßes Notiznehmen, ein bloßes Sich-zusprechen-lassen des Freispruchs (das wäre die sog. fides historica[13]) ist noch keine Rechtfertigung.

Luther äußert sich öfters sehr kritisch gegen einen solchen verdünnten, nur zur Kenntnis nehmenden Glauben. Das sei „ein bloßer, lediger, fauler und schläfriger Gedanke von Christo, dass er sei von der Jungfrau geboren, gelitten, gekreuzigt, auferstanden, gen Himmel gefahren.“[14] Ein anderes Zitat: „Sie heißen das Glauben, dass sie von Christo gehört haben und halten, es sei alles wahr. Wie denn die Teufel auch glauben und werden dennoch nicht fromm dadurch! Aber das ist nicht ein christlicher Glaube, ja es ist mehr ein Wahn. Solchen Gläubigen ist Christus nicht näher, auch nichts mehr nütze als den Teufeln und Verdammten selbst.“ (Promotionsthesen de fide, These 7, 1535).[15]

Auch in der hermeneutischen Debatte ist zu unterscheiden zwischen fides historica und fides apprehensiva. Ein bloßes Eintreten und Kämpfen um die Faktizität der biblischen Berichte ist zu wenig. Das ist noch nicht automatisch der lebendige Christusglaube, der die biblischen Berichte als wahr akzeptiert. Es kommt immer darauf an, Christus im Glauben zu ergreifen!

Echter Heilsglaube ist niemals nur ein bloßes, kaltes Zur-Kenntnisnehmen der Heilstaten Gottes, sondern ein die ganze Persönlichkeit des Menschen ergreifendes existentielles Erfassen des auferstandenen und gegenwärtigen Christus. Nirgends hat Luther das Wesen des Glaubens besser beschrieben als in seiner berühmten Vorrede zum Römerbrief. Hier heißt es: „Aber Glaube ist ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott (Joh 1) und den alten Adam tötet und uns zu ganz anderen Menschen macht von Herzen, Mut, Sinn und allen Kräften, und den Heiligen Geist mit sich bringt. Oh, es ist ein lebendig, geschäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, dass es unmöglich ist, dass er nicht ohne Unterlass sollte Gutes wirken. Er fragt auch nicht, ob gute Werke zu tun sind, sondern ehe man ihn fragt, hat er sie getan und ist immerdar im Tun. Wer aber nicht solche Werke tut, der ist ein glaubensloser Mensch, tappt und sieht um sich nach dem Glauben und guten Werken und weiß weder, was Glaube oder gute Werke sind, er wäscht und schwätzt doch viele Worte vom Glauben und guten Werken. Glaube ist eine lebendige verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiss, dass er tausendmal darüber stürbe. Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und lustig gegen Gott und alle Kreaturen, welches der Heilige Geist tut im Glauben. Daher wird er ohne Zwang willig und lustig, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden, Gott zu Liebe und Lob, der ihm solche Gnade erzeigt hat, also dass es unmöglich ist, Werke vom Glauben zu scheiden, unmöglich, wie brennen und leuchten vom Feuer geschieden werden können. Darum sieh dich vor vor deinen eigenen falschen Gedanken und unnützen Schwätzern, die vom Glauben und guten Werken klug sein wollen zu urteilen und doch die größten Narren sind. Bitte Gott, dass er Glaube in dir wirke, sonst bleibst du wohl ewiglich ohne Glauben, dichtest und tust was du willst oder kannst.“[16]

Rechtfertigung geschieht also, wenn der von Gottes Gesetz zur Verzweiflung und Buße geführte Mensch Christus als seinen persönlichen Heiland erkennt und im Glauben ergreift. So kann Luther 1535 in der 1. Disputation über Röm 3,28 (de fide) die These aufstellen: „Die Rechtfertigung ist in Wahrheit eine Wiedergeburt zu neuem Leben, so wie es Johannes sagt: die an seinen Namen glauben und von Gott geboren sind (1. Joh 5,1 und 13).“[17]

Luthers Rechtfertigungslehre hat eine objektive und eine subjektive Seite. Die objektive Seite beschreibt die Heilstat und das Heilsangebot Gottes in Christus. Die subjektive Seite beschreibt die existentielle Aneignung der Person Christi durch den Menschen. Wer nur die objektive Seite betont, kann Luther nicht gerecht werden. Wir müssen also die objektiv klingenden Äußerungen Luthers über die Rechtfertigung stets gleichzeitig auch subjektiv verstehen. Das gleiche gilt auch von Art. 4 der Augsburger Konfession von 1530. Dort heißt es, übersetzt nach dem lateinischen Text: „Die Menschen können vor Gott nicht gerechtfertigt werden durch eigene Kräfte, Verdienste oder Werke, sondern sie werden ohne ihr Zutun gerechtfertigt um Christi Willen durch den Glauben, wenn sie glauben, dass sie in Gnade aufgenommen und ihre Sünden vergeben werden um Christi willen, der durch seinen Tod für unsere Sünden Genugtuung geleistet hat.“[18]

Bei solchen Formulierungen muss man wie gesagt aufpassen, dass man den richtigen Begriff vom Glauben durchhält, nämlich die fides apprehensiva. Das ist noch kein Heilsglaube, der es nur für wahrscheinlich oder für wahr hält, dass Christus für unsere Sünden gestorben ist. Echter Heilsglaube ist erst dort, wo der Mensch die Botschaft für sich ganz persönlich erfasst und glaubt. Hier hat das berühmte „pro me“ Luthers seinen Platz. Damit meint Luther letztlich das gleiche wie die Erweckungsprediger: Der Mensch muss Christus als seinen persönlichen Heiland erkennen und ergreifen. Insofern ist Luthers Rechtfertigungslehre nur in der erwecklichen Dimension voll zu verstehen.

Luther meint in seinen Ausführungen zum alten und neuen Menschen im Grunde das gleiche wie der genuine Pietismus, nur in anderer Terminologie: dass Gott den Menschen sucht durch die Verkündigung von Gesetz und Evangelium und dass der Mensch dann Christus, den das Wort Gottes ihm vor die Augen malt, im Glauben ergreifen muss.

Pastor Dr. Joachim Cochlovius, Walsrode

Quelle: Aufbruch – Informationen des Gemeindehilfsbundes, Oktober 2018

[1]     BSLK 434,1

[2]     Vgl. WA 1,225,1; 20,230,28; 24,117,22; 29,600,30; 30/II,555,18; 51,394,14

[3]     WA 56, 178,24 (zu Röm 1,21)

[4]     WA 56,304,25

[5]     WA 39/I,349,9; 426,2; 464,17

[6]     WA 39/I, 430,9

[7]     Oft bei Luther, z.B. WA 40/III,552f.; 603,19

[8]     BSLK 436,5

[9]     Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers. 2. Aufl. Gütersloh 1963, S.156

[10]   Zitat aus M. Haug, Er ist unser Leben. Stuttgart 1962, S. 398

[11]   Zitat teilweise aus A. Ringwald, Menschen vor Gott Band I. Stuttgart 1957, S. 246f.

[12]   Z.B. WA 39/I,45,21; 53,20; 57,27

[13]   Z.B. WA 39/I,44,5; 54,1.26.34ff.; 55,1ff.; 58,

[14]   Crucigers Sommerpostille 1544, Predigt zum Pfingstmontag über Joh 3,16: WA 21,488,11

[15]   WA 39/I,45,9; 55,1

[16]   Luthers Vorreden zur Bibel, hg.v. H.Bornkamm, it 677, 1983, 182f.

[17]   WA 39/I,48,14

[18]   BSLK 56,1-8

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 27. November 2018 um 9:53 und abgelegt unter Seelsorge / Lebenshilfe, Theologie.