Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Im Gespräch: Landesbischof i. R. Prof. Dr. Gerhard Müller

Montag 31. Juli 2017 von Gemeindehilfsbund


Gemeindehilfsbund

Prof. Dr. theol. D. D. Gerhard Müller wurde 1929 geboren und lebt in Erlangen. Er war von 1967 bis 1982 Professor für Historische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen. Von 1982 bis 1994 war er Landesbischof der Evang.-Luth. Landeskirche in Braunschweig, in dieser Eigenschaft von 1990 bis 1993 auch der Leitende Bischof der Vereinigten Evang.-Luth. Kirche Deutschlands (VELKD). Er ist besonders bekannt geworden als Kenner der Reformationszeit und als Herausgeber des größten deutschsprachigen theologischen Lexikons, der Theologischen Realenzyklopädie (TRE).

Herr Professor Müller, erlauben Sie mir bitte zum Einstieg eine ganz persönliche Frage. Was verdanken Sie den Reformatoren für Ihr Glaubensleben?

In meinem Konfirmandenunterricht 1941-43 habe ich Martin Luthers „Kleinen Katechismus“ kennen und schätzen gelernt. Auch auswendig wurde er von mir gelernt. In der Schule kam „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ hinzu. Im Studium erfuhr ich von der Betonung der Frömmigkeit und der Bildung durch Philipp Melanchthon. Konzentration auf die Bibel, Gottesdienst und Gebet waren die Folge.

Wir stehen mitten im Reformationsjubiläum. Die sog. Luther-Dekade 2008-2017 geht ihrem Ende entgegen. Sie haben sich für dieses Jahr nicht nur fröhliche Events, sondern „ein Fest des Glaubens“ gewünscht. Sehen Sie in unseren Kirchen und Gemeinden Anzeichen für ein Wiederaufblühen des christlichen Glaubens?

Von einem Aufblühen habe ich wenig bemerkt. Die Dekade ist in den Gemeinden, die ich kenne, kaum angekommen. Zehn Jahre waren auch eine lange Zeitspanne. Ein einmaliges Geschehen war dies und wird es wohl auch bleiben. „Feste des Glaubens“ können auch unabhängig von Erinnerungen gefeiert werden. Ein Fest ist nachhaltig. Die bisherigen Events waren dies nicht, sondern gierten nach neuen Events.

Wie kann Luthers Bußtheologie, dass unser Leben eine beständige Umkehr zu Gott sein sollte, und seine Suche nach dem gnädigen Gott heute vermittelt werden?

Wir müssten uns unsere Grenzen eingestehen. Nicht alle können nur Erfolge haben. Wie gehen wir mit unserem Scheitern um? Wie mit so genannten Schicksalsschlägen? Wer ehrlich zu sich selber ist, gesteht sich nicht nur die eilende Zeit, sondern auch die Endlichkeit seiner Kräfte ein. Umzukehren, zurück zu blicken, tut gut. Noch wichtiger ist es, sich die Notwendigkeit einzugestehen, ein neues Leben zu beginnen, das sinnvoll ist und in dem ich mich nicht mehr um mich drehe. Gott, der uns fern gerückt zu sein scheint, käme uns dann nahe. Er vergibt mir meine Schuld, die so schwer auf meinen Schultern liegt, dass sie mich verkrümmt. Ich lerne, dass ich Gott nicht gnädig stimmen muss, denn er hat mich in der Heiligen Taufe zu seinem Kind und Erben gemacht. Jetzt bin ich gehalten, den „alten Adam“ täglich von neuem zu ersäufen.

Sie waren in den Jahren der Studentenproteste als akademischer Lehrer tätig. Hat sich die neomarxistische Bewegung seitdem in der Theologie niedergeschlagen?

Die Neomarxisten sind recht still geworden nach dem Zusammenbruch der Staaten, die nicht das erhoffte Paradies geschaffen haben, sondern in denen Gewalt und Unterdrückung regierten. An die Stelle des Neomarxismus sind, wenn ich es recht sehe, Politologie, Psychologie, Soziologie und Ideologien wie Esoterik getreten. Sie gefährden unsere Verkündigung, sie beenden die Seelsorge – der Seelsorger darf weder verkündigen noch gar beten, er muss sich auf das Hören beschränken – und von Erziehung darf keine Rede mehr sein. Denn das würde der Selbstbestimmung schaden. Im Mittelalter hatte man die Philosophie für die Magd der Theologie gehalten, die alles erleuchtet. Luther setzte dagegen: Sie hat nur Finsternis geschaffen. Deswegen weg mit allem, was das Evangelium nicht erhellt, sondern verdunkelt, damit wir wieder klar sehen!

Was war während Ihrer Zeit als Landesbischof die schönste und die bedrückendste Erfahrung?

Vom 3. bis zum 5. Juni 1988 haben wir einen Landeskirchentag in Salzgitter durchgeführt. Daran haben sich Junge und Alte, Frauen und Männer beteiligt. Andachten und Veranstaltungen wurden angeboten. Musik und Gespräch kamen hinzu. Die Jugend verband damit ihr Landesjugendtreffen. Die Frauenhilfe feierte ihr hundertjähriges Jubiläum. Gottesdienste und eine große Abschlussveranstaltung rundeten alles am Sonntag ab. Wir hatten dies den evangelischen Kirchen in der damaligen DDR abgeguckt. Da Salzgitter geographisch günstig lag, hatten alle relativ kurze Wege.

Mein Vorgänger Gerhard Heintze hatte sich sehr für die Einführung der Frauenordination eingesetzt. Dagegen gab es starke Widerstände. Um Zustimmung zu gewinnen, versprach er, wenn sich ein Mann nicht mit einer Frau zusammen ordinieren lassen wolle, werde er eine Einzelordination gestatten. Er wurde in seiner Amtszeit nicht mit einem konkreten Fall konfrontiert. Aber ich. Ich wurde auf die Zusage meines Vorgängers hingewiesen und fühlte mich gebunden. Der Sturm, der sich erhob, war gewaltig. Die Sprache, die dabei zum Teil benutzt wurde, war erschreckend.

Sie haben sich zusammen mit sieben anderen ehemaligen Landesbischöfen Anfang 2011 in einem Offenen Brief gegen die Öffnung des evangelischen Pfarrhauses für gleichgeschlechtliche Partnerschaften ausgesprochen. Die innerkirchliche Entwicklung ist über diesen Protest hinweggegangen. Halten Sie an Ihrer Position fest?

Im Alten Testament wird klar gesagt: Gottes Volk macht das nicht. Fruchtbarkeit gehört zur Schöpfung. Manche erklären in unserer Zeit auch die Homosexualität zur Schöpfung. Aber genetische Anhaltspunkte dafür wurden meines Wissens bisher nicht gefunden. Wir meinten 2011, dass die Ehe das „normale“ Vorbild im Pfarrhaus bleiben solle. Wir haben uns gegenüber der Synode der EKD nicht durchsetzen können. Das haben wir auch nicht erwartet. Aber wir haben unsere Meinung nicht verschwiegen. Das ist uns von manchen verübelt worden. Solange die Meinungsfreiheit nicht aneckt, wird sie gelobt. Ist sie im Weg, sieht es anders aus. Aber auch heute wird das Motto „Ehe für alle“ von vielen akzeptiert.

In Ihrem Buch „Einsichten Martin Luthers – damals und jetzt“ weisen Sie der Vereinigten Evang.-Luth. Kirche Deutschlands die Aufgabe zu, den „Traditionsstrom der lutherischen Theologie“ zu bewahren. Wird es die VELKD in 10 Jahren noch geben?

Das weiß ich nicht. In dem Vortrag, auf den Sie anspielen, den ich 2004 gehalten habe, habe ich gesagt, wenn es die VELKD nicht gäbe, „müsste man sie – vielleicht kleiner und geschlossener – geradezu erfinden“. Damals bestand die Gefahr, dass ein Pfeiler dieser Kirche wegbricht. Heute scheinen es derer zwei zu sein, wenn meine schwachen Ohren recht hören. Wie sich dann der „heilige Rest“ verhalten wird, bleibt abzuwarten.

Klar ist, dass die reformatorischen Kirchen nicht aus Spaß an Revolutionen entstanden sind. Es ging vielmehr um etwas Elementares: um das Verstehen biblischer Texte. Die Reformatoren haben, weil sie aus Vernunftgründen und in ihren Gewissen gebunden waren, sich an Gottes Wort gehalten. Weil im Himmelreich nicht gezählt, sondern gewogen wird, sollte niemand sich fürchten zu widerstehen.

Luther hat in den Schmalkaldischen Artikeln von 1537, die zum Bekenntnisstand der evangelisch-lutherischen Kirchen gehören, der Papstkirche das Kirchesein abgesprochen. Die Röm.-Kath. Kirche hat ihrerseits in der Erklärung „Dominus Iesus“ aus dem Jahr 2000 den protestantischen Kirchen das volle Kirchesein abgesprochen. Wie kann es unter diesen Voraussetzungen eine echte Annäherung geben?

Luther hat sogar in diesen Artikeln den Papst den „Antichrist“ genannt. Von diesem Urteil haben wir uns schon vor Jahrzehnten ausdrücklich distanziert. Gleichwohl bleiben erhebliche Unterschiede im Verständnis des kirchlichen Amtes und damit auch in der Lehre von der Kirche. Luther hat in denselben Artikeln vorgeschlagen, dass die christliche Kirche auf Grund menschlichen Rechtes ein Haupt haben solle. Das ist in unserer Zeit diskutiert worden. Allerdings hat die Röm.-Kath. Kirche bisher nicht erkennen lassen, dass sie auf den Primat des Papstes verzichten kann.

Wir Lutheraner haben gemeint, dass sich Verschiedenheiten nicht ausschalten lassen. Das lehrt schon die Kirchengeschichte. Auch das Neue Testament zeigt Theologien, die nicht immer völlig gleich sind, sondern unterschiedliche Akzente setzen. Weil das so ist, haben wir gefragt, ob wir Unterschiede nicht tolerieren sollten. Wie weit das gehen kann, ist natürlich dann immer die Frage. Wir haben deswegen von einer „versöhnten Verschiedenheit“ gesprochen. Darunter verstehen wir, dass von allen bejaht und geglaubt wird, was im Glaubensbekenntnis gebetet wird. Bei darüber hinaus gehenden Unterschieden muss geklärt werden, ob sie als „versöhnt“ verstanden werden können. Annäherungen hat es in jüngerer Zeit durchaus gegeben. Denken wir nur an die Predigt von Papst Franziskus beim Gottesdienst zusammen mit dem Lutherischen Weltbund in Lund am Reformationstag 2016! Aber wir müssen auch sehen, dass für die Röm.-Kath. Kirche das, was bei ihr für göttliches Recht gehalten wird, nicht veränderlich ist.

Was können wir in der heutigen Bibelvergessenheit von Luthers Schriftlehre lernen?

Für Luther hatte die Bibel nur ein einziges Thema: Christus. Der von Gott Gesalbte hat unser Leid auf sich genommen. Was nicht Christus behandelt, ist für uns unwichtig. Das Alte Testament hat z. B. viele Gesetze, die uns nicht betreffen. Die Geburtsgeschichte Jesu in Lukas 2, der Christushymnus in Philipper 2 oder Verse aus den Psalmen sollten wir Bibelfernen vortragen.

Luther konnte ganz neu gewichten, um das herauszustellen. Was keine Synode je gewagt hat, das hat er 1522 bei seiner Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche getan: Er hat den Hebräerbrief als nicht apostolisch zusammen mit dem Jakobus- und dem Judasbrief sowie der Offenbarung des Johannes an den Schluss des Buches gestellt und diese vier im Inhaltsverzeichnis nicht gezählt. Die Offenbarung verstehe kein Mensch, meinte er. Jakobus widersprach Paulus, und Judas stand sowieso dahinter. Das war so etwas wie ein „Anhang“ zu den wichtigen Schriften des Neuen Testaments. Luther konzentrierte sich also. Man kann das nicht nur für mutig, sondern auch für unangemessen halten. „Christus allein“ – warum sollte das aber nicht auch hier gelten?

Im Grundlagentext „Rechtfertigung und Freiheit“ der EKD von 2014 wird behauptet, dass man seit der historisch-kritischen Erforschung der biblischen Texte die Bibel nicht mehr als Wort Gottes verstehen könne. Ist damit das sola scriptura der Reformation aufgekündigt, und wenn ja, ist damit die Zeit für die Einberufung einer Bekenntnissynode gekommen?

„Seit dem siebzehnten Jahrhundert werden die biblischen Texte historisch-kritisch erforscht. Deshalb können sie nicht mehr so wie zur Zeit der Reformation als ‚Wort Gottes‘ verstanden werden.“ Ich frage mich: „nicht mehr so“ – wie denn anders? Wir Christen haben niemals behauptet, Gott habe die Bibel geschrieben oder diktiert. Es wurde in der christlichen Kirche immer von der „Inspiration“ der Heiligen Schrift gesprochen. Die Schrift der EKD von 2014 versucht dann auch zu zeigen, dass es nach wie vor um „Wort Gottes, nicht Tradition“ geht, oder wie „Leben mit der Schrift“ möglich ist. Aber „Wort“ heißt griechisch „Logos“. Der war im Anfang. Und wurde Mensch: Christus. Den lassen wir uns nicht nehmen. Darum bleibt für uns auch die historisch-kritisch  erforschte Heilige Schrift Gottes Wort – genau wie für die Reformatoren.

Im Getöse unserer Welt verhallen menschliche Worte. Deswegen sollten wir beten: „Komm Heiliger Geist, Herre Gott, erfüll mit deiner Gnaden Gut deiner Gläubgen Herz, Mut und Sinn, dein brennend Lieb entzünd in ihn‘.“

Die Fragen stellte Pastor Dr. Joachim Cochlovius.

Das Gespräch mit Prof. Dr. Gerhard Müller ist im „Aufbruch – Informationen des Gemeindehilfsbundes“ (Juni 2017) erschienen. Wenn Sie den „Aufbruch“ kostenlos abonnieren möchten, schreiben Sie bitte an info@gemeindehilfsbund.de.

Wir empfehlen folgendes Buch von Prof. Dr. Gerhard Müller:

Einsichten Martin Luthers –
damals und jetzt: Analyse und Kritik,
Martin-Luther-Verlag, 2. Auflage, Erlangen 2017,
356 Seiten, 19,00 €.

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 31. Juli 2017 um 17:13 und abgelegt unter Interview, Kirche.