Ansprache zur Epiphaniaszeit 2006
Sonntag 29. Januar 2006 von Erzbischof Janis Vanags

Ansprache zur Epiphaniaszeit 2006
Die Weihnachts- und die Epiphaniaszeit verbindet sich für uns ebenso wie Neujahr mit einem Neuanfang und mit Hoffnungen. Zu Weihnachten denken wir an Christi Geburt, an das Kind, das als ein Licht die Welt erleuchtet. Ein Kind ist nicht nur ein Lebewesen, sondern ein ganzes Symbol, das nachdenken läßt. Im Kind sind so viele Hoffnungen enthalten, so viel Zukunft, soviel echtes Vertrauen und so viel Schutzlosigkeit. Das ist gleichzeitig etwas so Teueres, aber auch Zartes und Verletzliches, daß es uns sofort deutlich wird – es braucht einen sicheren Platz, einen sicheren Raum, wo es zur Welt kommen kann. Das können ihm die Elemente der Natur nicht bieten, das bieten ihm auch nicht Flora und Fauna, das vermag nur der Mensch. Das können nur wir.
Als ich einmal an einem späten Abend im Auto unterwegs war, hielt ich am Wegesrande an. Es war schon ganz dunkel. Plötzlich entdeckte ich dort etwas – eine Mutter mit vier Kindern. „Was macht ihr hier so spät“, fragte ich. Der Vater wäre betrunken und tobte zu Hause herum. Sie mußten fliehen und irgendwo nach einer Bleibe suchen. Ob ich sie nicht irgendwo hinfahren könnte? Dort etwas weiter gäbe es Verwandte, bei denen sie zur Nacht bleiben könnten. Ich fuhr sie ungefähr sechs Kilometer weiter bis zum Ende eines Weges und beobachtete, mit welchem kindlichen Vertrauen und mit welcher kindlichen Zuversicht die vier Hampelmänner, einer kleiner als der andere, im Dunkel des Waldes verschwanden, in der Hoffnung, ein Bett für die Nacht zu finden. Ich dachte – so geht es unseren Kindern, die wir am Morgen zur Schule schicken, und deren Weg in der Stadt an den Spielhöllen und dunklen Ecken der Drogenhändler und an anderen Spelunken vorbei vielleicht viel gefährlicher sein kann als der Weg durch den dunklen Wald. Wir lassen sie gehen in der Hoffnung, daß sie unbeschadet ihr Ziel erreichen und gesund nach Hause zurückkehren.
Bei dem Balancieren auf einem Dachfirst ist das Wichtigste, das Gleichgewicht zu finden zwischen zwei fatalen Möglichkeiten auf beiden Seiten. Ein solches Balancieren ist auch der Versuch, einen guten und sicheren Raum für unsere Kinder oder Ideale zu schaffen. Ich erinnere mich, wie ich als Student während der Sowjetzeit eine Mitteilung zur staatlichen Bibliothek brachte, die ich auf verschlungenen Wegen von einem unserer Dozenten erhalten hatte, als ich ein besonderes philosophisches Werk aus einem besonderen Verlag benötigte. Die Bibliothekarin warf zuerst einen Blick auf die Mitteilung, blickte mir darauf in das Gesicht und sagte: “Dieses Buch brauchen Sie nicht.“ Vielleicht war sie eine Prophetin und hat das mit ihren hellseherischen Fähigkeiten wirklich erkannt, daß ich dieses Buch nicht benötigte, aber an dieses Gefühl, eine Ohrfeige bekommen zu haben, kann ich mich noch heute erinnern. Ebenso erinnere ich mich noch an den geharkten Sand am Strande von Liepája und an das Aufenthaltsverbot dort nach dem Einbruch der Dunkelheit. Ich bin so glücklich, daß wir jetzt offene Grenzen haben, und daß sich mir die Möglichkeit bietet, die Welt zu sehen. Auch wenn die starke Abwanderung von Letten nach Irland uns Kummer macht, so können wir uns dennoch freuen, daß sich uns diese Möglichkeiten des Reisens geöffnet haben. Daß wir die freie Möglichkeit der grenzüberschreitenden Kommunikation haben, auf die viele von uns lange Jahre haben verzichten müssen, als wir jung waren und in unseren besten und aktivsten Jahren steckten. Deshalb ist es doch kein Wunder, daß uns heute das Wort „Offenheit“ so wertvoll ist und so hoch in Ehren steht. Doch kann man auch merken, daß dieser Begriff oft zu einem Fetisch geworden ist. Offenheit – das Maß aller Dinge! Offenheit um jeden Preis!
Bezeichnenderweise gedenken wir gerade in diesen Tagen der Barrikaden vor fünfzehn Jahren. Auch dort gab es welche, die auf ihre eigene Art und nach ihrem Verständnis die Offenheit erkämpfen wollten. Sie rückten mit Panzern an und wollten die Offenheit des Weges zum Funkhaus und zum Fernsehen, zum Parlamentsgebäude und zur Telefonzentrale erkämpfen. Da kletterten Tausende auf die Barrikaden, um sich dieser Art der Offenheit mutig in den Weg zu stellen. Wie gut, daß es damals diesen Mut, Verstand und das brennende Herz gab, diese Absicht zu verhindern, und sich ihr in den Weg zu stellen! Barrikaden errichten. Grenzen ziehen. Das müßte man auch über kleinere Dinge sagen. Wenn ich heute die Illustrierten aufschlage, empfinde ich oft eine gewisse Genugtuung und Erleichterung darüber, daß mir manche aggressive und vulgäre Offenheit erspart bleibt, die mir vor einiger Zeit von allen Zeitungsständen her in das Gesicht sprang und in beängstigender Offenheit das an das Licht zerrte, was Gott als das Schönste und Edelste in dieser Welt geschaffen hat – die Frau. Danke, daß es Menschen gab mit Kultur und gutem Geschmack, die diese Art von Offenheit in ihre Schranken verwiesen haben. Wenn ich bald einmal an den dann geschlossenen Glücksspielhallen vorbei gehen werde, dann werde ich mich darüber freuen, daß ihre Zeit der Offenheit vorüber ist, und Gott für diejenigen danken, die genügend Mut und gesunden Menschenverstand besaßen, um sie zu „verbarrikadieren.“ Diese alltäglichen Barrikaden sind keinesfalls weniger wichtig als jene großen Barrikaden, derer wir in diesem Jahr mit besonderer Hochachtung gedenken. Wir brauchen sie genau so sehr wie die Offenheit.
Die Balance zu halten zwischen der Offenheit und den Barrikaden, und die Grenze an der richtigen Stelle zu ziehen, ist nicht einfach, und dennoch sehr wichtig. Es ist eine kreative Herausforderung, die geistlicher Weisheit, innerer Intelligenz und seelischer Reife bedarf. Dazu pflegen wir oft unterschiedliche Vorstellungen darüber zu haben, wann wir Türen öffnen oder Barrikaden errichten sollten. Wird es uns überhaupt gelingen, etwas gemeinsam zu bewirken? Werden wir den entscheidenden Punkt der Scheidung zwischen gut und böse finden können? Das wird in der Tat nicht einfach sein. Doch auch Weihnachten war für Gott kein einfaches Ereignis. Er wollte uns so tief verstehen, daß er in dieser Welt geboren wurde und unser Leben gelebt hat. Er wollte uns so nahe sein, daß er einer von uns wurde. Deshalb werden wir, je besser wir die Persönlichkeit Christus kennen lernen, um so tiefer auch Gott, die Menschen und uns selbst begreifen. Wenn wir ihm näher kommen, dann kommen wir uns selbst einander näher. Ich möchte uns allen ein glückliches, reiches und schaffensfrohes Neues Jahr wünschen, verbunden mit dem Wunsch, daß wir bei unseren Absichten und Bemühungen auch an unsere eigene Geburt denken möchten, und diese in das Licht der Geburt Christi rücken, und unser eigenes Leben in die Beziehung mit seinem Leben, seiner Lehre, seinem Tod und seiner Auferstehung stellen. Er hat der lettischen Kultur und der ganzen westlichen Zivilisation so viel geschenkt, und er hat immer Antworten auf unsere Fragen, und Fragen, die er uns stellen möchte, zur Hand. Ich wünsche Ihnen allen Segen!
Aus der lettischen Kirchenzeitung „Svétdienas RÃts“ („Sonntagmorgen“) Nr. 3/2006
Dieser Beitrag wurde erstellt am Sonntag 29. Januar 2006 um 15:57 und abgelegt unter Christentum weltweit.