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Das Paradigma „Selbstbestimmung“ und die Folgen für Gesellschaft und Kirche

Freitag 26. Januar 2007 von Dr. Joachim Cochlovius


Dr. Joachim Cochlovius

Das Paradigma „Selbstbestimmung“
und die Folgen für Gesellschaft und Kirche

Wer das revolutionäre Potential von Leitideen studieren will, der findet im neuzeitlichen Paradigma der Selbstbestimmung eine reiche Fundgrube. Neben der kommunistischen Utopie und dem nationalsozialistischen Rassismus ist die Ideologie der Selbstbestimmung zu einer der wirkungsmächtigsten geistigen Strategien der Neuzeit ausgewachsen. Ihr Einfluß ist so stark, daß sie zumindest im angelsächsisch-europäischen Raum das gesamte öffentliche Bewußtsein in Kultur, Politik und Wirtschaft, das Familienleben, das Geschlechterverhältnis, viele christliche Gemeinden und das Selbstbewußtsein unzähliger Menschen dominiert. Ich möchte in dieser kurzen Betrachtung zunächst wichtige gesellschaftliche Aspekte unserer Selbstbestimmungskultur beleuchten und danach Chancen einer Überwindung der Selbstbestimmungsidee aufzeigen.

Die verführerische Macht und die gesellschaftspsychologischen Folgen unserer Selbstbestimmungskultur

Bevor ich einzelne gesellschaftliche Bereiche aufzeige, in denen heute die Idee der Selbstbestimmung das Verständnis und praktische Verhalten bestimmt, zitiere ich aus dem Buch „Strukturelle Rationalität“ des früheren Kulturstaatsministers Julian Nida-Rümelin. Wir finden hier eine ebenso kurze wir prägnante Definition der Selbstbestimmung. Nida-Rümelin behauptet dort, daß es „keine externen Kriterien für die richtige Wahl der Lebensform“ gibt. Diese Aussage muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. Sie bedeutet nichts anderes, als daß jeder Mensch die Grundfragen und Ziele seines Lebens nur aus sich selbst beantworten kann und soll. Nicht der Erfahrungsschatz der Eltern, nicht das Rechtsbewußtsein und die Kultur der Zivilisation, in die jemand hineingeboren wurde, weder Religion noch Glaube sind in der Lage, tragfähige Lebensideale zu vermitteln, nur die eigene Vernunft. Das ist das theoretische Postulat der Selbstbestimmungskultur.

Neomarxistische Philosophen wie Jürgen Habermas haben für dieses Denken das geistige Fundament geliefert. Für Habermas haben die bisher geltenden „obersten Prinzipien…ihren fraglosen Charakter“ verloren und müssen „rationalisierten Weltbildern“ weichen. In seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ fordert er eine durchgehende „Rationalisierung“ aller Autoritäten und Werte und entwirft eine „kollektive flexible Identität“ des postmodernen Menschen, die dieser sich durch einen permanenten „Bildungs- und Willensbildungsprozeß“ dauernd neu zu schaffen hat.

Verläßliche Werte gibt es nach dieser Theorie nicht. Der Mensch ist gezwungen, kraft seiner Vernunft immer wieder neu zu definieren und in einer Dauerdiskussion konsensfähig zu machen, welche Werte er seinem Leben zugrunde legen will. Er wird aufgefordert, aus der „Fremdbestimmung“ auszubrechen, die das menschliche Leben in der bisherigen Geistes- und Kulturgeschichte manipuliert hat, und sein Heil in der „Selbstbestimmung“ zu suchen. Wie erfolgreich dieses Angebot gewirkt hat und immer noch wirkt, sollen die folgenden Einblicke in unsere Selbstbestimmungskultur zeigen.

Ökonomie

Ernst-Wolfgang Böckenförde hat in einem FAZ-Artikel eindringlich die Folgen der Autonomie auf das Verständnis des Grundgesetzes sowie auf die Erziehung, die Rechtsordnung, das Wirtschaftsleben und die modernen Sozialsysteme beschrieben. Zur Ökonomie führt er aus, daß durch die „Entbindung der Marktkräfte und die Abwehr planwirtschaftlichen Dirigismus“ eine „kontinuierliche Freisetzung und Entgrenzung der individuellen und gesellschaftlichen Erwerbskräfte“ einherging. Der „maßgebende Bestimmungsfaktor ist das System selbst, hier der kapital- und profitgesteuerte Wirtschaftsablauf, der das Geschehen nach seiner von wirtschaftlicher Rationalität getragenen Funktionslogik steuert“. „Der Wert und die Verwendbarkeit der Menschen sind an ihre Nützlichkeit, ihren Beitrag zu Produktivität, Profitabilität und Wettbewerbsfähigkeit gebunden“. Mit anderen Worten: Eine Wirtschaft, die sich vom Autonomiegedanken her versteht, also nur ihre eigenen Gesetze respektiert und sich keiner außerökonomischen Ethik verpflichtet sieht, wird zunehmend unmenschlicher. Der Mensch degeneriert zum „Humankapital“ und zur „Produktionsware“. Böckenförde erkennt in der Entwicklung der sich selbst überlassenen und selbstbestimmten Wirtschaft einen „Verlust des Standhaften in jeder Hinsicht“.

Familie

Seit Max Horkheimers programmatischer Streitschrift „Autorität und Familie“ von 1936, wo er die bürgerlich-christliche Familienstruktur als „Produzentin von bestimmten autoritären Charaktertypen“ denunzierte , steht die herkömmliche Familie im Kreuzfeuer der Vertreter des Autonomiegedankens. Das angeblich fremdbestimmte Kind soll dem Einfluß der Eltern möglichst weitgehend entzogen werden. Auch wenn sich der späte Horkheimer von diesen Thesen wieder distanzierte, die neomarxistischen Theoretiker in seinem Gefolge haben weiter das Zerrbild einer Familienstruktur konstruiert, nach welchem das Kind sexuell unterdrückt wird, labile, konsum- und kapitalismusangepaßte Individuen produziert werden und wo die Eltern ihre gesellschaftsbedingte Aggressivität an sich selbst und den Kindern auslassen.

Pädagogen, die sich der Selbstbestimmungsidee verschrieben haben, haben aufgrund dieses Familien-Zerrbildes immer wieder einen größeren Einfluß der Gesellschaft auf die Kinder gefordert. „Daher bedarf heute das sogenannte Elternrecht einer wirksamen sozialen Kontrolle; denn alle gesellschaftlichen Gruppen, nicht etwa nur ihre mächtigsten, haben letztlich das höhere Anrecht auf die Kinder als ihre vielfach befangenen Eltern, die für die Elternrolle nicht qualifiziert sind“ So verwundert es nicht, daß Politiker, die dem Paradigma der Selbstbestimmung folgen, die „Politische Hoheit über die Kinderbetten“ fordern und Milliarden für eine möglichst flächendeckende Fremdbetreuung der unter Dreijährigen bereitstellen. Daß das Kleinkind Zuwendung braucht und nicht nur Betreuung, wie die Bindungsforschung längst erwiesen hat, wird ignoriert.

Pornographie

Bis 1973 war im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland die Verbreitung unzüchtiger Schriften unter Strafe gestellt. Im ehemaligen § 184 hieß es: „Mit Gefängnis bis zu einem Jahr und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen wird belegt, wer unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen feilhält, verkauft, verteilt, … ankündigt oder anpreist“. Unter ausdrücklicher Berufung auf das im Grundgesetz verankerte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) hat der Deutsche Bundestag 1973 diese Bestimmung abgeschafft und die Verbreitung der Pornographie an Personen über 18 Jahre erlaubt. Damit wurde im Namen der Selbstbestimmung eine Schleuse geöffnet, durch die sich ein immer breiter werdender pornographischer Strom auf die gesamte Gesellschaft ergießt. Das Frauenbild wurde maßlos sexualisiert, das eheliche Intimleben durch Fremdbilder gestört und das Verhältnis von Mann und Frau schwer belastet. Der Sog der Pornographie wurde so stark, daß selbst die feministische Kampagne „PorNo“ Anfang der 90er Jahre nichts ausrichten konnte. Mittlerweile ist die Pornographie nur noch als Pornographie mit Kindern ein Gegenstand für Politik und Justiz.

Homosexualität

Eine vergleichbare Durchschlagskraft hat die Selbstbestimmungsidee auch in der öffentlichen Wahrnehmung und Beurteilung der Homosexualität bewiesen. Bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts war die homosexuelle Praxis unter Männern unter Strafe gestellt. Im § 175 hieß es: „Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft“. In den 70er und 80er Jahren gab es, organisiert von Prof. Helmut Kentler in Hannover, eine umfassende Medienkampagne zur Streichung des § 175 StGB. Sie wurde von einflußreichen Personen unterstützt wie z.B. von Heinrich Böll, Dietrich Fischer-Dieskau, Curd Jürgens, Inge Meysel, Hartmut v. Hentig, Ehepaar Mitscherlich, Marcel Reich-Ranicki, Günter Verheugen und Martin Walser. In einigen europäischen Ländern mit überwiegend evangelischer Bevölkerung wie in Holland und Dänemark kam es in den 80er Jahren zu juristischen Initiativen für die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare. Seit 1989 gibt es in Dänemark die „registrierte Partnerschaft Gleichgeschlechtlicher“. 1992 führten etwa 250 gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland unter starker Beachtung durch die Medien vor etlichen Standesämtern eine Kampagne zur rechtlichen Anerkennung ihrer Verbindung durch. 1993 berief das höchste Gremium des deutschen landeskirchlichen Protestantismus, der Rat der EKD, eine bekennende Lesbierin in das Amt einer Studienleiterin am Frauenforschungs- und -studienzentrum der EKD in Gelnhausen. 1994 waren dann diejenigen, die für die Streichung des § 175 StGB („Homosexuelle Handlungen“) gekämpft hatten, ans Ziel gekommen. Der Bundestag strich den Paragraphen ersatzlos. Den Selbstbestimmungsideologen war es gelungen, das grundgesetzlich verankerte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in ihrem Sinn auszudeuten.

Gender mainstreaming

Das jüngste Kind der Selbstbestimmungswelle heißt Gender mainstreaming. Die Internetseite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend informiert uns über die Bedeutung dieses Kunstwortes: „Gender bezeichnet die gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägten Geschlechtsrollen von Frauen und Männern. Diese sind – anders als das biologische Geschlecht – erlernt und damit veränderbar. Mainstreaming bedeutet, daß eine bestimmte inhaltliche Vorgabe, die bisher nicht das Handeln bestimmt hat, nun zu einem wichtigen Bestandteil bei allen Vorhaben gemacht wird. Durch die Ausrichtung an den Lebensrealitäten beider Geschlechter wird die Wirksamkeit der Maßnahmen und Vorhaben erhöht, so daß sie paß- und zielgenauer werden“. Der link „Gender Budgeting“ klärt darüber auf, daß die Regierung künftig in ihrer Haushaltsplanung „Prioritäten verändert setzen und Mittel umverteilen“ soll, „um einen geschlechtssensiblen und gerechten Haushalt aufzustellen“. Das der Humboldt-Universität Berlin angeschlossene und vom Familienministerium finanzierte sog. „GenderKompetenzZentrum“ wird noch deutlicher. „Jede Organisation muß die Entwicklung von Zielen im Rahmen der Implementierung von Gender Mainstreaming leisten“. Das heißt konkret: die angestrebte Gleichstellung von Mann und Frau soll in jedem Verein, in jedem Betrieb, in jeder öffentlichen Einrichtung und natürlich auch in jeder Kirche durchgesetzt werden. Was man in diesem Zentrum unter Gleichstellung versteht, kann man sich denken, nämlich „Frauen und Männern ein gleichermaßen selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen“.

Sogar der SPIEGEL wurde stutzig: „Das nächste Projekt steht schon auf der Tagesordnung. Seit März 2006 liegt im Bundesfamilienministerium eine ‚Machbarkeitsstudie Gender Budgeting’, sie hat 180.000 Euro gekostet, der Haushalt etlicher Ministerien wurde dafür untersucht. Würde es umgesetzt, müßte jeder einzelne Finanzposten danach abgeklopft werden, ob er geschlechterpolitisch korrekt ausgegeben wird. Es wäre der Sieg der Bürokratie über die Vernunft, denn es ist schwer zu klären, ob nun eher Frauen oder Männer einen Vorteil haben, wenn die Regierung Steinkohlesubventionen zahlt oder einen neuen Kampfhubschrauber bestellt“.

Rechtsentwicklung

Es gibt zwei bequeme Möglichkeiten, die Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland zu untersuchen. Die erste ist ein Vergleich des Strafgesetzbuchs der letzten 50 Jahre und die zweite ist eine Betrachtung der gesellschaftspolitisch relevanten Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Ich möchte beide Wege kurz beschreiten.

Zum Vergleich wähle ich eine Ausgabe des Strafgesetzbuchs von 1951 und eine von 2005. Der alte Gotteslästerungsparagraph 166 wurde bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht. Der alte Ehebruchsparagraph 172 wurde umgewandelt in das Verbot der Doppelehe. § 175 wurde ersatzlos gestrichen. Das im alten § 184 generell verbotene Verbreiten von Pornographie wurde – völlig unrealistischerweise – eingeschränkt auf eine Verbreitung für Personen unter 18 Jahren. § 218 wurde mehrmals geändert. In der ursprünglichen Fassung nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde eine Abtreibung mit Gefängnis bzw. Zuchthaus bestraft, wobei auch schon der Versuch strafbar war. In der heute gültigen Fassung der § 218, 218a, 218b und 218c von 1995 wird die Abtreibung als „nicht rechtswidrig“ bezeichnet, wenn sie nach einer Beratung durch einen Arzt innerhalb 22 Wochen nach der Empfängnis vorgenommen wird. Schließlich kann man – aus aktuellem Anlaß – noch an den alten § 366 erinnern, der die Sonntags- und Feiertagsheiligung regelte und den es seit langem nicht mehr gibt. Sieht man sich die einschlägigen Bundestagsdebatten näher an, die zu diesen eklatanten Rechtsveränderungen geführt haben, stößt man immer wieder auf das Argument der Selbstbestimmung. Die millionenfache Tötung der Ungeborenen im Mutterleib seit der de-facto-Freigabe der Abtreibung und die entsetzliche Entwürdigung der Frau durch die Pornographie gehen auf das Konto der Selbstbestimmungsideologie. Man kann es nicht anders sagen.

Ein ähnliches Bild ergeben die gesellschaftspolitischen Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgerichts. Als Beispiele wähle ich das Kruzifixus-Urteil von 1995 und das Urteil zum sog. Lebenspartnerschaftsgesetz von 2002. Das Kruzifixus-Urteil hatte einer bayrischen Schulordnung, wonach die Schule die Erziehungsberechtigten bei der religiösen Erziehung unterstützt, mit dem Argument der weltanschaulichen Neutralität des Staates widersprochen. Das Urteil zum Lebenspartnerschaftsgesetz argumentiert damit, daß die Lebensform gleichgeschlechtlicher Partnerschaften den staatlichen Schutzauftrag für die Ehe nicht beeinträchtige, weil sie eine Lebensform sui generis sein. Der Begriff der Selbstbestimmung taucht in den Urteilsbegründungen nicht auf. Gleichwohl ist die Sache gegenwärtig. Im Kruzifixusurteil wird die Meinung eines einzelnen Elternpaares höher bewertet als ein Landesgesetz, das sich wiederum auf ein früheres BVG-Urteil stützen konnte. Im Urteil zum Lebenspartnerschaftsgesetz werden einer Lebensform, die im Gegensatz zur Ehe nicht auf Elternschaft und Familie angelegt ist, annähernd die gleichen Rechte wie der Ehe zugesprochen.

Evangelische Kirche

Die Selbstbestimmungsideologie hat in der zweiten Hälfte des letzten ahrhunderts eine solche Kraft entwickelt, daß sie sich schließlich auch in kirchlichen Verlautbarungen niederschlug. 1991 erklärte die Leitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, daß Homosexualität weder als krankhaft noch als sündhaft anzusehen sei. Im selben Jahr befand die Synode der bayrischen Landeskirche in der sog. Rosenheimer Erklärung zur Abtreibung, daß die schwangere Frau in Konfliktsituationen die letzte Entscheidung in ihrer Verantwortung vor Gott allein treffen müsse. Die endgültige Umorientierung in der Bewertung der Homosexualität brachte dann die vom Rat der EKD herausgegebene Orientierungshilfe „Mit Spannungen leben“ (1996), die „eindeutig und unveränderbar homosexuell geprägten Menschen…zu einer vom Liebesgebot her gestalteten und damit ethisch verantworteten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft“ riet. Die „Rosenheimer Erklärung“ wurde bis heute trotz massiver Proteste nicht zurückgenommen. Anstatt homophil orientierten Menschen unter Berufung auf die schöpferische Kraft Gottes seelsorgerliche Hilfe anzubieten und schwangeren Frauen Mut zum Austragen ihrer Leibesfrucht zu machen und konkrete Lebenshilfe zu geben, verbeugen sich diese Dokumente vor einer durch das biblische Wort nicht legitimierbaren individuellen Lebensweise und Lebensplanung. Die befreiende Kraft des Evangeliums, das zu einem gottgefälligen Leben führt, wird zugunsten des individuellen Rechts auf Lebensgestaltung verschwiegen. Die Macht der Selbstbestimmungskultur hat gesiegt.

Ist das Paradigma der Selbstbestimmung
durch das Grundgesetz legitimiert?

In Art. 2 Abs. 1 GG garantiert der Staat die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Haben die Väter des Grundgesetzes damit den Grundstein für die heutige Selbstbestimmungskultur gelegt? Diese Frage muß gründlich bedacht werden. Konrad Löw hat beobachtet, daß in der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts seit über 50 Jahren der Grundgesetzbegriff „Sittengesetz“ nicht mehr vorkommt. In Art. 2 Abs. 1 GG heißt es „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. Löw stellt fest, daß im Rechtsverständnis des BVG stillschweigend das „Sittengesetz“ durch ein Menschenbild ersetzt worden ist, „das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist“. An die Stelle des Sittengesetzes ist nach Löw die Selbstbestimmung getreten, und an die Stelle der Verantwortung vor Gott und den Menschen die Eigenverantwortung. Wir haben bei den bisher behandelten Stichworten schon gesehen, daß Artikel 2 des Grundgesetzes von den Vertretern der Selbstbestimmungsidee in ihrem Sinn ausgedeutet bzw. uminterpretiert wird. Das kann man den Vätern des Grundgesetzes schwerlich zum Vorwurf machen. Gleichwohl wird das grundgesetzlich verankerte Recht auf die freie Persönlichkeitsentfaltung zum Problem, wenn die Menschen keine sie tragende Grundorientierung haben. Darauf hat E.-W. Böckenförde in dem schon zitierten Aufsatz hingewiesen. Er stellt fest, daß der christliche Glaube „als Orientierungspunkt und Lebensmacht“ erodiert sei und daß dies spätestens mit dem Beitritt der neuen Bundesländer offenbar geworden sei. Orientierungslose Menschen seien angesichts der vielen Wahlmöglichkeiten überfordert. „Es fehlt ihnen das Standhafte, der verankernde Bezugspunkt eigener Identität, von dem aus die unterschiedlichen Möglichkeiten zu allererst sinnvoll beurteilt und dann ausgewählt werden können“. Wer auf das Recht der freien Persönlichkeitsentfaltung hinweist, muß also in gleicher Weise fragen, ob derjenige, der sich da frei entfalten soll, schon eine ihn tragende Grundorientierung hat, denn ohne einen festen geistigen Standort und ohne Maßstäbe zur Beurteilung anderer Werte ist eine freie Entfaltung der Persönlichkeit gar nicht möglich. Das wird von den Vertretern der Selbstbestimmungsidee meist übersehen.

Die gesellschaftspsychologischen Folgen
der Selbstbestimmungsideologie

Ohne weiteres ließen sich noch weitere Bereiche unserer Selbstbestimmungskultur anführen, in denen das Recht des Individuums über das Gemeinwohl gestellt wird. Ich denke z.B. an die sog. aktive Sterbehilfe, die immer selbstverständlicher mit dem Recht auf einen selbstbestimmten Tod begründet wird, oder an das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG), durch das der Staat ein weiteres Mal die Selbstbestimmungsidee der Gesellschaft antrainieren will. Ich muß aus Platzgründen auf weitere Beispiele verzichten. Die angeführten genügen jedoch, um ein Zwischenfazit zu ziehen.

Wer mit offenen Augen die Entwicklungen in unserem Volk sieht, kann einige „Mega-trends“ feststellen, die sozusagen zum Inventar unserer postmodernen Gesellschaft geworden sind. Ich nenne ohne Anspruch auf Vollständigkeit: 1.) Die Bindungswilligkeit- und fähigkeit der Menschen hat abgenommen. 2.) Die Attraktivität der Ehe hat abgenommen. 3.) Die Gewaltbereitschaft ist gewachsen. 4.) Das Unrechtsbewußtsein bezüglich der Tötung der Ungeborenen im Mutterleib ist zurückgegangen. 5.) Die Pornographie ist ein nicht mehr beherrschbarer Einflußfaktor auf die Sexualität geworden. 6.) Das Spannungspotential zwischen Männern und Frauen hat zugenommen. 7.) Die ökonomischen Entscheidungen der Aktiengesellschaften orientieren sich zunehmend an den Renditen.

Schon 1995 diagnostizierte die Zeitschrift FOCUS unter dem Stichwort „Ein Volk auf dem Ego-Trip“: Fest steht, daß sich Gemeinsinn und Gemeinschaft auflösen wie das Ozon über den Polen. Ungefilterter Eigensinn zerfrißt den sozialen Klebstoff. Die vertrauten Solidargemeinschaften bröckeln auseinander. Staat, Parteien, Kirche, Familie, Gewerkschaften – für die überwiegende Mehrzahl der Deutschen haben sie als gesellschaftliche Bindemittel ausgedient“.

Mit diesen Feststellungen ist aber noch nichts gesagt über die Psyche des selbstbestimmten Menschen. Wer sich selbst zum Maßstab aller Dinge setzt, verliert zwei Hauptdimensionen des Menschseins. Zunächst verliert er Geborgenheitserfahrungen. In einer ungeborgenen Welt sind sie eine wesentliche Komponente seelischer Gesundheit. Da wir aber Geborgenheit nur erfahren können, wenn wir uns einer nicht mehr hinterfragten Autorität anvertrauen, bleibt der selbstbestimmte Mensch ungeborgen, mit all den Konsequenzen für seine seelische Stabilität und seine Mitmenschen. Die zweite negative Folge ist die retardierte Persönlichkeitsentwicklung. Wir alle brauchen Vorbilder, denen wir nacheifern, um uns selber weiterentwickeln zu können. Unsere Charakteranlagen brauchen die Erfahrung überzeugender Charaktere, damit aus ihnen ein stabiler Charakter werden kann. Christen brauchen die Erfahrung überzeugender Glaubensprofile, um selber im Glauben wachsen zu können. Ebenso ist es mit der Hoffnung und der Liebe. Der selbstbestimmte Mensch verzichtet bewußt auf Vorbilder. Sein Schicksal wird es sein, immer der gleiche zu bleiben, wiederum mit allen negativen Folgen für seine Persönlichkeit und seine Mitwelt.

Die Selbstbestimmungsidee erweist sich als zutiefst persönlichkeits- und gesellschaftsschädigend. Die Politiker sind aufgerufen, diese Auswirkungen ernstzunehmen. Der Gesetzgeber ist aufgerufen, Gesetze zu reformieren, welche die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ auf Kosten der Allgemeinheit durchzusetzen versuchen. Welchen Beitrag könnte zu einem solchen dringend nötigen Erneuerungsprozeß der christliche Glaube beisteuern? Diese Frage möchte ich abschließend beantworten.

Der einzige Ausweg aus der Diktatur der Selbstbestimmung:
Der Glaube an den Dreieinigen Gott

Wie kein anderer hat der Sozialphilosoph Günter Rohrmoser das Verhängnis des neuzeitlichen Autonomiestrebens geistesgeschichtlich aufgearbeitet. Für ihn ist die „letzte Konsequenz der politischen Revolution der Aufklärung…der Anarchismus. Er ist konkret eine Widerspiegelung des gescheiterten Marxismus und die Verzweiflung darüber.“ In der Abschaffung des christlichen Glaubens erkennt Rohrmoser die eigentliche Zielsetzung der modernen und postmodernen Totalitarismen. „Die essentielle Voraussetzung aller Formen totalitärer Herrschaft muß daher die ausdrückliche oder schweigende Auslöschung der Macht des Glaubens sein.“ Nur ein vom christlichen Glauben geprägtes Verständnis der Freiheit habe die Kraft, dem Anspruch der neuzeitlichen Totalitarismen zu widerstehen und sie zu überwinden. „Von der Selbstbehauptung der christlichen Kirchen wird entscheidend die Möglichkeit abhängen, den Prozessen zu widerstehen, die auf die Errichtung neuer totalitärer Zwangssysteme hindrängen“. „Nach dem Verfall der liberalen und humanitaristischen Form des Verständnisses von Freiheit ist die Aktualität lutherischer Tradition identisch geworden mit der Aktualität von Freiheit überhaupt in unserer Welt.“

Wenn das stimmt, und die reformatorische Wiederentdeckung der „Freiheit eines Christenmenschen“ bestätigt es, daß der Mensch wahre Freiheit nur in der Glaubensbindung an den Dreieinigen Gott findet, dann müssen Christen ihre ganze Kraft in die Verkündigung dieses Glaubens einsetzen und in unserer Selbstbestimmungskultur seine wahrhaft befreiende Wirkung herausarbeiten. Das sind gewaltige Aufgaben. Es gilt, den Dreieinigen Gott als kommunikativen Gott neu zu entdecken, der aus Liebe nicht bei sich selbst bleibt, eben kein „selbstbestimmter“ Gott ist, sondern in Gestalt des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes liebevoll kommuniziert und als Dreieiniger Gott sich in seine Schöpfung einprägt, die gefallene Menschheit mit sich selbst versöhnt und zum Glauben an Jesus Christus ruft und ihr die Vollendung in seiner Herrlichkeit verheißt. Es gilt, die Schöpfung neu zu entdecken als Kommunikationssystem, in dem nichts „selbstbestimmt“, sondern nur für anderes existiert. Es gilt, den Menschen als Beziehungswesen neu zu entdecken, der seine Identität nicht bei sich selbst, sondern nur in gelingenden Beziehungen zu Gott und zu seinem Nächsten finden kann. Es gilt, die Ehe und die Gemeinde als Einübungsfelder in gelingende Kommunikation neu zu entdecken. Und es gilt schließlich, das Wesen echter Kommunikation neu zu entdecken, das nämlich nicht nur in Information besteht, sondern im Geben und Empfangen. Indem ich Gott die Ehre gebe und meinen Nächsten das, was sie brauchen, und indem ich die Kraft zum täglichen Leben bewußt von Gott sowie von anderen Menschen Zuspruch und Korrektur empfange, werde ich erlöst von mir selber. Ich werde dadurch nicht „fremdbestimmt“, wie die Vertreter der Selbstbestimmungsidee meinen, sondern finde zur wahren Bestimmung meines Lebens.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 26. Januar 2007 um 18:53 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Kirche.