Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Wenn’s um die Wahrheit geht

Mittwoch 13. Januar 2016 von Holger Lahayne


Holger Lahayne

„Ich glaube, dass alle Menschen bei Gott sind“

In einer der letzten Predigten von „JesusHouse“ im Jahr 2007 berichtete Torsten Hebel von Überlegungen im Leitungsteam der evangelistischen Jugendveranstaltung. Es war um die Frage gegangen, ob man ĂŒberhaupt noch ĂŒber SĂŒnde in den Ansprachen reden solle. Man sei dann nach Diskussionen zu dem Schluss gekommen: Ja, sie mĂŒsse immer noch thematisiert werden. Die SĂŒnde hat‘s heute nicht leicht. Sie steht selbst bei Evangelisten auf der Kippe, ja unter Rechtfertigungszwang. Damals rang man sich nach interner Debatte, nach AbwĂ€gen von FĂŒr und Wider, dazu durch, SĂŒnde anzusprechen. Schon vor gut acht Jahren durfte man skeptisch sein, was aus so einer zögerlichen Haltung herauswachsen wĂŒrde.

Im Herbst des vergangenen Jahres erschien Hebels Buch Freischwimmer, begleitet von so manchen Presseterminen und einer professionellen PR-Kampagne (Lesungen wie auf der Frankfurter Buchmesse). In diesem Zusammenhang erschien vor einigen Wochen ein Interview auf jesus.de, das Redakteur Rolf KrĂŒger mit Hebel gefĂŒhrt hatte: „Torsten Hebel: ‘Woher kommt unser Hochmut zu meinen, wir hĂ€tten die Wahrheit?’“

Eingangs kritisiert Hebel darin „die  psychologische und pĂ€dagogische Vermittlung von Glaubensinhalten“ in vielen Gemeinden, die auf der „Grundannahme“ beruhe, „der Mensch sei schlecht und böse, worĂŒber theologisch ja durchaus zu streiten ist. Aber eben nicht psychologisch und pĂ€dagogisch. Es ist nicht gut, Menschen kleinzumachen. Im Gegenteil mĂŒssen wir sie aufwerten und ihnen sagen, wie wertvoll sie sind. Dabei ist das ja auch ein Kernanliegen des Christentums. Aber es wird viel zu selten betont. Viele junge Menschen leiden darunter, dass sie als Persönlichkeit nicht ernst genommen werden.“

Im Interview fĂŒhrt er etwas spĂ€ter dazu aus: „Ich glaube nicht, dass wir Menschen defizitĂ€r unterwegs sind. Ich glaube, dass Gott den Menschen gemacht hat und ‘siehe, es war gut’. Dann kam zwar laut Bibel der SĂŒndenfall, aber deshalb ist doch der Mensch an sich wertvoll und geschĂ€tzt von Gott. Sonst hĂ€tte er sich nicht fĂŒr uns geopfert. Ich opfere mich nur fĂŒr jemanden, der mir wahnsinnig wertvoll ist. Das ist der Punkt, den ich anprangere. Theologisch kann ich mit vielen Aussagen mit, aber das sagt nichts ĂŒber die subjektive Wertigkeit eines Menschen. Von daher ist es kein Widerspruch fĂŒr mich, dass der Mensch in Gottes Augen ‘gefallen’, aber gleichzeitig wertvoll ist. Unsere Aufgabe als Menschen ist laut Römer 2: Richtet nicht! Das ist doch mal ‘ne ganz klare, taffe Aussage. Wenn ich das ernst nehme, dann darf ich es mir als Mensch nicht leisten, andere Menschen fĂŒr defizitĂ€r zu halten.“

Hebel sagt hier natĂŒrlich viel Richtiges. Der Mensch wurde gut geschaffen und ist wertvoll. Persönlichkeiten sind ernst zu nehmen. Menschen „kleinmachen“ im Sinne von runter- oder gar fertigmachen – wer hĂ€lt das fĂŒr gut? Und tatsĂ€chlich haben manche christliche Gemeinden in der Vergangenheit vielfach im Hinblick auf die Lehre vom Mensch leider nur das SĂŒndersein betont. Dass der Mensch eine natĂŒrlich GrĂ¶ĂŸe als Ebenbild Gottes besitzt, nur wenig niedriger als Gott ist (Ps 8); dass er oder sie ĂŒber hervorragende Gaben wie Sprache und Verstand, KreativitĂ€t und Imagination usw. verfĂŒgt, wurde viel zu wenig gelehrt und beachtet.

Es will Hebel jedoch nicht gelingen, die Lehre von der SĂŒndhaftigkeit des Menschen hier irgendwie angemessen einzuordnen. Wie es scheint, will er am Gefallensein festhalten, aber mit Begriffen wie „schlecht und böse“ kann er offensichtlich nur wenig anfangen. Hebel gibt zu verstehen: Wer den Menschen direkt als sĂŒndig und böse bezeichnet, macht ihn klein; wir sollten jeden Menschen aber „im Gegenteil“ „aufwerten“.

Menschen seien nicht „defizitĂ€r“ oder „defizitĂ€r unterwegs“, so Hebel wiederholt. Hier ist zurĂŒckzufragen: Hat der Mensch an sich nicht doch irgendeinen Mangel, wenn die Rede vom SĂŒndenfall und seinen ernsten Folgen noch irgendeinen Sinn haben soll? Wie steht der unerlöste Mensch vor Gottes Angesicht nun da? Einzig und allein als wertvoll und geliebt? Hebel erwĂ€hnt das Opfer Gottes fĂŒr uns. Aber warum war dies nötig? Wenn Gott nur seine Liebe darin ausdrĂŒcken wollte, hĂ€tte er sich dann nicht eine wenige blutige Prozedur einfallen lassen können?

Vieles bleibt in dem Interview unklar wie die Beziehung von Theologie („Theologisch kann ich mit vielen Aussagen mit
“) auf der einen Seite und Psychologie und PĂ€dagogik auf der anderen („theologisch“ sei ĂŒber das Böse im Menschen „durchaus zu streiten“, „psychologisch und pĂ€dagogisch“ ausdrĂŒcklich nicht – umso schlimmer fĂŒr die Theologie?). Im Podcast „Hossa Talk“ vom 11. Januar des vergangenen Jahres gab Hebel aber ausfĂŒhrlichere Antworten zu dem angesprochenen Themenkomplex. Hier ein interessanter Abschnitt im Gesamtzusammenhang und ganzen Wortlaut (ab 51:50):

„HĂ€ngt das aber nicht alles an der Frage, ob man daran glaubt, dass Menschen verloren gehen, also in die Hölle kommen, und dass Menschen in den Himmel kommen, gerettet werden? Das ist doch die Kasus-Knacktus-Frage. Wenn es stimmt, dass Menschen in die Hölle kommen und Menschen in den Himmel kommen und dass es ein Entscheidungskriterium gibt, welches auch immer das dann auch ist [
] dann ist es doch wirklich so
 dann macht das wirklich Sinn den Glauben weiterzugeben. Sollte es das aber nicht geben, wovon ich ausgehe – das Leben als Weg begreifen, der eine ist da, der andere steht da, und es kommt daraus an, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen, dass wir Liebe teilen, dass wir Salz und Licht sind fĂŒr diese Welt usw. – dann hast du natĂŒrlich eine ganz andere Herangehensweise. Dann braucht du nĂ€mlich auch keine Entscheidung, dann brauchst du Lebenshilfen, Motivation, Förderung, Coaching, Beratung, Lebensrichtung, weite Herzen, RĂ€ume, um sich auszutauschen, RĂ€ume, um Fehler zu machen, RĂ€ume, um sein zu dĂŒrfen und dieses ganze Paket. Das heißt, wenn ich sage, ich bin, ich glaube
  Ich sag‘ das jetzt mal so
 ich glaube, dass alle Menschen bei Gott sind. Das glaube ich. Und deshalb macht es fĂŒr mich auch keinen Sinn zu bekehren. Aber ich glaube auch, dass es in der Diesseitigkeit einen Riesenunterschied macht: wofĂŒr setzt du dein Leben ein? Einmal fĂŒr dich persönlich, aber auch fĂŒr die Gesellschaft und fĂŒr deine unmittelbaren Mitmenschen. Und da sehe ich Bekehrung, also diese Umkehr hin zu dem Anderen, diese Hinwendung, Mensch zu werden wie es eigentlich gedacht war, – das empfinde ich schon als eine Art Bekehrung. Wenn das dann dazu dient, bin ich der erste, der wieder zur Bekehrung aufruft.“

Auch wenn er sich in diesem Abschnitt verbal erst an seine Hauptaussagen herantastet – hier redet Hebel wirklich Tacheles. Ruhig, aber bestimmt und ohne danach gefragt worden zu sein bekrĂ€ftigt er: Alle Menschen sind bei Gott. Punkt. Und falls jemand meint, dieses „bei Gott“ könnte auch noch irgendwie mit herkömmlicher evangelikaler Theologie in Einklang gebracht werden, so zieht diese Karte nicht: Hebel macht unmissverstĂ€ndlich deutlich, dass es die grundlegende Alternative, die Wegscheidung, zwischen Himmel und Hölle (oder zwischen dem, wofĂŒr diese Begriffe stehen), seiner Ansicht nach nicht gibt („Sollte es das aber nicht geben, wovon ich ausgehe
“). Jeder Mensch lebt schon in Frieden mit Gott, weshalb eine inhaltliche Weitergabe des Glaubens und ein Aufruf zur Entscheidung und Umkehr folgerichtig auch nicht sinnvoll sind.

Mit dem traditionellen VerstĂ€ndnis von Bekehrung kann Hebel also nichts mehr anfangen, aber er will den Begriff und die Vorstellung nicht ganz verwerfen. Bekehrung zum Anderen, zum Menschen, Bekehrung zum Handeln und zu einem neuen Lebensstil – dafĂŒr setze er sich immer noch ein. Auch von Buße ist noch nie Rede – „eine neue Software fĂŒrs Leben“ aufspielen. Doch wozu eigentlich? War die alte so schlecht? Der zitierte Podcast ist ĂŒberschrieben „Ex-Evangelisten unter sich“, aber auch „Evangelisation“ wird nun mit ganz neuem Inhalt gefĂŒllt. Blogger David JĂ€ggi aus der Schweiz zu Hebel:

„In meinen Augen ist er kein Ex-Evangelist. Er ist gerade darin ein Evangelist, wenn er sich um die Armen und Marginalisierten kĂŒmmert, weil er wie Mutter Theresa in den den Augen der Armen Christus erblickt. Er ist einer, der den Glauben nicht hat, sondern auf dem Weg des Vertrauens ist, sich dabei ehrliche Fragen stellt und dennoch die GĂŒte Gottes durch sein helfendes Handeln fĂŒr andere sichtbar macht. Er ist ein Brief Christi im Dreck Berlins
“

Ist jeder, der sich um Arme kĂŒmmert und/oder seinen Glauben lebt, ein Evangelist – gerade darin Evangelist? Nun mag soziales Handeln von Christen eine evangelistische Dimension haben, doch macht so eine Ausweitung wirklich Sinn? Was gibt solch ein Evangelist neuen Typs weiter, der „den Glauben nicht hat“? Kann solch eine Redeweise noch irgendwie biblisch-theologisch begrĂŒndet werden? Ähnliches wĂ€re zur Bekehrung als Hinwendung zum Anderen zu bemerken. Liegt eine biblische Bekehrung vor, wenn diese Wandlung geschieht, aber die Anstiftung zur Hinwendung durch irgendeine andere Religion, Ideologie oder Weltanschauung geschehen ist? Hebel will am „wozu“ einer Bekehrung festhalten, aber eine Ethik der Menschenfreundlichkeit haben hier auch andere Lehrsysteme als das Christentum zu bieten. Wovon weg soll man sich bekehren? Kann dieser Aspekt von Bekehrung einfach ignoriert werden?

Die SĂ€tze Hebels im Podcast haben bei den Gastgebern Gottfried „Gofi“ MĂŒller und Jakob „Jay“ Friedrich keinerlei RĂŒckfragen oder Skepsis, geschweige denn Widerspruch ausgelöst (MĂŒller war jahrelang mit der evangelistischen Initiative „Friends“ unterwegs; Friedrich war die eine HĂ€lfte des evangelistischen Musik- und Komikduos „Nimm zwei“). Seine AusfĂŒhrungen blieben auch auf jesus.de nichtkritisiert im Raum stehen (wenn auch in den Kommentaren diskutiert). An Hebel wĂ€re jedoch die Frage zu richten, ob er sich noch in irgendeinem nachvollziehbaren Sinne mit der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz „zur völligen SĂŒndhaftigkeit und Schuld des gefallenen Menschen, die ihn Gottes Zorn und Verdammnis aussetzen“, bekennt. Gleiches gilt fĂŒr die Hölle, die in der deutschen Glaubensbasis zwar nicht direkt genannt wird, wobei die Alternative hier dennoch klar ist: Auferstehung zum ewigen Leben oder zum Gericht (die britische Allianz spricht seit 2005 vom „ewigen Leben der Erlösten“ und prĂ€ziser von der „ewigen Verdammnis der Verlorenen“).

Pelagius unchained

Vor Jahren schrieb Matthias Matussek in einer Titelgeschichte des „Spiegel“: „Die SĂŒnde ist aus der öffentlichen Rede verschwunden. Sie hat sich neue Papiere, neue IdentitĂ€ten besorgt. Von ‘SĂŒnde’ spricht keiner mehr
 Die SĂŒnde hat kein metaphysisches Gewicht mehr. Sie wird nicht mehr ernst genommen. Man könnte sagen: Die SĂŒnde hat ein Imageproblem.“ (7/2010)

Die SĂŒnde ist auch zu einem theologischen Fliegengewicht verkommen. Sie wird selbst von Evangelikalen allzu gerne nicht mehr ernst genommen. Man muss womöglich sogar sagen: Die SĂŒnde ist selbst unter den Frommen heimatlos geworden. Nach und nach dringt ein Denken ins evangelikale Kernland vor, das mit einem radikalen SĂŒndenverstĂ€ndnis nichts mehr anfangen kann. Die Saat so mancher postevangelikaler Autoren geht langsam auf.

So hĂ€lt Doug Pagitt die Lehre von der völligen Verderbnis des Menschen und der ErbsĂŒnde fĂŒr eine Erfindung Augustinus und der KirchenvĂ€ter des 4. Jahrhunderts. Damit sei griechisches, unbiblisches Denken ĂŒbernommen worden. In A Christianity Worth Believing betont er, dass wir nicht so sehr die Verderbtheit des Menschen, sondern seine GottĂ€hnlichkeit betonen sollten. Das mag ja noch angehen, doch er leugnet die ErbsĂŒnde rundheraus, lĂ€sst nur konkrete SĂŒnden ĂŒbrig und bestreitet nicht einmal die NĂ€he zu Pelagius (um 400), den man wegen seiner Irrlehre (Pelagianismus) nicht hĂ€tte exkommunizieren sollen. Auch der Brite Steve Chalke leugnete in The Lost Message of Jesus die ErbsĂŒnde, was zu einer breiten und ernsten Diskussion unter den britischen Evangelikalen fĂŒhrte.

SĂŒnde wird nicht mehr in erster Linie in Bezug auf Gott definiert, sondern auf den Menschen selbst. Spencer Burke: „Es ist nicht so, dass sich die Menschen nun als perfekt ansehen; nur die Sprache, um sich selbst zu beschreiben, hat sich gewandelt. ‘Gebrochen’, ‘fragmentiert’ oder ‘Mangel an Ganzheit’ – so werden heute auf neue Weise unsere geistlichen BedĂŒrfnisse ausgedrĂŒckt. Worum es geht, ist ein GefĂŒhl der mangelnden Verbundenheit.“ (A Heretic‘s Guide) SĂŒnde wird fast nur noch auf der horizontalen, menschlichen und zwischenmenschlichen Ebene gesehen. In einer Predigt Mitte November definierte Hebel SĂŒnde als „dauerhaften Lebensstil, der wegfĂŒhrt von der Liebe“.

Der Pelagianismus erlebt eine Renaissance. Seine Rehabilitation begann schon mit dem Evangelisten Charles Finney im 19. Jahrhundert. James I. Packer bemerkte treffend: „Pelagianismus ist die natĂŒrliche HĂ€resie von eifrigen Christen, die an Theologie kein Interesse haben.“ Und schon Johannes Calvin in seiner Institutio: „Der Menschengeist hat nichts lieber, als wenn man ihm Schmeicheleien vormacht“. In Kapitel II,1 erlĂ€utert der Reformator die Erb- oder „UrsĂŒnde“, die damals wie heute Ă€ußerst anstĂ¶ĂŸig ist: „Dem gemeinen Menschenverstand ist nichts so befremdlich, als dass wegen der Schuld eines Menschen alle schuldig sein sollten“. Unsere SĂŒnde besteht nicht nur in der Nachahmung Adams, wie Pelagius lehrte. Wir sind nach dem Fall nicht nur unvollkommen, krank, verfĂŒhrbar; das Übel ist viel radikaler: der Mensch ist geistlich tot. – Alle großen Theologen in den Spuren Augustinus waren sich dessen bewußt, dass wir Menschen defizitĂ€r unterwegs sind.

„Anstatt eines gefallenen Menschen
“

Was ist der Mensch? Und wo liegt die Ursache fĂŒr die Übel und das Böse in der Welt? Viele Grundoptionen einer Antwort liegen hier nicht auf dem Tisch. Menschen brauchen, so Hebel, „Lebenshilfen, Motivation, Förderung, Coaching, Beratung, Lebensrichtung“. Gewiss brauchen sie dies, aber eben nicht nur dies. Eine Abkehr vom zutiefst Bösen in uns, ein Sich-heraus-rufen-lassen aus einer radikalen Verderbnis, ist eine „ganz andere Heransgehenweise“, die Hebel leider nicht (mehr) vertritt.

Hebels Aussagen sind zweifellos geprĂ€gt von der Arbeit in der „blu:boks“, die der Wahl-Berliner leitet. Dort werden Kinder und Jugendliche mit schwierigem sozialem Hintergrund pĂ€dagogisch in kreativen Projekten betreut. Diese Arbeit ist nicht Thema dieses Beitrags und soll hier nicht untersucht oder bewertet werden. Es sieht aber ganz danach aus, dass Überzeugungen der ReformpĂ€dagogik die theologischen Äußerungen Hebels tief geprĂ€gt haben. Man fĂŒhlt sich erinnert an Jean-Jacques Rousseaus Erziehungsroman Emile. „Alles ist gut, wie es aus den HĂ€nden des Schöpfers der Dinge hervorgeht; alles verdirbt unter den Menschen“, so lautet der berĂŒhmte erste Satz des 1000-Seiten-Werks, das ungeheuer einflussreich werden sollte. Ganz in den Bahnen der AufklĂ€rungsphilosophie sagt Rousseau hier, dass der Mensch von Natur aus gut ist – erst andere Menschen, die Gesellschaft, verderben ihn.

Diese Linie fĂŒhrt zur Schwedin Ellen Key, die 1900 Das Jahrhundert des Kindesherausgab – ein Titel mit Programm. An vielen ihrer Thesen gibt es kaum etwas auszusetzen, im Gegenteil. Key war wichtig, dass Kinder in Liebe und Achtung aufgezogen werden; sie hatte eine Vision des „heilen Heims“ und erkannte die Wichtigkeit der frĂŒhen mĂŒtterlichen Liebe. Wie alle ReformpĂ€dagogen ging sie davon aus, dass man sich an den individuellen BedĂŒrfnissen, Neigungen und Interessen des Kindes orientieren mĂŒsse. Doch auch sie konnte mit einem sĂŒndigen Wesen des Menschen gar nichts anfangen: „Anstatt eines gefallenen Menschen sieht man einen unvollendeten, aus dem
 ein neues Wesen werden kann.“

„Ganz gewiß muß ein Mensch an sich selbst verzweifeln, um fĂŒr den Empfang der Gnade Christi bereitet zu werden.“ So Luther in den Thesen der Heidelberger Disputation von 1518. Hebel wĂŒrde in solchen Worten sicher Kleinmacherei entdecken. Und tatsĂ€chlich haben so manche Postevangelikale Ă€ußerst beengende und kleinmachende Gemeinden erlebt (Brian McLaren fĂ€llt einem hier ein). Doch warum das Kind mit dem Bade ausschĂŒtten? Ist jede Rede von Verzweiflung an den Möglichkeiten der Selbstrettung verwerflich? Was soll falsch daran sein, wenn man jemandem, der im Sumpf feststeckt, zuruft: „Vergiss es, du ziehst dich da nicht selbst aus!“? Und macht es nicht Sinn, die tiefe Ursache fĂŒr den „Dreck Berlins“ tief im menschlichen Herzen zu suchen – im Herzen aller Menschen, auch im Herzen von Kindern? Wie ist es denn zu diesem Dreck gekommen? Wer ist dafĂŒr verantwortlich?Die VerhĂ€ltnisse? Die Gesellschaft? Das System? Aber handeln in diesen nicht Menschen, gefallene Menschen, oftmals ihre Bosheit nur zu deutlich zeigende Menschen?

„Da haben wir die freie Wahl“

Wie ist Hebel zu seinen Auffassungen gelangt? In einem Abschnitt des Interviews erlÀutert er seinen methodischen Ansatz der Bibelinterpretation:

„Wie ich die Bibel lese und damit meine Theologie bekomme, hĂ€ngt ganz an meiner subjektiven Wahrnehmung. Mir hat da sehr die Frage nach meinem Leitmotiv geholfen: Worauf du hinauswillst, entscheidet stark darĂŒber, wie du bestimmte Bibelstellen oder bestimmte biblische Aussagen einordnest. Wenn ich die Liebe als Grundmotiv des Christentums sehe, dann kann ich es mir nicht leisten, Menschen auszugrenzen. ‘Die Liebe glaubt alles, die Liebe hofft alles’, das ist sehr integrativ. Da habe ich gar keinen Spielraum, irgendwelche Menschen auszugrenzen. Aber ich bekomme natĂŒrlich Probleme mit bestimmten Dingen, wenn ich als Leitmotiv habe: ‘Der Mensch ist verloren, und er wird nur errettet, indem er bestimmte Dinge tut und glaubt.’ Welches Leitmotiv ich also habe, mit welchem AuslegungsschlĂŒssel ich die Bibel aufschließe, entscheidet ĂŒber die Botschaft. Und da haben wir die freie Wahl, denn ich glaube, dass die Bibel so oder so zu lesen ist. Ich habe mich auf Grund der pĂ€dagogischen und psychologischen Erfahrung, die ich gerade hier in meiner Arbeit mit Teens in der Blu:Box Berlin mache, fĂŒr die Liebe als Leitmotiv entschieden.“

Es ist unbestreitbar, dass unsere subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen unser VerstĂ€ndnis der Bibel und damit von Theologie ĂŒberhaupt beeinflussen, ja ein StĂŒck weit prĂ€gen. Dass die Theologie aber „ganz“ daran hĂ€ngt, folgt ganz und gar nicht aus dieser Erkenntnis! Diese Überzeugung öffnet vielmehr der WillkĂŒr in der Hermeneutik TĂŒr und Tor, und Hebel spricht selbst von der „freien Wahl“ in der Festlegung des Leitmotivs. So frei wohl aber doch wieder nicht, denn wer „Liebe als Grundmotiv des Christentums“ anders deutet als Hebel, wer immer noch meint, Menschen als Verlorene ansprechen zu mĂŒssen, der hat ja wohl das falsche Leitmotiv gewĂ€hlt. Wenn die Bibel wirklich „so oder so“ zu lesen sei, warum wird dann aber in Wahrheit doch zu verstehen gegeben „so und besser nicht anders“, nĂ€mlich angeblich ausgrenzend, diskriminierend, lieblos usw.?

Die Bibel muss selbst bestimmen, wie sie ausgelegt werden will. Sie selbst legt ihr Leitmotiv fest. Wir haben nicht die Freiheit, ein uns genehmes herauszupicken. Die biblische Theologie untersucht diese Linien im Wort Gottes und formuliert Zusammenfassungen wie z.B. der Baptist James Hamilton: „The glory of God in salvation through judgement“ (s. auch hier). Über solche Formulierungen kann natĂŒrlich gestritten werden, aber solche Debatten kreisen um die Frage, wie die Selbstaussagen der Bibel besser in menschliche Worte zu fassen sind. Wir werden hier nie zu einem definitiven Abschluss kommen, weil tatsĂ€chlich Erfahrungen, Kultur und Subjektives Einfluss nehmen. Hebel hat sich dagegen aus diesem Diskurs verabschiedet und fĂŒr seine Deutung der Liebe entschieden, an der er auch nicht mehr rĂŒtteln will. Das macht ihn fast schon unangreifbar – wer ist schon gegen die „Liebe als Grundmotiv“? Doch er weiß doch selbst viel zu genau, dass sich auch die althergebrachten Prediger von SĂŒnde und Hölle von der Liebe geleitet sehen.

Schon in der Überschrift des Interviews wird der Hochmut angesprochen. Trotz des Wortes „unser“ ist natĂŒrlich der Hochmut der anderen gemeint. Hier ist zurĂŒckzufragen: Woher kommt Hebels Hochmut zu meinen, er hĂ€tte die Liebe definitiv auf seiner Seite?

Unser „konstitutionelles Erfahrungsdefizit“

Hebel hat sich aufgrund der Erfahrungen in seiner Arbeit fĂŒr seine Version des Leitmotivs entschieden. Argumentativ ist ihm da kaum noch beizukommen. Offensichtlich rĂ€umt er dieser Erfahrung eine hohe AutoritĂ€t ein. In Kombination mit dem Glauben, die Bibel sei „so oder so“ zu lesen, wĂŒrde jede Diskussion schnell auf diese oder Ă€hnliche Weise enden: Ich lese die Bibel eben auf diese Art, weil ich diese und jene Erfahrung gemacht habe und du wohl nicht.

Weil der Mensch tief gefallen ist, ist jedoch auch unsere Erfahrung gefallen, und das heißt vor allem auch: Wir deuten unsere Erfahrungen mitunter höchst fehlerhaft. Erfahrung kann sehr trĂŒgerisch sein. Die reformatorische Theologie hat diese Erkenntnis eigentlich sehr gut bewahrt. Sie macht nur Sinn auf dem Hintergund des Festhaltens an der radikalen Verderbtheit des Menschen. Und hier schließt sich natĂŒrlich der Kreis: Wird der Mensch in immer rosigerem Licht gesehen, wie bei Hebel, so verlĂ€sst man sich immer mehr auf die AutoritĂ€t der eigenen Erfahrung.

Der katholische Philosoph Robert Spaemann erinnert auch die Evangelikalen: „Es gibt heute eine Überbetonung der Erfahrung im Bereich des christlichen Glaubens. Diese Überbetonung muss unvermeidlich zu Frustrationen und EnttĂ€uschungen fĂŒhren. Der Glaube ist nĂ€mlich gerade die Antwort auf ein konstitutionelles Erfahrungsdefizit imstatus viatoris [Pilgerstand]. Er behebt aber dieses Defizit nicht.“ (Das unsterbliche GerĂŒcht)

Spaemann nennt u.a. das Beispiel der SĂŒnde. NatĂŒrlich erfahren wir die Folgen menschlicher Schuld; dass wir Menschen schuldig werden, ist jedem klar. Aber „die absolute Dimension unserer Verfehlungen“, unsere Trennung von Gott, und auch die „absolute Dimension der Vergebung“, unsere Einheit mit Christus, sind nicht „unmittelbar erfahrbar“. Wir glauben, dass nach dem Fall der Mensch tot in SĂŒnden ist,weil Gott selbst dies offenbart hat. Mit dem Christwerden kommen neue Dimensionen des Wissens und Erfahrens hinzu, doch auf dieser Erde leben wir weiterhin im Glauben und nicht im Schauen. Deswegen ist der Glaube nicht nur die Eintrittskarte ins christliche Leben, sondern bleibt im gesamten weiteren Dasein in dieser vergĂ€nglichen Welt unser Hauptinstrument.

Die sichtbare Welt, so wie sie sich uns darbietet, ist eben offen fĂŒr verschiedene Deutungen und Erfahrungen, auch die gottlose. Die Bibel selbst macht ja deutlich, dass sich selbst vorbildlich GlĂ€ubige mitunter als von Gott verlassen erfahren, Gottesferne spĂŒren. Welche Erfahrungen machte Joseph wohl im Ă€gyptischen GefĂ€ngnis? Er erfuhr wahrlich nicht die FĂŒhrung Gottes, aber er wurde von Gott gefĂŒhrt, und wir können davon ausgehen, dass er an diese glaubte, weil er am Glauben festhielt. Erfahrung, auch die christliche, ist nicht abgeschlossen, vielmehr mehrdeutig, ein StĂŒck weit interpretationsoffen, und deshalb bleibt der feste Glaube so wichtig. Und dieser hĂ€lt sich fest am offenbarten Wort Gottes.

Wird dies nicht beachtet, kommt man im Hinblick auf die anderen Religionen schnell in Teufels KĂŒche. Denn auch der Muslim erfĂ€hrt natĂŒrlich seine Religion, und auch der Buddhist macht gewiss spirituelle Erfahrungen der Erlösung und Befreiung. Hat subjektive Erfahrung das letzte Wort, bleibt uns kaum etwas anderes ĂŒbrig, als diese tolerant stehen zu lassen – und auf Mission zu verzichten. Oder sie zu einem bloßen Erfahrungsaustausch herunter zu definieren: Ich hab da ‘ne interessante Erlösungserfahrung – wir wĂ€r‘s damit? Und was habt ihr zu bieten?

Erfahrung als solche hat keine erkenntnistheoretische PrioritĂ€t und in sich ruhende AutoritĂ€t. So knĂŒpften z.B. die Apostel in ihren Predigten vor Heiden natĂŒrlich an deren Erfahrungen an; doch sie verkĂŒndigten ihnen Dinge, die ihre Erfahrungswelten weit ĂŒberstiegen und sprengten. Erfahrung muss in ein Gesamtkonzept, ein Modell, eine Weltanschauung, ein Paradigma eingeordnet werden. Dessen Kerninhalte sind von der Bibel allein autoritativ festzulegen. In manchen FĂ€llen bindet Gott Menschen in sein offenbarendes Handeln mit ein; man denke an die Befreiung aus Ägypten und die Erfahrungen der JĂŒnger mit dem Auferstandenen. Aber auch diese Erfahrungen werden von Gottes Wort autoritativ gedeutet.

Deutlich wird dies in der Episode der Emmaus-JĂŒnger in Lk 24. Jesus korrigiert dort die Erfahrung der EnttĂ€uschung und Traurigkeit der zwei JĂŒnger – indem er mit ihnen ein langes Bibelstudium macht. Dadurch machen sie neue Erfahrungen, Gott spricht dadurch ihr Herz an. Jesus zeigt sich interessanterweise nicht in seiner Auferstehungsherrlichkeit. StĂ€rker als hier könnte die ErkenntnisprioritĂ€t des Wortesnicht ausgedrĂŒckt werden. In dem gesamten Erkenntnisprozess ist die Erfahrung durchaus beteiligt und ĂŒbt ihren Einfluss aus, und unsere Erkenntnisse wirken zurĂŒck auf die Erfahrung. Aber wenn Gott sich in seinem Wort klar offenbart hat, dann haben wir Menschen uns nach dieser Vorgabe zu richten – unsere Erfahrung inklusive.

„Nathan“ reloaded

Am Ende des Interviews spricht KrĂŒger das Thema Wahrheit an: „Wie gehst du dann heute mit dem Wahrheitsanspruch Jesu um? Ausgrenzung hĂ€ngt ja meist daran, dass man sich selbst als Besitzer der Wahrheit versteht – und Jesus sagt selbst: ‘Ich bin die Wahrheit’ 
“

Hebels Antwort ĂŒberrascht: „In der Bibel steht nicht, dass Jesus die Wahrheit ist. Das ist in der deutschen Übersetzung so, aber der verwendete griechische Begriff bedeutet, auf Menschen bezogen: ‘Ich bin wahrhaftig’ oder ‘Ich bin aufrichtig’. Weil er das Maximum an Kontakt zur Liebe und zu den Menschen gelebt hat, das jemals gelebt wurde. Jesus meint also nicht: ‘Ich habe uneingeschrĂ€nkt recht’, sondern er meint: ‘Lebt so aufrichtig, wie ich gelebt habe.’ Und das wiederum hat bestimmte Konsequenzen
“

Hier kommt man nun wahrlich ins Stutzen, ja man fragt sich: Wer hat ihm denn so einen Unsinn gesteckt? Mir ist keine einzige BibelĂŒbersetzung bekannt, die Joh 14,6 mit „Ich bin wahrhaftig“ statt „Ich bin die Wahrheit“ wiedergeben wĂŒrde. Beides steht natĂŒrlich in keinem Widerspruch: Jesus ist die Wahrheit und vollkommen wahrhaftig. Wieso behauptet er aber kategorisch – und schrecklich besserwisserisch „In der Bibel steht nicht, dass Jesus die Wahrheit ist“? Es ist geradezu absurd: Jesus wird bei ihm zu einem unanstĂ¶ĂŸigen Moralprediger, aber er selbst korrigiert mal eben arrogant die BibelĂŒbersetzer in einem Ton des „ich habe uneingeschrĂ€nkt recht“.

Hebel fĂ€hrt fort: „Woher kommt nur unser Hochmut zu meinen: ‘Wir haben die Wahrheit’? Woran willst du das denn festmachen? All die subjektiven Erlebnisse, die wir im Glauben haben, die haben doch andere Menschen in anderen Religionen genauso. Aber da komm ich jetzt und sage: ‘Ihr liegt alle falsch, und ich liege richtig’? Das ist der völlig falsche Weg. Uns bleibt nur, das zu leben, was Jesus gelebt hat, um herauszufinden, ob Jesus ‘echt’ ist. Und dann werden wir bei der Liebe landen. Ob die Sache mit Jesus wahr ist, entscheidet sich nicht an einer philosophischen oder ideologischen Grundsatzdiskussion, sondern es entscheidet sich an den FrĂŒchten.“

Dieser Gedankengang kommt einem bekannt vor. Es ist Lessings Moral in dessen StĂŒck Nathan der Weise aus dem Jahr 1779. Ob der Christ, Jude oder Muslim recht hat, muss sich an der tĂ€tigen Liebe zeigen. Jeder lebe nach den höchsten MaßstĂ€ben seiner Religion, behaupte aber nicht, dass die anderen falsch liegen. Im Grundsatz skizziert Hebel hier nichts anderes als die Apologetik des theologischen Liberalismus. Er schließt mit dem Satz: „Ich wĂŒrde niemals mehr jemandem sagen: ‘Ich kenne die Wahrheit, und du kennst sie nicht.’“

Was soll man zu all dem sagen? Sicher ist hier manches schrecklich selbstwidersprĂŒchlich. Wie wir schon sahen, nimmt Hebel durchaus in Anspruch einige Wahrheiten zu kennen, und auch in der Ablehnung anderer Auffassungen wird er hier und da deutlicher – wenn auch implizit: Du kennst die Wahrheit nicht, dass es in erster Linie darum geht, so zu leben wie Jesus; dass die Liebe das oberste Grundmotiv der Bibel ist; dass die Bibel nicht sagt, Jesus ist die Wahrheit; dass wir nicht defizitĂ€r sind usw.

Die Wahrheit wollen heute viele nicht mehr „haben“, sondern nur noch „leben“. Gerne wird nun Verwirrung gestiftet. Peter Rollins, von Atheisten gefragt, wie er nur glauben könne, dass seine eigene religiöse Tradition, das Christentum, wahr sei, meinte provokant: „I don‘t“. Ich glaube nicht, dass ein Glaubenssystem wahr ist, und das gelte selbst fĂŒr sein eigenes (How (not) to speak about God). Auf Ă€hnliche Weise Christina Brudereck in Freischwimmer: „Ob es Gott gibt? Keine Ahnung.“

Vom Wissen will man nichts mehr wissen. Kant lĂ€sst grĂŒĂŸen, der schon das Wissen u.a. in theologischen Fragen zur Seite schob, um fĂŒr den Glauben Raum zu gewinnen. Woher kommt nun aber unser Wissen um Wahrheit? Erfrischend prĂ€zise und klar antwortete jĂŒngst Kardinal MĂŒller auf Fragen der „Zeit“ (1/2016): „FĂŒr uns Katholiken und auch fĂŒr die evangelischen Christen ist das Wort Gottes die Wahrheit. Und in Wahrheitsfragen gibt es keinen Kompromiss. Denn wir sind nicht die Verhandlungspartner Gottes, sondern Hörer seines Wortes.“ Der Chef der Glaubenskongregation im Vatikan: „Zweifellos ist die Wahrheit kein Besitz zu unserer VerfĂŒgung, sondern ein Schatz, der der Kirche anvertraut worden ist. Die Kirche ist kein Philosophenklub, der sich der Wahrheit annĂ€hert, sondern die Offenbarung ist uns gegeben, um sie zu bewahren und treu auszulegen. Die Wahrheit will nicht nur  gesucht werden. Sie verlangt auch die Entscheidung zu ihr.“ Frage der „Zeit“:  „Woher wissen Sie, was die Wahrheit ist?“ MĂŒller: „Indem wir die Heilige Schrift als Wort Gottes nach den Regeln einer theologischen und historischen Hermeneutik auslegen
 Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit. Und die Kirche verkĂŒndet keine andere Botschaft als jene, die ihr von ihrem Herrn ĂŒbertragen worden ist.“

Die Kirche Roms hat die vertikale Dimension allgemein besser bewahrt als viele Evangelische, die inzwischen ganz in der Horizontalen aufgehen. SĂŒnde, Gnade, Evangelium usw. werden vom katholischen Lehramt in erster Linie im Hinblick auf Gott definiert, und dieser hat sich gleichsam von oben herab in unsere Welt hinein offenbart. Er hat seinen Sohn, die Wahrheit in Person, gesandt, und er hat Wahrheit mitgeteilt, die wir kennen, wissen, glauben und weitergeben können. Unser angeblich hochmĂŒtiges Wissen von Wahrheit ruht auf Offenbarung.

Wenn die autoritative Offenbarung Gottes aber in der Hand zerbröselt, bleibt nicht mehr viel. Nobert Bolz in seinem SWR2-Beitrag „Gnadenlose Neuzeit“ Ende November: „Kennt die evangelische Kirche ĂŒberhaupt noch den Unterschied zwischen Christentum und einem diffusen Humanitarismus? Sie ersetzt den Skandal des Gekreuzigten zunehmend durch einen neutralen Kult der Menschheit
 Was dann noch bleibt, ist die SentimentalitĂ€t einer unrealistischen Menschenfreundlichkeit.“

„Bei der Wahrheit verstehen viele keinen Spaß“

Leider ist heute beim wichtigen Thema Wahrheit die Konfusion groß. Die Postmoderne hat ihre Spuren hinterlassen. In den vergangenen Wochen entspann sich eine Diskussion zwischen Michael Diener, dem Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz, und Ulrich Parzany, dem altgedienten Evangelisten, ĂŒber den Kurs der evangelikalen Bewegung. Auslöser war – wen ĂŒberrascht‘s – der Umgang mit dem Thema HomosexualitĂ€t. Tobias Faix dazu auf seinem Blog: „da wird schon deutlich, es geht um mehr, es geht um die Wahrheit. Und bei der Wahrheit verstehen viele keinen Spaß, denn es gibt nur eine und die habe zufĂ€llig ich und damit haben alle anderen, die anderer Meinung sind, diese folgerichtig nicht und sind falsch.“ Er fordert „mehr AmbiguitĂ€tstoleranz“ und lobt Diener als „ambiguitĂ€tstolerante Person“, der – besser als Parzany – Spannungen aushalten könne „ohne darauf aggressiv zu reagieren“.

Parzany hatte auf Dieners öffentliche Äußerungen in der „Welt“ in einem offenen Brief reagiert und diesem in Teilen widersprochen. Ist so ein Verhalten intolerant? Mangelt es Parzany an AmbiguitĂ€tstoleranz? Wie schon bei der „sozialen Gerechtigkeit“ kann ich nicht erkennen, was der Zusatz „AmbiguitĂ€t“ (Mehrdeutigkeit) hier bringen soll. Was Gerechtigkeit ist, weiß jedes Kind (F. Bastiat), aber wie „soziale Gerechtigkeit“ sinnvoll zu definieren ist, ist kaum noch klar. Gerechtigkeit ist vielmehr an sich schon ein soziales PhĂ€nomen.

Was Toleranz bedeutet, ist (oder war einmal) klar. Man toleriert den Menschen und MitbĂŒrger, der eine andere Religion, eine andere Auffassung zu bestimmten Dingen, eine andere Weltsicht usw. hat. Man lĂ€sst den anders Denkenden und Glaubenden neben sich leben (klingt heute selbstverstĂ€ndlich, war es aber nicht), lĂ€sst ihn seine Position frei vortragen und verbreiten, geht ihm nicht aggressiv an die Gurgel. Toleranz ist deshalb nötig, weil die Wirklichkeit mehrdeutig ist. Wie „sozial“ in der „Gerechtigkeit“, so steckt „AmbiguitĂ€t“ schon in der „Toleranz“.

Toleranz ist wesentlich Personentoleranz, aber nicht Ideentoleranz. Spaemann hat es vorbildlich klar ausgedrĂŒckt: „Ideen sind ihrer Natur nach intolerant, auch sogenannte liberale Ideen. Eine Idee, die einen Wahrheitsanspruch erhebt, fĂŒhrt immer die binĂ€re Unterscheidung zwischen wahr und falsch ein. Menschen dagegen können und sollen im Umgang mit Menschen, die andere – ihrer Meinung nach falsche – Ideen haben, tolerant sein. Denn nur so können sich Ideen enstprechend der ihnen eigenen geistigen Kraft mit anderen Ideen messen.“ Der Katholik Spaemann macht sich – wie auch große liberale Denker und Agnostiker wie von Mises oder Hayek – fĂŒr den Kampfder Ideen stark, der von der Personentoleranz nicht zu trennen: „Nur tote Ideen existieren in der Form der friedlichen Koexistenz nebeneinander. Allerdings
 kann es nur dort zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung zwischen religiösen Überzeugungen kommen, wo Menschen, die ihre Religion ernsthaft praktizieren, miteinander friedlich koexistieren.“

Diese ZusammenhĂ€nge werden bei Faix und Hebel ĂŒberhaupt nicht deutlich. Den schwarzen Peter haben bei ihnen all diejenigen, die Widerspruch einlegen; die sagen „so nicht!“ und Aussagen als falsch bezeichnen; die angeblich GrĂ€ben aufreißen und Einheit zerstören; die sich erdreisten, in ihren Augen falsche Ideen – oh Graus! – doch tatsĂ€chlich bekĂ€mpfen und nicht ‘tolerant’ stehen lassen zu wollen.

„Es wĂ€re so schön, wenn wir aufhören, uns darĂŒber zu streiten, wer nun recht hat.“ An SĂ€tze wie diesen eines christlichen Bloggers hat man sich inzwischen gewöhnt. Nun soll man wahrlich nicht bei jeder Gelegenheit Zankereien vom Zaun brechen. Schon die Bibel warnt davor. Doch um der Wahrheit – und bei ihr hören nicht nur der Spaß, sondern auch noch ernstere Sache auf – willen mĂŒssen wir den Streit wohl wieder erst lernen.

Viele wĂ€re noch zur Wahrheit zu sagen. An dieser Stelle sei nur auf den Vortrag von Os Guinness bei der Lausanner Konferenz in Kapstadt 2010 hingewiesen. „Why truth matters“ ist ein großes und eindrĂŒckliches PlĂ€doyer, die Wahrheit ernst zu nehmen. Guinness findet auch deutliche Worte fĂŒr die (post)modernen VerĂ€chter der Wahrheit unter den Christen heute.

Ein anderes Evangelium

Ein nicht zu langes Interview und eine lange Kritik – viel Aufhebens um wenig AnstĂ¶ĂŸiges? Viel LĂ€rm um fast nichts? Wie man‘s sieht. Auch wenn man Diskussionen um die Hermeneutik und die Wahrheit als vielleicht spitzfindig empfindet – beim Evangelium hört der fromme Spaß nun endgĂŒltig auf. Hebels Zusammenfassung der „Botschaft Jesu“ lautet so: „Ich glaube, das Evangelium dreht sich nur um eine Sache: Werden wie Jesus. Punkt. Lebt so, wie Jesus gelebt hat!“ Oder an anderer Stelle: „[Jesus:] Lebt so aufrichtig, wie ich gelebt habe.“

Leider ist das nicht das Evangelium der Bibel. Es ist ein anderes Evangelium, ĂŒberhaupt keine gute Nachricht. Hebel prĂ€sentiert uns hier Gesetz, nicht Evangelium, forderndes Wort, nicht befreiendes Wort. Im Heidelberger Katechismus ist er gleichsam in den dritten Teil gesprungen – „Von der Dankbarkeit“, in den Teil ĂŒber das christliche Leben der Heiligung. NatĂŒrlich sollen wir Jesus immer Ă€hnlicher und damit auch immer menschlicher werden. Aber noch einmal: das ist nicht das Evangelium, das ist nicht die Kernzusage, die Gott uns macht. All dies ist Frucht des Evangeliums, natĂŒrliche und notwendige Folge, Ziel der Guten Nachricht.

Hier schließt sich noch einmal ein Kreis. Ist der Mensch nach dem Fall nicht tief gefallen und gĂ€nzlich verdorben, so kann er oder sie natĂŒrlich auch so leben, wie Jesus gelebt hat. Er oder sie hat dann die natĂŒrlichen FĂ€higkeiten, diesem Gebot (mit etwas göttlicher Assistenz natĂŒrlich) auch tatsĂ€chlich zu folgen. Reformatorische Theologie hat dem schon immer vehement widersprochen: Nein, das kann der Mensch eben nicht, weil unser Wille im Bösen gefangen ist. „Kleinmacherei!“ schalt es einem da entgegen. Sei‘s drum. Manche Wahrheiten werden nicht deswegen falsch, weil sie demĂŒtigend sind.

PS: Ein persönliches Nachwort. Torsten Hebel ist fĂŒr mich eigentlich nicht „Hebel“, sondern „Torsten“. Wir gehörten beide zum Studentenjahrgang 1990 des Neues Leben Seminars (nun TSR), drĂŒckten beide oft genug nebeneinander die dortige Schulbank und haben uns damals recht gut verstanden und nicht wenig Zeit zusammen verbracht. In den letzten gut 20 Jahren haben wir uns ziemlich aus den Augen verloren. Aus der Ferne beobachtet scheint mir doch, dass Torsten seinen beruflichen Weg gefunden hat. Bei dem nun ja auch in die breite Öffentlichkeit getragenen Glaubensweg hĂ€tte ich große Anfragen. Sicher muss jeder persönlich seinen eigenen ‘theologischen’ Weg finden und gehen, aber die intensive mediale PrĂ€senz hat eben auch wegweisenden Charakter fĂŒr andere. Und ich glaube nicht, dass diese Richtungsangabe wahr und hilfreich ist. In den obigen SĂ€tzen habe ich einen sachlichen und eher unpersönlichen Stil gewĂ€hlt, da Torstens Aussagen ja auch auf recht breiter Front in den Medien kursieren. Öffentliche Äußerungen sollten inhaltlich auch öffentlich erörtert werden.

Ich habe viel Sympathie fĂŒr all diejenigen, die sich aus beengten, unterdrĂŒckenden, kleinmachenden Gemeindetraditionen befreien mussten. Mir, einem in der ‘normalen’ Landeskirche und in einem ‘weiten’ und vorbildlichen pietistischen Elternhaus Großgewordenen, fehlt diese Erfahrung. Freischwimmen ist eine gute Sache. Nur hĂ€ngt viel vom richtigen Bademeister ab. Bei Torsten ist dieser Bademeister im wahrsten Sinne des Wortes womöglich mit der Hand zu greifen. Vor nun bald 25 Jahren standen auf seinem Regal die Completed Works von Francis Schaeffer, die ich mir zuvor auch schon zulegt hatte. Vielleicht stehen sie da immer noch? Schaeffers L‘Abri fellowship weist gerade fĂŒr all diejenigen, die KreativitĂ€t und Kultur hochschĂ€tzen und die unter der kulturellen Enge vieler Kirchen leiden, einen anderen Weg. (Mich haben Schaeffers Werke zur Theologie gefĂŒhrt und ließen mich meine bisherigen Studien in Kunst und Design mit dem christlichen Glauben in Einklang bringen.) Einen Weg nĂ€mlich, der aus einer falschen Enge herausfĂŒhrt und mit einer hohen Sicht der biblischen AutoritĂ€t und mit einer hohen Sicht der Wahrheit („true truth“ bei Schaeffer) vereinbar ist. Obwohl ich Freischwimmer noch nicht gelesen habe, befĂŒrchte ich, dass die dortigen GesprĂ€chspartner ihn wohl eher in eine andere Richtung gewiesen haben.

Holger Lahayne, 7.1.2016 (www.lahayne.lt)

Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 13. Januar 2016 um 9:16 und abgelegt unter Gemeinde, Kirche, Theologie.