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Ein neues normatives Familienmodell als „normative Orientierung“

Montag 24. Februar 2014 von Prof. Dr. Thomas Schirrmacher


Prof. Dr. Thomas Schirrmacher

Eine soziologische und theologische Kritik des Familienpapiers der EKD

Die Diskussionen um die EKD-Orientierungshilfe brechen nicht ab. Nachdem bereits vielfach die theologischen UnzulĂ€nglichkeiten des Familienpapiers benannt worden sind, zeigt dieser Beitrag auf, dass das GesprĂ€ch vor allem auch ĂŒber die politischen und soziologischen Themenfelder selbst gefĂŒhrt werden muss. Viele Kritiker haben der Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland (ab jetzt: OH)(1) vor allem vorgeworfen, dass sie Ethik in die Beliebigkeit des Zeitgeistes stelle und eigentlich keine Werte vertrete.

Im ersten Moment sieht es tatsĂ€chlich so aus, als wenn Familie soziologisch und theologisch neu gedacht wird, da sich die Gesellschaft verĂ€ndert, etwa wenn es heißt: „Angesichts des tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandels ist auch die Kirche aufgefordert, Familie neu zu denken und die neue Vielfalt von privaten Lebensformen unvoreingenommen anzuerkennen und zu unterstĂŒtzen.“ (A132).

Trotzdem wĂ€re es ein MissverstĂ€ndnis, dass damit Ethik völlig beliebig wĂŒrde und keine Werte mehr vertreten wĂŒrden. Die OH und mit ihr der Rat der EKD erheben nach wie vor einen sehr traditionellen Anspruch der Kirche, HĂŒterin der Moral zu sein. Denn die neue Sicht der OH ist am Ende doch fĂŒr alle verbindlich: „Diese Anerkennung ist nicht lediglich als Anpassung an neue Familienwirklichkeiten zu verstehen, sondern als eine normative Orientierung.“ (A132, Hervorhebung hinzugefĂŒgt), denn es geht um „ein neues normatives Familienmodell“ (A120, dito)! Hier wird also bewusst eine neue, normative Ethik verkĂŒndigt. Sie ist ebenso normativ wie die alte, aber eben inhaltlich neu.

Das macht unseres Erachtens die Besonderheit der OH aus. Denn dadurch werden nicht einfach Dinge zur Diskussion gestellt, Anfragen formuliert oder eine politische Meinungsdiskussion ausgetragen, sondern es wird eine neue Ethik normativ formuliert. Da die OH ĂŒberwiegend die Tagespolitik kommentiert und oft sehr junge und vermutlich nicht sehr langlebige Maßnahmen beurteilt, werden also in der OH immer wieder tagesaktuelle, meist parteipolitische Positionen in einen normativen Rang erhoben.

Zur politischen Verortung

Die meisten Mitglieder und WĂ€hler der CDU oder der CSU, die einer Gliedkirche der EKD angehören, dĂŒrften enttĂ€uscht sein, dass ihre Auffassungen und Interessen in der OH meist noch nicht einmal erwĂ€hnt werden (und gegebenenfalls dann erst abgelehnt werden). Umgekehrt gilt auch: Wer die Ergebnisse der OH ihrem Selbstanspruch gemĂ€ĂŸ „normativ“ (A120, A132) findet, kann eigentlich derzeit weder CDU oder CSU wĂ€hlen.

Es findet sich zudem in der OH kein Beispiel dafĂŒr, dass sie eine Forderung aufstellt, die sich nur in den Parteiprogrammen der CDU oder der CSU findet. (Die einzige Ausnahme ist, dass die OH nicht fordert, die Lebenspartnerschaft in ‚Ehe‘ umzubenennen.)

Das ist schon ein erstaunlicher Befund, da die OH in ihrem Text ĂŒberwiegend Fragen diskutiert, die in den Bereich der Parteiprogramme fallen und Dinge betreffen, die nur die Bundestagsmehrheit umsetzen kann. Die sĂ€kularen Medien haben die OH sehr deutlich vor allem beim Parteiprogramm von BĂŒndnis 90/Die GrĂŒnen verortet. FĂŒr das politische Magazin Cicero macht sich der Protestantismus hier „zum JĂŒnger eines grĂŒn-besserwisserischen Zeitgeistes“(2). Es wird gefragt: „WĂ€re es nicht ehrlicher, sonntags das Parteiprogramm von ‚BĂŒndnis 90/Die GrĂŒnen‘ zu verlesen, die Kollekte der 15-Prozent-Partei zu spenden 
?“

Nun sind tatsĂ€chlich alle Forderungen mit dem Parteiprogramm von BĂŒndnis 90/ Die GrĂŒnen praktisch identisch, nur der (teilweise) religiöse Unterton wird nicht allen ‚GrĂŒnen‘ gefallen. Dennoch stimmen die Forderungen auch mit dem Programm der Partei Die Linken ĂŒberein, wenn man dort auch noch mehr Abstand zum religiösen Unterton hĂ€lt.

Sicher gibt es zu jedem einzelnen Thema der OH auch eine Diskussion innerhalb der CDU und der CSU. Ehegattensplitting oder Betreuungsgeld sind beispielsweise weder automatische Forderungen jedes CDU- oder CSU-Mitglieds. Trotzdem soll hier einmal der aktuelle Istzustand der CDU und der CSU zur Zeit des Erscheinens der OH, also des 2. Kabinetts Merkel, mit der OH vergleichen werden.

Die ErklĂ€rung dafĂŒr, dass „Alleinerziehende, junge und kinderreiche Familien und Familien mit Migrationshintergrund“ ein besonders hohes Armutsrisiko haben (A107), wird ganz im Sinne der Parteiprogramme von SPD und BĂŒndnis 90/Die GrĂŒnen nur mit VerĂ€nderungen im BeschĂ€ftigungssystem und der Senkung der Sozialleistungen erklĂ€rt (A108-109), als Lösung wird der Mindestlohn gesehen (A109). Wie der Mindestlohn fĂŒr Familien mit Armutsrisiko „hĂ€ufig ein Weg aus der Armut“ sein soll (A109), etwa wenn Arbeitslosigkeit herrscht oder eine fĂŒnfköpfige Familie von Hartz IV lebt, wird nicht erklĂ€rt. Das komplexe Problem, welche Familien in das Armutsrisiko abrutschen und was dagegen grundlegend getan werden kann, wird auf parteipolitische Vorgaben reduziert.

Das geltende Ehegattensplitting wird abgelehnt, da es als Symbol der Bevorzugung der Ehe gilt: „
 die derzeitige steuerliche Entlastung des Ehegattensplittings, das aus sozial- und gleichstellungspolitischen GrĂŒnden seit Langem grundsĂ€tzlich in Frage gestellt und auch von der OECD kritisiert wird.“ (A116). Andere Auffassungen kommen nicht zu Wort.

Die OH ist auch gegen das „Betreuungsgeld“ (A116) und folgt dabei dem wichtigsten ethischen Prinzip der OH, wenn sie kritisiert, dass das Betreuungsgeld „die ErwerbstĂ€tigkeit von Eltern zu verringern statt zu erhöhen“ droht (A116). Damit wird die Mutter lediglich als wertvoll fĂŒr den Arbeitsmarkt und fĂŒr Gleichstellungspolitik gesehen, ihre TĂ€tigkeit der Betreuung selbst wird – zumindest hier – aber nicht als echte, nur unbezahlte Arbeit gewertet, davon, dass die moderne Mutter das selbst entscheiden kann, einmal gar nicht zu sprechen. Dass die Betreuung zugunsten der Kinder geschieht und die Betreuung auch vom Vater wahrgenommen werden kann, wird mit der Behauptung widerlegt, dass auch „die Bildungsbeteiligung von Kindern“ (A116) verringert werde, was erstens abzuwarten bleibt, da es wesentlich daran hĂ€ngen wird, wer das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen wird, zweitens nur fĂŒr bildungsferne (OH: „bildungsungewohnte“) Familien gilt und drittens nun neben der Mutter auch noch das Kind in das Raster von Bildung und zukĂŒnftiger Platzierung im Arbeitsmarkt vereinnahmt.

Nirgends werden etwa Firmen aufgefordert, ArbeitsplĂ€tze fĂŒr TeilerwerbstĂ€tigkeit oder auch Arbeit von zu Hause flexibler zu gestalten, um die Wahlfreiheit von MĂŒttern und VĂ€tern zu erhöhen, wie dies etwa das Familienministerium im 2. Kabinett Merkel tat. Das Konzept der CDU und CSU, dass Eltern in die Lage versetzt werden sollen, selbst zu entscheiden, wie sie Beruf und Familie vereinbaren und wie sie fĂŒr die Betreuung der Kinder sorgen, erkennbar ein Feindbild der OH.

„Ganztagsschulen“ (A109, A138, A139) ebenso wie Ganztageskinderbetreuung ab dem 2. Geburtstag sind fĂŒr die OH vielmehr verabsolutierend eine „grundlegende Bedingung fĂŒr das Gelingen von Familie“ (A138), Alternativen werden nicht einmal erwĂ€hnt.

Jedes Mal wird dabei so getan, als wenn alle Experten und VerbĂ€nde die genannten Maßnahmen ablehnen bzw. die Sicht der OH befĂŒrworten, die jeweilige Fachdiskussion dazu wird ausgeblendet. Das erweckt den Eindruck, als wĂŒrden politische Vertreter anderer Positionen bewusst ĂŒber Fachwissen und Offensichtliches hinweggehen, um die alte Geschlechterhierarchie aufrechtzuerhalten.

Der VollstĂ€ndigkeit halber sei auch noch erwĂ€hnt, dass die OH etwas nicht erwĂ€hnt, was im Parteiprogramm von BĂŒndnis 90/Die GrĂŒnen zur Frage der HomosexualitĂ€t zwingend hinzugehört. Das KĂŒrzel ‚LGBT‘ verknĂŒpft die Gleichstellung von Lesben und mĂ€nnlichen Homosexuellen (‚Gay‘) mit der Gleichstellung von Bisexuellen, die heterosexuelle und homosexuelle SexualitĂ€t zugleich praktizieren, und der Transgender, fĂŒr die das ‚B‘ und das ‚T‘ stehen. Die OH erwĂ€hnt ‚B‘ und ‚T‘ nicht.

Zu guter Letzt sei festgestellt: Stark an Parteiprogramme erinnert der Umstand, dass finanzielle Belange sehr stark im Vordergrund stehen und Familienpolitik vor allem als Umverteilung von Geldern und Sozialpolitik verstanden wird, das private und emotionale Binnenleben der Familien dagegen in der Hintergrund rĂŒckt. Das ist umso erstaunlicher, als die OH selbst erklĂ€rt, es sei das Besondere der christlichen Erziehung, deutlich zu machen, dass materielle Dinge nicht alles seien (A73, A89).

Die DDR als Vorbild?

Am deutlichsten wird die politische, ja parteipolitische Einordnung der OH an ihren Aussagen ĂŒber die DDR. ZunĂ€chst einmal vorweg: In der OH wird zur DDR in der Regel die Rechtslage behandelt, als wĂ€re sie die Ist-Lage gewesen. Irgendwelche Daten aus Erhebungen oder Lebenserinnerungen, wie es sich tatsĂ€chlich verhalten hat, fehlen, die DDR-amtlichen Statistiken werden unbesehen ĂŒbernommen. Die DDR erscheint als Ort der Gleichberechtigung durch zwei in Vollzeit erwerbstĂ€tige Eltern mit frĂŒh einsetzender ganztĂ€giger Kinderbetreuung. Deswegen heißt es: „Die Gleichberechtigung der Frau galt deshalb den Beteiligten als ‚eine der grĂ¶ĂŸten Errungenschaften‘ der DDR und wurde durch materielle und soziale Hilfen fĂŒr MĂŒtter und Kinder sowie seit den 1970er Jahren durch ein ganzes BĂŒndel sozialpolitischer Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestĂŒtzt.“ (A21). Dass das alle „Beteiligten“, also alle frĂŒheren DDR-BĂŒrger, so beschreiben, ist ebenso undifferenziert wie die Aussage selbst.

AuffĂ€llig hĂ€ufig wird die DDR als positives GegenĂŒber zu Westdeutschland dargestellt (z. B. S12 = S31, A20, A21, A22, A60, A61). Wenn es etwa heißt, „dass der westdeutsche Sozialstaat mit einem tradierten Familienbild eine nachhaltige Familienpolitik versĂ€umt hat“ (S18 = S125), so findet sich eine entsprechend negative Aussage ĂŒber die DDR-Familienpolitik nirgends.

Kritisiert wird an der DDR nur Folgendes: 1. dass (auch hier) die Hauptlast der Hausarbeit weiter bei der Frau lag (S31, A21/S40), 2. dass Gewalt gegen Frauen tabuisiert war (A96) und 3. einmal kurz die Unfreiheit im Land: „Diesen sozialen ‚Errungenschaften‘ stand allerdings die  gravierende EinschrĂ€nkung politischer und ziviler Freiheitsrechte gegenĂŒber.“ (A21/S40).

Übrigens wird auch nicht thematisiert, dass die Familienpolitik der DDR das vermutlich erfolgreichste Werkzeug gegen die Kirchen war und zur Entfremdung ganzer Generationen von Gott und Kirche gefĂŒhrt hat. Auch die Frage der erwarteten Mitgliedschaft der Kinder und Jugendlichen in Parteiorganisationen der SED (Pioniere, FDJ) oder die Problematik des VerhĂ€ltnisses von Jugendweihe und Konfirmation ist der OH keine Zeile wert.

WÀre die DDR also ein freies Land gewesen und hÀtten dort die MÀnner mehr Hausarbeit geleistet, hÀtte sie genau dem Wunschbild der AutorInnen der OH entsprochen.

Erziehung weiterreichen?

Erziehung wird in der OH vorrangig in Kitas und Schulen geleistet, die elterliche Erziehungsarbeit wird immer sehr schnell damit verbunden, dass die soziale Stellung der Eltern ĂŒber die Zukunft der Kinder bestimmt. Ohne jede EinschrĂ€nkung wird einfach festgestellt: „Die gesellschaftlichen Debatten ĂŒber Bildung und Erziehung verĂ€ndern sich: Galt bis vor Kurzem in Westdeutschland noch die Devise, dass Erziehung in der Familie stattfinde, der Kindergarten fĂŒr ergĂ€nzende Betreuung zustĂ€ndig sei und mit dem Schuleintritt der Bildungsweg beginne, so werden diese Zuordnungen heute grundlegend in Frage gestellt.“ (S14 = S87).

So schnell geht das und die Kirche schaut zu, ja fördert die Entwicklung weg von der Bindung an die Eltern hin zur Fremdbetreuung unter Oberhoheit des Staates bzw. außerfamiliĂ€rer Institutionen. Nirgends wird auf die Gefahr der Gleichschaltung und das Aussterben von Vielfalt und UnabhĂ€ngigkeit hingewiesen, wenn der Staat und die BĂŒrokratie mehr und mehr die Kontrolle ĂŒber die Kinder ĂŒbernehmen, zumal Eltern zugleich viel Einfluss an Medien und Peer-Groups abgeben mĂŒssen.

Was hat die EKD zum mĂŒhsamen Einsatz der Eltern fĂŒr die Zukunft der Kinder zu sagen? Vor allem Negatives: „Die Voraussetzungen fĂŒr Bildungs- und Zukunftschancen von Kindern werden ganz ĂŒberwiegend im Elternhaus gelegt, sie sind abhĂ€ngig von Ressourcen, kulturellen Überzeugungen und den Erziehungsstilen der Eltern. Dass Erziehung immer auch soziale Platzierung des Nachwuchses ist, wurde in den international vergleichenden Schulleistungstests (PISA) offenbar 
“ (A76). Eltern mĂŒssten eigentlich stĂ€ndig ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie dafĂŒr sorgen, dass ihre Kinder es zu etwas bringen (z. B. S15 = S87f ). Am besten geben sie ihre Kinder so frĂŒh wie möglich aus dem Haus, damit sie sich spĂ€ter nicht den Vorwurf machen mĂŒssen, aus ihrem Kind wĂ€re nur etwas wegen des sozialen Status des Elternhauses geworden!

Ganztagsbetreuung als „grundlegende Bedingung fĂŒr das Gelingen von Familie“?

Der flĂ€chendeckende „Ausbau von Tageseinrichtungen und Ganztagsschulen 
“ (A139) gilt der OH als SelbstverstĂ€ndlichkeit, weil das Gelingen der Familie ohne sie undenkbar geworden ist: „Eine grundlegende Bedingung fĂŒr das Gelingen von Familie ist der konsequente und qualifizierte Ausbau einer familienunterstĂŒtzenden Infrastruktur von den Krippen bis zu Ganztagsschulen“ (A138). Damit wird allen Familien, die darauf verzichten, von vornherein das „Gelingen“ abgesprochen, und damit ĂŒberhaupt Eltern das Gelingen ihrer Erziehung abgesprochen. Die RealitĂ€t spricht eine andere Sprache und beweist nicht, dass etwa das Betreuen der Kinder zu Hause automatisch die VernachlĂ€ssigungsrate erhöhen oder die Bildungschancen automatisch verringern wĂŒrde.

Die OH schreibt: „Der Ort fĂŒr eigenstĂ€ndige Gruppenerfahrungen ist heute die Kinderkrippe und die KindertagesstĂ€tte. Bei den ĂŒber DreijĂ€hrigen besuchen 95 % aller Kinder eine Betreuungseinrichtung, bei den ZweijĂ€hrigen ist es mehr als ein Drittel mit steigender Tendenz. … Inzwischen ist unstrittig, dass der Besuch einer KindertagesstĂ€tte und das Zusammensein mit Gleichaltrigen bzw. in jahrgangsgemischten Gruppen der Entwicklung förderlich sind. Dass dies auch fĂŒr JĂŒngere, unter DreijĂ€hrige gilt, ist … noch nicht in gleicher Weise akzeptiert. Studien belegen jedoch, dass auch unter dreijĂ€hrige Kinder – unter der Voraussetzung qualitĂ€tsvoller Einrichtungen – von außerhĂ€uslichen Bildungs- und Erziehungsangeboten profitieren, umso mehr, wenn sie aus bildungsbenachteiligten Familien kommen“ (A74).

„Unstrittig“ ist hier gar nichts, brauchbare Studien gibt es kaum, der Wunsch ist hier Vater des Gedankens. Und wo liegt die GefĂ€hrdung der Gesellschaft, wenn eine Familie ihre zweijĂ€hrigen Kinder nicht in eine Kita schicken, sofern sie nicht vernachlĂ€ssigt werden?

Und mĂŒsste diese GefĂ€hrdung dann nicht im Einzelfall bewiesen werden? Und mĂŒsste eine Kirche, die lĂ€ngst Position bezogen hat, nicht wenigstens die damit verbundene ethische Problematik diskutieren und die Pflichtenkollision aufzeigen? Gilt Artikel 6 des von der OH oft zitierten Grundgesetzes nicht mehr, dass es „das natĂŒrliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ sei, ihre Kinder zu erziehen?

Wenn Kinder ab dem 2. Lebensjahr ganztĂ€gig Betreuungseinrichtungen besuchen und in Ganztagsschulen gehen, wird das Menschenrecht der Eltern und der Kinder, dass die Eltern die religiöse Erziehung der Kinder selbst bestimmen können (Allgemeine MenschenrechtserklĂ€rung §18, EuropĂ€ische Menschenrechtskonvention, Zusatzprotokoll Art. 2 usw.), kaum noch umzusetzen sein. Dies ist fĂŒr eine Religionsgemeinschaft wie der EKD ebenso eine zentrale Frage wie fĂŒr die Zukunft der Familie ĂŒberhaupt. Das Menschenrecht wird aber von der OH nicht erwĂ€hnt, geschweige denn diskutiert, was man zu seinem Schutz unternehmen sollte. Zum „Erziehungsrecht der Eltern“ gehört zwar „auch die religiöse Erziehung“ (A140), aber dass das Letztere eigens als Menschenrecht im Rahmen der Religionsfreiheit verankert ist, fehlt.

Feindbild Hausfrauenehe – kein Platz fĂŒr Vielfalt

Ein moralischer Zeigefinger durchzieht die ganze Studie besonders: Die ‚Hausfrauenehe‘ – wozu auch TeilzeiterwerbstĂ€tigkeit der Mutter zĂ€hlt – war und ist falsch und ist nur in der Form der UnterdrĂŒckung der Frau denkbar. Das beginnt schon damit, dass sie schon fĂŒr die Nachkriegszeit als „nicht mehr in die prosperierende Industriegesellschaft“ passend dargestellt wird. Vielmehr habe damals die „kollektive Sehnsucht nach NormalitĂ€t und ‚heiler Welt‘ 
 Mythen, Ideale und wirkmĂ€chtige Rollenbilder 
 aufleben lassen“ (A22). Dass die Sehnsucht nach „heiler Welt“ damals stĂ€rker gewesen sei und sich in der ‚Hausfrauenehe‘ niedergeschlagen habe, wird nicht wissenschaftlich belegt, sondern einfach unterstellt.

Die ‚Hausfrauenehe‘ wird aus dem in der OH immer wieder beschworenen bunten Strauß der vielen Möglichkeiten des Zusammenlebens offensichtlich ausgenommen, obwohl sie ja bis heute nicht nur dort vorkommt, wo Frauen in AbhĂ€ngigkeit keine Wahl haben, sondern sehr wohl auch dort, wo sich Erwachsene im EinverstĂ€ndnis darauf einigen, oft auch nur zeitweise, womit die „Hausfrauenehe“ eben einfach zur gesellschaftlichen RealitĂ€t gehört, die ansonsten immer wieder zum Maßstab gemacht wird. Was sollte daran immer und grundsĂ€tzlich verwerflich sein, wenn man jede andere Form des Zusammenlebens auch gut findet? Warum wird das Innenleben von ‚Hausfrauenehen‘ und TeilerwerbstĂ€tigkeit von MĂŒttern stĂ€rker problematisiert, als bei Alleinerziehenden, Patchworkfamilien und Lebenspartnerschaften? Hat nicht jede Familienform ihre eigenen typischen Probleme? Schafft nicht jede auch wieder andere GefĂ€hrdungen der AbhĂ€ngigkeit und des MachtgefĂ€lles. Gibt es Gewalt (leider!) nicht in jeder Form des Zusammenlebens?

Wenn die Beziehung, in der beide gleich viel arbeiten und im Haushalt helfen, als Ideal gezeichnet wird und die „partnerschaftliche Familie als Modell der Zukunft 
“ (A137) gilt, gilt dann umgekehrt, dass die Hausfrauenehe oder die Hausmannehe nicht partnerschaftlich sein können? Und wenn es beim Modell der „partnerschaftlichen Familie“ darum geht, „Fairness innerhalb der Familie einen entscheidenden Wert beizumessen“ (A52), fragt man sich: Ist etwa jede traditionelle Ehe und Familie von Unfairness geprĂ€gt und jede Beziehung zweier ErwerbstĂ€tiger von Fairness? Ist das nicht eine pauschalisierende und vorurteilsbeladene Unterstellung ohne Kenntnis der jeweils konkreten Situation? Auch in LĂ€ndern mit höherer FrauenerwerbstĂ€tigkeit wie Schweden oder den USA entscheiden sich immer wieder Millionen von Paaren bewusst fĂŒr die Betreuung der Kinder durch die nicht oder nur teilweise erwerbstĂ€tige Mutter – ohne Zwang und ohne Hierarchie – ist das dann immer falsch?

Ökumene – Andersdenkende in der Kirche – HomosexualitĂ€t

Das ökumenische GesprĂ€ch wird ĂŒberhaupt nicht gefĂŒhrt, weder freundlich noch abgrenzend. Andere Kirchen als die EKD und die katholische Kirche kommen sowieso nicht vor. Das absolute Scheidungsverbot der römisch-katholischen Lehre, der Zölibat, die Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs und der kĂŒnstlichen EmpfĂ€ngnisverhĂŒtung und vieles mehr werden nicht einmal erwĂ€hnt. Es wird nur kurz abgelehnt, dass die Ehe ein „Sakrament“ ist (A48).

Auch wenn man einige der katholischen Positionen nicht teilt: Darf eine evangelische OH zur Familie so vollstĂ€ndig ĂŒbergehen, was der ebenso große andere Teil der Christenheit in Deutschland lehrt? Auch etwa orthodoxe, freikirchliche oder innerkirchlich-evangelikale Positionen werden ĂŒbergangen. Gibt es von Christen außerhalb der EKD und von andersdenkenden Christen innerhalb der EKD gar nichts mehr zu lernen?

In den christlichen Kirchen weltweit hat die Frage, wie mit HomosexualitĂ€t umgegangen werden soll, ob Homosexuelle ordiniert werden können, ob sie zu Bischöfen ordiniert werden können und wie die Kirchen generell zu Lebenspartnerschaftsgesetzen oder zur Homosexuellenehe stehen sollen, eine breite und kontroverse Diskussion ausgelöst . Kirchenspaltungen historischer Kirchen wie in der anglikanischen Kirche sind im Gange, bodenstĂ€ndige ökumenische Beziehungen brechen auseinander, lange hat kein Einzelthema die Weltkirche so erschĂŒttert. GĂ€be es diese Thematik nicht, ginge es den ökumenischen Beziehungen auf globaler Ebene besser denn je zuvor. Der Ökumenische Rat der Kirchen etwa verzichtet deswegen völlig auf Stellungnahmen zum Thema, weil sonst ein ökumenischer Zusammenhalt kaum noch denkbar wĂ€re. Die OH geht auf diese ganze Problematik nicht ein.

Die OH bezieht hier ohne Wenn und Aber Partei und geht in ihren Forderungen auch weit ĂŒber den Istzustand in Deutschland hinaus, auch ĂŒber die Position zahlreicher Gliedkirchen der EKD, die sĂ€mtliche zwar homosexuelle PfarrerInnen zulassen, aber noch lĂ€ngst nicht fĂŒr jede Forderung der OH offen sind, vor allem nicht in Bezug auf die lebenslĂ€ngliche Ehe, wie auch der Protest einzelner aktiver Bischöfe deutlich gemacht hat.

Aber selbst wenn man das alles aus Überzeugung tut: WĂ€re es nicht am Platz gewesen, wenigstens ein Wort darĂŒber zu verlieren, wie es denn nach dieser Positionsbestimmung mit der Weltkirche, mit der Ökumene, mit innerkirchlichen Auseinandersetzungen weitergehen soll? Und hĂ€tte man nicht soviel Umsicht aufbringen mĂŒssen, die Diskussion fair nachzuzeichnen und die Argumente Andersdenkender darzustellen und dann zu widerlegen?

Ausgeblendete SexualitÀt

Ohne SexualitÀt gÀbe es keine Familie. Trotzdem kommt SexualitÀt in der OH praktisch nicht oder nur beilÀufig vor, es gibt keinen eigenen Abschnitt dazu, als hÀtten Kinder, Ehe und Patchworkfamilie, Lebenspartnerschaft und Scheidung nichts mit SexualitÀt zu tun. SexualitÀt erscheint als sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch (S17 = S107, A32, A96, A97, A100, A102, A103, A146), als Bestandteil von Begriffen wie HomosexualitÀt oder sexuelle Orientierung (A8, A28, A29, A30, A51, A52, A53, A127, A133).

Lediglich beilĂ€ufig wird das „GlĂŒck sexueller Begegnung“ (A41, A47), und „erfĂŒllte SexualitĂ€t“ (A57, Ă€hnlich A52) erwĂ€hnt. Weder wird von den meisten positiven Dingen rund um SexualitĂ€t gesprochen, wie z. B. der EmotionalitĂ€t oder Zeugung, noch von negativen Dingen wie ‚Untreue‘ bzw. ‚Ehebruch‘, die immer noch der hĂ€ufigste Scheidungsgrund sind, aber auch nicht von ersterbender SexualitĂ€t in Beziehungen, von Sexualerziehung oder von Sexsucht.

Wenn SexualitĂ€t positiv vorkommt, dann sofort mit einer Spitze gegen die Ehe: „Liebe gilt als die intensivste persönliche und exklusive Beziehung zwischen zwei Menschen, und sie wird gerade in einer erfĂŒllten sexuellen und erotischen Beziehung auch so erfahren. Das kann sich mit der Rechtsgestalt von Ehe und Familie reiben“ (A52).

LebenslÀngliche Treue und sexuelle ExklusivitÀt

Der Gedanke der ExklusivitĂ€t sexueller Beziehungen fehlt völlig, fĂŒr die traditionelle Ehe ebenso wie fĂŒr die ‚wilde‘ Ehe, Patchworkfamilien und homosexuelle Lebenspartnerschaften. Hier fĂ€llt die Kirche moralisch weit hinter das zurĂŒck, was die große Mehrheit unserer Gesellschaft nach wie vor fĂŒr richtig hĂ€lt, wenn auch meist in Form der sogenannten ‚seriellen Monogamie‘ (‚immer nur ein paar Partner zu einer Zeit‘).

Kurzum: Nirgends stellt die OH die ethische Forderung wenigstens serieller sexueller Treue auf und noch viel weniger bezeichnet sie die lebenslÀngliche sexuelle Treue als erstrebenswertes Ziel oder wenigstens schöne Erfahrung. Die sexuelle Treue ist als ethischer Wert abhandengekommen. Dies nicht, weil sie als Wert in der Gesellschaft abhandengekommen ist, wenigstens in der seriellen Form, sondern weil sich die AutorInnen der OH offenbar bewusst dagegen entschieden haben.

Verharmlosung von Scheitern

Das Scheitern von ehelichen und familiĂ€ren Beziehungen wird verharmlost und mehr wie ein Naturgesetz beschrieben, etwa wenn es heißt : „Familie bedeutet höchstes GlĂŒck, aber auch die  Möglichkeit des Scheiterns und Neubeginns und den Wandel von Beziehungen.“ (A1/S21). Wenn „
 im Scheidungsfall beide Eltern das Sorgerecht behalten 
, so bedeuten diese VerĂ€nderungen im Familienleben auch Verunsicherungen insbesondere fĂŒr Kinder“ (A8). „Verunsicherungen“? Was fĂŒr ein Euphemismus, wenn er die vielen Traumata und emotionalen Katastrophen mit erfassen soll! Haben die Autoren noch keine langjĂ€hrige Auseinandersetzung um die Kinder nach Scheidungen aus nĂ€chster NĂ€he miterlebt? Wissen sie nicht, dass es fĂŒr Kinder lĂ€ngst nicht immer einfach ist, in einer Patchworkfamilie plötzlich mit völlig anderen Kindern des neuen Partners ihres Elternteils zusammenleben zu mĂŒssen?

Kirche hat die Aufgabe, „
 andere an Gerechtigkeit orientierte Familienkonstellationen sowie das fĂŒrsorgliche Miteinander von Familien und Partnerschaften – selbst in ihrem Scheitern – zu stĂ€rken, aufzufangen und in den kirchlichen Segen einzuschließen“ (A134). „Die Kirchen unterstĂŒtzen Familien in ihrem Wunsch nach gelingender Gemeinschaft, sie begleiten sie aber auch im Scheitern und bei NeuaufbrĂŒchen.“ (A5). Hier steht neben dem „Scheitern“ der Neuaufbruch, ja ‚Aufbruch‘, ‚Neuaufbruch‘, ‚VerĂ€nderung‘ sind beliebte Chiffren der OH fĂŒr Familiendramen und reden massive Probleme schön.

Auf Trennung und Scheidung selbst wird eigentlich nirgends nĂ€her eingegangen, sie erscheinen nur in solchen AufzĂ€hlungen und HalbsĂ€tzen und werden einfach als Fakt beschrieben. Das Verharmlosen von Scheitern und der dadurch hervorgerufenen Traumata setzt sich theologisch in der Abwesenheit von Schuld, Buße, Umkehr oder SĂŒndenbekenntnis fort.

Einlinige Argumentationsweise

Hinter der hĂ€ufigen Nennung von „Autonomie“ und „Vielfalt“ steht ein sehr einliniges, einseitiges normatives Bild der OH. Ich habe es durch erneutes Lesen der ErklĂ€rung nur darauf hin noch einmal erhĂ€rtet: Die OH kennt praktisch kein AbwĂ€gen, keinen Kompromiss, keinen Ausgleich von Interessen, kein sowohl als auch. Argumente stellt sie kaum Pro und Contra vor, um dann einen Kompromiss zu finden oder eine Lösung, die beiden oder mehreren Anliegen gerecht wird. Es gilt beispielsweise nur Kita plus Ganztagsschule, nicht aber ein Ausgleich zwischen Direktbetreuung durch die Eltern und gesellschaftlicher Betreuung. Es scheint keine Situation zu geben, in der die persönliche Betreuung von Kleinkindern durch die Eltern unterstĂŒtzenswert wĂ€re. Es gilt etwa VollerwerbstĂ€tigkeit gegen Hausfrau, TeilerwerbstĂ€tigkeit gilt ausdrĂŒcklich nicht als Lösung fĂŒr MĂŒtter (S15 = S77, A62).

„Die Wissenschaft hat festgestellt 
“

Die OH durchzieht der Duktus, dass das jeweils Vorgetragene die Sicht der Wissenschaft sei oder von bedeutenden Organisationen vertreten werde. Weder im soziologischen noch im theologischen Teil wird angedeutet, dass es zu allen angesprochenen Sachfragen eine große Bandbreite an wissenschaftlich begrĂŒndeten Auffassungen gibt. Immer wieder heißt es, dass viele Studien dieses oder jenes Ergebnis erbracht hĂ€tten. Formulierungen wie „Als GrĂŒnde dafĂŒr gelten 
“ (A3) oder „heute wissen wir“ (A43) finden sich stĂ€ndig, auch bei sehr umstrittenen Fragen. Dabei wird eine Eindeutigkeit gezeichnet, die nicht gegeben ist.

Ein Beispiel: Man ist gegen das Ehegattensplitting, „das aus sozial- und gleichstellungspolitischen GrĂŒnden seit Langem grundsĂ€tzlich in Frage gestellt und auch von der OECD kritisiert wird.“ (A116). Es gibt gute GrĂŒnde gegen und fĂŒr das Ehegattensplitting. Die OH aber erweckt den Eindruck, als sei die moralische und wissenschaftliche Bewertung eindeutig und seien die GrĂŒnde fĂŒr das Festhalten am Ehegattensplitting ganz andere, nĂ€mlich das bewusste Festhalten an der Unterordnung der Ehefrau. Dass das Ehegattensplitting historisch ein Fehler war, stĂŒnde sowieso fest. Das kann man parteipolitisch so sehen. Darf man es aber als Kirche auch mit der ganzen Wucht der Bezugnahme auf Wissenschaft und Theologie zur einzig gĂŒltigen Sicht erheben?

Das ungeklÀrte VerhÀltnis von Soziologie und Theologie: Ethik des Faktischen?

Die Handreichung der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema HomosexualitĂ€t, die diese nicht ablehnt, sagte 1997 zutreffend, was die OH nun völlig ĂŒber Bord geworfen hat: „Humanwissenschaftliche Ergebnisse besitzen zweifellos eine gewisse Relevanz fĂŒr die hier anstehende Urteilsbildung. Die entscheidende Argumentation muss jedoch theologisch gefĂŒhrt werden. Deshalb kann auch der (mehrheitlichen) Sichtweise des PhĂ€nomens ‚HomosexualitĂ€t‘ in den gegenwĂ€rtigen Humanwissenschaften fĂŒr die theologische Urteilsbildung keine normative Bedeutung zuerkannt werden. Wenn es gute theologische GrĂŒnde dafĂŒr gibt, muss ihr eine andere Sichtweise entgegengesetzt werden.“(3)

Dass in der OH aber nicht die Theologie den Ausschlag gibt, sondern eine bestimmte Parteirichtung der sozialwissenschaftlichen Analyse, ist fĂŒr jeden greifbar. Wenn die EKD ihre BegrĂŒndung der ZulĂ€ssigkeit homosexueller Handlungen so grundlegend gegenĂŒber 1996 geĂ€ndert hat und 1996 noch mit dem Leitbild der Ehe in Einklang bringt, 2013 aber dieses Leitbild als unbiblisch, unreformatorisch und wirklichkeitsfremd bezeichnet, hĂ€tte man doch wenigstens erwarten können, dass sie selbst auf frĂŒh  Positionen verweist und den Kurswechsel begrĂŒndet!

Wenn es heißt: „Um eine evangelische VerstĂ€ndigung ĂŒber Ehe, Familie und Partnerschaft zu versuchen, geht es zunĂ€chst um eine Ortsbestimmung. Dabei fallen aktuelle Trends in Familienleben und Partnerschaftsverhalten auf 
“ (S11): Wieso werden die Trends immer als das Eigentliche und zu Akzeptierende gesehen, das, wovon die Trends statistisch fortfĂŒhren und was meist noch die große Mehrheit der Lebenslagen kennzeichnet, dagegen als das Alte, Falsche, erfreulicherweise Abnehmende angesehen? Und wĂ€re man dann auch bereit, eine Trendwende, wie es sie schon in anderen LĂ€ndern gegeben hat, ebenso als normativ anzusehen?

ZĂ€hlt dann auch, dass die Scheidungsrate in Deutschland rĂŒcklĂ€ufig ist? Ehen halten wieder lĂ€nger. 1992 waren es im Durchschnitt 11,5 Jahre, 2012 14 Jahre. Trotz kleiner jĂ€hrlicher Schwankungen ist die Zahl der Scheidungen seit dem Höhepunkt 2003/2004 auch anteilig rĂŒcklĂ€ufig.(4)

Ja, will man ĂŒberhaupt Trends zur Norm erheben? Und das, obwohl die meisten Trends ja sehr instabil sind und morgen schon wieder gegenlĂ€ufig sein können, etwa indem derzeit die Heiratsquote in den neuen BundeslĂ€ndern ĂŒberraschend steigt? Und ist die OH auch bereit, die Berufung auf Trends zu akzeptieren, wenn sie gegenlĂ€ufig zu dem sind, was die OH fordert? Es ist nicht zu erkennen, dass man wirklich die hochkomplexe gesellschaftliche RealitĂ€t verstehen und abbilden will. Zwar spricht man dauernd von der Vielfalt der Familienformen. Aber man hat immer sehr schnell einfache ErklĂ€rungen fĂŒr komplexe ZusammenhĂ€nge zur Hand. Ursache und Wirkung scheinen immer recht einfach zu ein. Ich kann nicht erkennen, dass man großen Aufwand betrieben hĂ€tte, den Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung (5) in seiner Bandbreite zu erheben. Vielmehr werden ĂŒberwiegend die BĂ€nde der Buchreihen des Familienministeriums zitiert, deren QualitĂ€t ich nicht anzweifeln möchte, die aber doch nur einen Bruchteil der Forschungsarbeit abbilden und nur Themen behandeln, fĂŒr die das Familienministerium Forschungsgelder zur VerfĂŒgung gestellt hat und die fast immer politisch motiviert sind.

Die Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Forschung werden:

1. missbraucht, indem aus Zustandsbeschreibungen die Forderung wird, diesen Zustand gut zu heißen. Heißt das, dass alles, was die Sozialwissenschaften herausfinden, ab jetzt die Norm ist?

2. Die Sozialwissenschaften werden selektiv zitiert. Es wird immer wieder so getan, als gÀbe es ein einhelliges Ergebnis sozialwissenschaftlicher Forschung und es ginge nun nur darum, ob man die Wissenschaft und damit den Ist-Zustand und die RealitÀt akzeptiere oder nicht.

3. Dabei wird die Forschung auch banalisiert. Komplizierte Ergebnisse werden zu handlichen Ergebnissen, die immer die moralische Auffassung der AutorInnen stĂŒtzen. In der RealitĂ€t gibt es eine enorme Bandbreite an sozialwissenschaftlicher Forschung mit vielerlei, oft sich ergĂ€nzenden, oft sich auch widersprechenden Ergebnissen.

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Anmerkungen

1 „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlĂ€ssliche Gemeinschaft stĂ€rken“ – Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, GĂŒtersloh 2013 und unter: http://www.ekd.de/download/20130617_ familie_als_ verlaessliche_gemeinschaft.pdf.

2 Alexander Kissler. „Schwafelkirche in Selbstauflösung“. Cicero Online vom 25.6.2013.

3 Mit Spannungen leben. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema ‚HomosexualitĂ€t und Kirche‘. EKD-Texte 57. EKD: Hannover, 1996. S. 11.

4 Vgl. als Beispiel Claudia Becker. „Deutsche Ehen halten wieder lĂ€nger“. Die Welt vom 31.7.2013. S. 1.

5 Als Beleg fĂŒr die einseitige Darstellung von soziologischen Forschungsergebnissen fĂŒhren wir im Gutachten zahlreiche weitere Beispiele ausfĂŒhrlicher an, nĂ€mlich Scheidungsfolgen, Kitas, Regenbogenfamilien, Zeit mit den Eltern, Biologische Elternschaft, Geburtenrate, Gewalt an MĂ€nnern, Hausarbeit und Geschichte der bĂŒrgerlichen Ehe.

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Prof. Dr. phil. Dr. theol. Thomas Schirrmacher ist Direktor des Internationalen Instituts fĂŒr Religionsfreiheit (Bonn, Kapstadt, Colombo), unter Mitarbeit von Titus Vogt.

Quelle: Evangelische Verantwortung 1 + 2 2014 (Das Magazin des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU)

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Das PDF des vollstÀndigen Gutachtens kann hier heruntergeladen werden.

Das Gutachten ist auch als Buch erhĂ€ltlich, erschienen im Verlag fĂŒr Kultur und Wissenschaft (Culture and Science Publ.), Bonn 2014, 107 S., ISBN 978-3-86269-079-4; ISSN 1430-9068 (edition pro mundis). Versandkostenfrei bestellbar zum Preis von EUR 12,- (10 Ex. fĂŒr 80,- EUR) unter: www.vkwonline.de/ein-neues-normatives-familienbild-als-normative-orientierung.html und
http://www.vkwonline.de/catalogsearch/result/?q=familienmodell.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 24. Februar 2014 um 11:46 und abgelegt unter Ehe u. Familie, Gesellschaft / Politik, Kirche.