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Thesen aus der Gemeinde zum Gesprächsprozess in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens

Montag 29. April 2013 von Andreas Rau


Andreas Rau

In der sächsischen Landeskirche findet ein Gesprächsprozeß statt. Der wird organisiert von einer „Steuerungsgruppe“. Die ist sich einig, „dass der Gesprächsprozeß in der Breite stattfinden muss und nicht nur in Klausurtagungen der Pfarrerschaft“. Es ginge darum, „die Basis der Gemeinden zu erreichen.“ Das ermutigt mich, meine Gedanken in diesen Gesprächsprozeß mit einzubringen. Zumindest möchte ich es versuchen. Bisher haben in diesem Zusammenhang zwei Theologen je 20 Thesen veröffentlicht: OLKR P. Meis wohl für die Kirchenleitung und Dr. C. Rentzing für die Sächsische Bekenntnisinitiative.(1) Hier folgen nun 12 Thesen „aus dem Maul des Volkes“; d. h. von einem Laien, einem einfachen lutherischen Christen.

Ich verstehe mich als Vertreter der „Kerngemeinde“. (Sicherheitshalber in Klammer:  Das Maul des Volkes redet gerade heraus, was es denkt; wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Es redet nicht, wie Akademiker reden; erst recht nicht wie Diplomaten reden. Es redet ungeschickt, unbeholfen, poltrig; im Grunde stammelt es nur. Aber dieses Maul ist ein ehrliches Maul. Es sagt, was ihm auf der Seele brennt. Das Maul des Volkes redet mit dem Herzen – allerdings mit einem zornigen Herzen. Wer damit nicht umgehen kann, sollte besser etwas anderes lesen.)

Anlass ist der Bericht des Landesbischofs(2) vor der 26. Landessynode der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens am 17. 11. 2012. Dort sagte Bischof Bohl zunächst: „Darum nennen wir sie [die Bibel] ‚Buch der Bücher‘ und ‚Heilige‘ Schrift; sie ist das Gotteswort“. Wenig später betont er: „… wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins.“ Es ist das Geheimnis des Bischofs, wie er beide Aussagen unter einen Hut bekommt. Aber wenn er das Wort Gottes nicht mit den Buchstaben der Bibel in eins setzt, dann bedeutet das: Der Wortlaut der Bibel ist eine Sache, das Wort Gottes eine andere. Beide können übereinstimmen, müssen es aber nicht. Sie können sich auch unterscheiden oder gar widersprechen.

Diese Unterscheidung zwischen dem Wortlaut der Heiligen Schrift und dem Wort Gottes wirft zahlreiche Fragen auf. Die betreffen nicht nur unser Schriftverständnis sondern auch unser Verständnis u. a. von Gott, Geist und Kirche.

Die Thesen

Wenn  Bischof Bohl sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann

1. macht er die Bibel für mich unbrauchbar und wertlos. Damit nimmt er mir Gott und den Glauben.

2. reiht er sich ein in die Reihe all derer, von denen Gott in Jeremia 2,13 sagt: Sie tun „eine zwiefache Sünde: mich, die lebendige Quelle, verlassen sie und machen sich Zisternen, die doch  rissig sind und kein Wasser geben.“

3. steht er in der Tradition der Frage, die bereits im Paradies gestellt wurde: „Sollte Gott gesagt haben?“

4. überantwortet er das Wort Gottes in der Menschen Hände. Die können nun mit ihm umspringen, wie es ihnen beliebt.

5. macht er Glauben, Theologie und Kirche zum ausgeblasenen Osterei: eine fromm bemalte Schale mit leerem Wortgeklingel.

6. durchsäuert er seine Kirche mit „dem Sauerteig der Pharisäer, welches ist die Heuchelei“.

7. glaubt er an einen anderen Gott als ich.

8. nimmt er unserer Kirche die Fähigkeit, die Geister zu prüfen.

9. überantwortet er den Geist Gottes in die Hände der Menschen. Er macht ihn zu einer variablen Größe in theologischen Gleichungen, zur Rechtfertigung für Beliebigkeit.

10. zerstört er das geistliche Fundament unserer Kirche: das Priestertum aller Gläubigen. An dessen Stelle setzt er die Dominanz der Fachtheologie, das evangelische Lehramt.

11. entmündigt er nicht nur die Heilige Schrift sondern auch die Gemeinden. Und er macht die evangelische Kirche zur Theologenkirche.

12. schickt er unsere Kirche auf einen Weg, auf dem sie Gefahr läuft, sich Gott zum Feind zu machen.

Zur Begründung

Einleitung: Wenn der Fahrer eines Autos die Kupplung „kommen läßt“, kann die Kraft des Motors auf die Räder wirken und das Fahrzeug setzt sich in Bewegung. Manchmal geht solch eine Kupplung auch kaputt. Sie beginnt zu schleifen oder greift gar nicht mehr. Dann kann der Motor mit voller Kraft durchdrehen – dennoch kommt das Fahrzeug kaum noch vorwärts.

Die Bibel ist solch ein Motor voller Kraft aus der Ewigkeit. Und Theologie ist wie ein Getriebe, das diese Kraft mit „dem passenden Gang“ in die Gemeinden bzw. den Alltag der Christen übertragen soll. Doch wenn der Bischof das Wort Gottes von den Buchstaben der Bibel loslöst, tritt er gewissermaßen die Kupplung – und die beginnt zu schleifen. Die Heilige Schrift verliert an Glaubwürdigkeit, an Gewicht, an Autorität. Ihre Aussagen werden fragwürdig und unverbindlich. Dadurch wird die Verbindung zwischen Bibel und Leben gelockert. Die Kraft Heiligen Schrift kann im Alltag nicht mehr greifen; sie rutscht ab und läuft ins Leere.

Das Ergebnis ist allerorten mit Händen zu greifen: Das Fahrzeug Kirche kommt kaum noch vorwärts. Ihr Einfluß in der Gesellschaft schwindet. Sowohl die Zahl der Mitglieder als auch die der Gottesdienstbesucher sinkt Jahr um Jahr. Die Strukturen werden weiter und weiter ausgedünnt. Die Arbeit in den Gemeinden verliert an Anziehungskraft. Der „christliche Grundwasserspiegel“ in der Gesellschaft sinkt …

In der Folge ist (bzw. war zeitweilig) viel von Kirchenreform die Rede. Ein „Impulspapier“ wurde verfaßt. Dort wird vieles aufgezählt, was künftig besser werden soll. Die Qualität der evangelischen Theologie wird nicht erwähnt, auch nicht die der Pfarrer-Ausbildung. Fragen wie „Was genau glauben wir?“ oder „Warum überzeugt unser Evangelium nicht?“ oder „Wie lautet überhaupt die ‚gute Nachricht‘, die wir predigen sollen?“ – solche Fragen scheinen die Reformer nicht im Blick zu haben. Damit aber gleicht die EKD einem Taxi-Unternehmen, dessen Fahrzeuge unzuverlässig und zu langsam fahren. Um die Kunden dennoch zu halten, beschließt die Firmenleitung mehr Annehmlichkeiten für ihre Fahrgäste zu schaffen: bequemere Sitze, bessere Radios, Getränke-Automaten auf der Rückbank … Aber keiner kommt auf die Idee, die Kupplungen zu reparieren.

In unsere Kirche könnte manches anders und besser werden, zweifellos. Doch das größte Problem ist diese Schleif-Kupplungs-Theologie: „Wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins.“ Die verursacht gewaltige Probleme in Kirche und Gemeinden. Dazu die Thesen bzw. hier die dazugehörigen Begründungen:

I. Schriftverständnis

Zu These 1. Christ wurde ich dank Familie, Gemeinde und vor allem der Jugendarbeit in „Karl-Marx-Stadt II“. Dann aber hat es mich 1980 in die Diaspora verschlagen. Seitdem lebt mein Glaube praktisch nur noch aus der Bibel. Er hängt an den Buchstaben auf dem Papier zwischen deren Buchdeckeln. Von dort holt er sich Hoffnung, Trost, Kraft, Ausdauer, Geduld … An diesem Buchstaben hängt mein Herz. Sie sind das Wertvollste, was ich besitze. Welch ungeheurer Reichtum ist es, Gottes Wort in Händen halten zu können und mit meinen eigenen Augen zu lesen, was der große allmächtige Gott mir zu sagen hat. Von daher kann ich nachempfinden, warum evangelische Christen einst sangen: „Herr, dein Wort die edle Gabe, diesen Schatz erhalte mir. Denn ich zieh‘ ihn aller Habe und dem größten Reichtum für.“

Nun aber kommt Bischof Bohl und sagt: „Wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“. Andere Theologen formulieren, die Bibel sei nicht Gottes Wort, sondern sie enthalte es nur. Mitunter wird auch klipp und klar gesagt, die Bibel sei gar nicht Gottes Wort.(3) Alle diese Aussagen haben eines gemeinsam: Wenn sie zuträfen, würde mit einem Schlag die ganze Bibel für mich wertlos. Denn woher sollte ich dann wissen, was darin Gottes Wort ist und was nicht? Welchen biblischen Aussagen könnte ich noch vertrauen? Ich wäre zutiefst verunsichert und wüßte nicht mehr, was ich glauben kann und was nicht. Ich verlöre den Halt, an dem mein Herz und mein Glaube, letztlich mein ganzes Leben, hängen. Wie will ich an einen Vater im Himmel glauben, wenn ich nicht sicher weiß, was der mir zu sagen hat?

So lange es die Bibel gibt, wurde sie angefeindet und auf alle erdenkliche Weise angegriffen. Seit etwa zwei Jahrhunderten beteiligen sich auch evangelische Theologen an diesen Angriffen. Sie verkünden zum Beispiel, dass Jesus weder die Bergpredigt gehalten noch das Abendmahl eingesetzt habe, das leere Grab zu Ostern eine Legende sei und die meisten Wundergeschichten frei erfunden.(4) Sie wissen unzählige Gründe, warum man die Bibel (historisch) kritisch sehen müsse und sie deshalb nicht beim Wort nehmen dürfe. Ein relativ neuer Trend sind zahlreiche Stimmen in unserer Kirche, die auf merkwürdige oder bedenkliche Stellen in der Bibel verweisen. Diese Stimmen kratzen alles zusammen, was sie meinen, gegen die Heilige Schrift verwenden können. Weil da etwas von wiederkäuenden Hasen stünde oder von Mischgewebe oder von Steinigungen usw., brauche man die ganze Bibel nicht ernst zu nehmen und könne folglich denken und tun, was man selber für richtig hält.

Ich gehöre nicht zu denjenigen, die über die Bibel meckern und mäkeln. Ich gehöre zu denen, die für die Bibel eintreten. Ich frage nicht, was spricht gegen sie, sondern ich suche, was sie wertvoll macht. Und das ist gewaltig viel! Deshalb verteidige ich die Heilige Schrift vor den „Heiden“ und gegen Atheisten, Spötter, Theologen und – wenn es sein muß – auch gegen evangelische Bischöfe. Wenn das leere Grab eine Legende ist, dann sollte die evangelische Theologie ihren Betrieb einstellen. Denn dann hätte Paulus Recht und der christliche Glaube wäre ein einziger großer Schwindel und wir Christen die elendsten unter allen Menschen. Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten – und deshalb jucken mich auch wiederkäuende Hasen und andere Merkwürdigkeiten nicht. Wenn Kirche und Christen sich den zentralen Aussagen der Bibel wirklich stellen würden, bliebe gar keine Zeit, sich mit solchen Kindereien abzugeben.

Und wenn ein lutherischer Bischof sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann frage ich ihn: „Womit denn sonst? Womit sollen wir das Wort Gottes dann in eins setzen?“ Vielleicht mit all den Predigten voll gequirlter Belanglosigkeiten, die unsere Kirche unter die große Ãœberschrift stellen: „Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel!“ Oder soll ich das Wort Gottes in eins setzen mit den Moralpredigten, die mich zu einem guten Gutmenschen machen wollen; Predigten voll wohlfeiler Ratschläge zu Frieden, Gerechtigkeit, Umweltschutz und ähnlichen Themen? Oder ist das Wort Gottes eins mit all den Weisheiten, welche Theologen in unzählige Fachbücher schreiben, nach denen in 50 Jahren kein Hahn mehr kräht? Oder soll ich das Wort Gottes in eins setzen mit jenen frommen Sprüchen, mit denen Kirchenleitungen begründen, warum sie den jeweils aktuellen ideologischen Moden in Politik und Medien nachlaufen müssen?

Es tut mir leid, aber ich halte mich an dieses Buch in meiner Hand. Ich vertraue – sola scriptura! – allein dem, was dort mit schwarzen Buchstaben auf weißem Papier geschrieben steht. Dieses Wort Gottes ist das einzige, dem ich glauben kann und glauben will. Wenn Pfarrer, Theologen, Bischöfe usw. dieses Wort Gottes bezeugen, sollen sie gesegnet sein. Wenn sie ein anderes predigen, können sie mir den Buckel runterrutschen.

Hier weiß ich mich eins mit Martin Luther: „Wer einen Gott hat ohne sein Wort, der hat keinen Gott“. Deshalb gilt für mich: Entweder ich habe eine Bibel, die als Ganzes Gottes Wort ist – oder ich kann die Bibel als Ganze wegwerfen und mit ihr den gesamten christlichen Glauben. Entweder die Buchstaben der Bibel sind die Heilige Schrift – oder ich habe gar keine Heilige Schrift und damit auch keinen Gott.

Wenn also Bischof Bohl sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann macht er die Bibel für uns einfache Christen unbrauchbar und wertlos. Und damit nimmt er uns Gott und den Glauben.

Zu These 2. Die Unterscheidung zwischen Wort Gottes und dem Wortlaut der Bibel geht einher mit der Meinung, die Bibel sei „eine von Menschen geschriebene religiöse Urkunde und daher zu lesen und zu verstehen wie andere menschliche Urkunden auch“ (H. Zahrnt). Folglich spielen Literarkritik, Form- und Redaktionsgeschichte in der heutigen Theologie eine wichtige Rolle. Ich halte diese Meinung – Entschuldigung – für kompletten Unsinn. Denn: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken“ (Jes 55,8f). Diese „historisch-kritischen Methoden“ mögen Goethe gerecht werden oder Karl May oder Grimms Märchen – nicht aber dem heiligen Wort des Gottes, der Himmel und Erde gemacht hat.

Wenn Physiker oder Chemiker oder andere Naturwissenschaftler versuchen, mit den Mitteln ihrer Wissenschaft die Existenz eines Gottes zu beweisen, so wird ihnen das nicht gelingen. Der Schöpfer des Himmels und der Erde ist für den menschlichen Verstand unerreichbar. Deshalb gibt es keine Gottesbeweise, mit deren Hilfe man Gott gewissermaßen in ein Reagenzglas oder in eine mathematische Formel einsperren könnte.

Auch die Humanwissenschaften und ihre Methoden können nicht beweisen, dass Jesus Gottes Sohn war. Sie können das Göttliche im Menschen Jesus von Nazareth nicht herausfiltern und zur Schau stellen. Deshalb glauben und bekennen wir: „Jesus Christus – wahrer Mensch und wahrer Gott“. Jesus Christus war zu 100 Prozent Mensch und zu 100 Prozent Gott. Im Glaubensbekenntnis von Chalcedon heißt es deshalb: „Zwei Naturen – unvermischt, unverändert, ungetrennt und unteilbar“.

Genau dies dürfte auch für die Bibel gelten: Wahres Menschenwort und wahres Wort Gottes; zu 100 Prozent Worte von Menschen und zu 100 Prozent Worte von Gott; „zwei Naturen – unvermischt, unverändert, ungetrennt und unteilbar“. Deshalb ist das Wort Gottes in der Bibel für den menschlichen Verstand unerreichbar. Es ist unmöglich, mit den Methoden der Literatur- oder anderer Geisteswissenschaften Gottes Wort und Menschenwort zu trennen. Jeder Versuch, ein echtes oder reines oder wirkliches Wort Gottes aus der Bibel herauszufiltern, muß scheitern. Geradezu aberwitzig ist es, solch ein echtes Wort Gottes zwischen, neben bzw. hinter den Buchstaben der heiligen Schrift aufspüren zu wollen oder gar außerhalb der Bibel zu suchen. Denn dann landet man unweigerlich bei der Weisheit dieser Welt oder wie Paulus es ausdrückt (Kol 2,8) bei „Philosophie und leeren Trug, gegründet auf der Menschen Lehre und auf die Elemente der Welt“.

Niemand kann Gott beweisen. Ich kann an ihn glauben – oder auch nicht. Niemand kann beweisen, dass Jesus Christus der eingeborne Sohn Gottes ist. Ich kann an ihn glauben – oder auch nicht. Niemand kann beweisen, dass die Bibel Gottes Wort ist. Ich kann das glauben; richtiger wohl: Ich kann ihr glauben, ihren Worten, ihren Buchstaben, dem was „geschrieben steht“ – oder auch nicht. All die historisch-kritischen Methoden der Geisteswissenschaften, die behaupten, ein von den Buchstaben der Bibel losgelöstes Wort Gottes identifizieren zu können, dürften kaum mehr sein als Beschäftigungstherapie für Theologen oder richtiger wohl Hochstapelei. Man gibt vor, den theologischen Stein der Weisen gefunden zu haben. Doch der zählt unter Aberglaube bzw. theologisch verbrämter Unglaube.

Wenn Bischof Bohl also sagt: „Wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann reiht er sich ein in die schier endlose Reihe all derer, von denen der Gott der Bibel in Jeremia 2,13 sagt: Sie tun „eine zwiefache Sünde: mich, die lebendige Quelle, verlassen sie und machen sich Zisternen, die doch  rissig sind und kein Wasser geben.“

Zu These 3. Das Schriftverständnis des Bischofs wurde bereits vor tausenden von Jahren beschrieben. Die Bibel braucht dazu ganze sechs Verse, nämlich 1Mose 3,1-6: Gott hatte ein Gebot gegen, eindeutig, klipp und klar, ohne Wenn und Aber. Doch dann kam die Frage auf: „Hat Gott das wirklich gesagt?“ Eva kannte das Gebot genau: „Du sollst nicht essen vom Baum der Erkenntnis; denn an dem Tage, da du davon issest, mußt du des Todes sterben“. Doch Eva sah auch, „daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte“. Also fand sie Gefallen an dem Versprechen der Schlange: „Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“. Das Ende vom Lied: Sünde und Tod kamen in die Welt.

Heutige Theologie erinnert sehr an diese Methode: Sie hat Gottes Wort schwarz auf weiß. Darin steht vieles, was für uns schwer verständlich ist und kaum noch Bedeutung hat. Doch darin findet auch sich eine Fülle „fester Kerne“; sprich: klare, eindeutige Ansagen – Angebote und Verbote, Zusagen und Mahnungen, Verheißungen und Warnungen. Sie sind klipp und klar formuliert, ohne Wenn und Aber.

Die Theologen kennen diese festen Kerne in der Heiligen Schrift genau. Doch da sind auch die Früchte dieser Welt – eine Lust für die Augen und verlockend, weil sie klug machen. Obendrein versprechen diese Früchte Wohlwollen, Anerkennung und Ehre in den Augen der Welt. Folglich liebäugeln viele Theologen mit der Frage: „Sollte Gott gesagt haben?“ Da die Worte der Schlange inzwischen etwas verpönt sind, werden sie halt den heutigen Gegebenheiten angepaßt: „der Buchstabe tötet, bloßes Rezitieren von Bibelversen, naiver Biblizismus, toter Buchstabenglaube, fundamentalistisch, notwendige Unterscheidung von Geist und Buchstabe …“ Dazu weiß man tausend fromme Begründungen, warum wir die Früchte dieser Welt genießen dürften: „Der Geist leitet uns, Dialog zwischen Text und Leser, die Mitte der Schrift, was Christum treibet …“  Und prompt können sie z. B. verkünden: „Dass der Geist Gottes verletzt wird … wenn grundsätzlich die verantwortlich in Liebe, Treue und Fürsorge gelebte Homosexualität als Sünde bezeichnet wird“.

Das biblische Wort Gottes erkennt man an dem Begriff „Wahrheit“: „Ich bin die Wahrheit … ich bin ein König, der die Wahrheit bezeugen soll … die Wahrheit wird euch frei machen … der Geist der Wahrheit … die Rechte des Herrn sind Wahrheit … die Wahrheit tun …“ Das „Wort Gottes“ der Theologen kreist um den Begriff „Toleranz“ (in Fachkreisen wohl „relational“?).  Hier macht sich verdächtig, wenn jemand seine Ãœberzeugung als Wahrheit bezeichnet und dafür eintritt (zumindest wenn er Christ ist). Wenn er sagt: „ja, ja, nein, nein“; oder wenn er deutlich macht: „Nach meinem Glauben ist dieses richtig und jenes falsch“; oder wenn er bekennt: „Ich glaube, Jesus ist die Wahrheit, und deswegen ist jenes die Unwahrheit“. Kurz: wenn jemand ohne Wenn und Aber zu seinem Glauben steht, dann sei er oder sie intolerant. Denn das verstoße gegen das Liebesgebot und verletze den Geist Jesu Christi. Der wolle ja, „dass sie alle eins seien“.

Am Ende steht eine verwaschene, verschwommene Theologie, die alle festen Kerne der Heiligen Schrift aufgelöst hat; eine Theologie, die es allen recht macht und keinem weh tut; die die Vorgaben der Welt beachtet, alle unsere Wünsche erfüllt und obendrein noch fromm klingt. In Sachsen hat man – im Hören auf die Schrift! – die Quadratur des theologischen Kreises gefunden: Beide Positionen seien „geistlich und theologisch angemessen“; auf deutsch: Ja ist in Ordnung, nein ist auch in Ordnung; richtig ist gut, falsch ist auch gut; die Frucht des Baumes essen ist gottgefällig, die Frucht des Baumes nicht essen ist auch gottgefällig; Homo-Ehe im Pfarrhaus ‚untersteht dem Anspruch und Zuspruch Gottes‘, die Ablehnung der Homo-Ehe im Pfarrhaus tut das auch.

Kurz: einst war das Wort Gottes „wie ein Hammer der Felsen zerschmeißt“, heute erinnert es an den berühmten Pudding, der an die Wand genagelt werden soll: Jeder darf glauben, was ihm gerade einfällt – Hauptsache wir bleiben zusammen und spielen heile Glaubenswelt.“

Der Haken daran steht in Joh 8,31: „Wenn ihr bleiben werdet in meiner Rede, so seid ihr in Wahrheit meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Wenn Kirche das Zeugnis der Wahrheit aufgibt, kann sie sich zehnmal Kirche der Freiheit nennen – sie verspielt genau das, nämlich die Fähigkeit zur Freiheit. Wenn Kirche Sünde nicht Sünde nennt, kann sie auch niemanden davon befreien. Eine Theologie ohne Wahrheit ist der Sünde Knecht – und mit ihr alle, die ihr anhangen. Eine solche Kirche bleibt mit all ihrem Reden und Tun immer im Schatten des „ihr werdet des Todes sterben“.

Daran ändert auch nichts, wenn solche Kirche sich vor Frömmigkeit schier überschlägt und wie wild mit Bibel- und anderen frommen Sprüchen um sich wirft. Z. B. sagt der Bischof: „Dabei dürfen wir auf die Gegenwart des heiligen Geistes hoffen, der uns helfen wird, das Wort Gottes besser zu verstehen, beieinander zu bleiben und gemeinsam ein kräftiges Zeugnis zu geben.“(16) Ein kräftiges Zeugnis? Der so selbstverständlich vereinnahmte Heilige Geist ist vermutlich anderer Meinung: „Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach daß du doch kalt oder warm wärest. Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde“ (Off 3,15f).

Darum, wenn Bischof Bohl sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann steht er in der Tradition der Frage, die bereits im Paradies gestellt wurde: „Sollte Gott gesagt haben?“ Und mit diesem Schriftverständnis trägt der Bischof Sünde und Tod in seine Kirche.

(Die Thesen 4 – 6 fallen etwas aus dem Rahmen. Sie gehen sehr ins Detail. Wem das zu zäh ist, lese bitte bei These 7 weiter. Dort wird es wieder lockerer.)

Zu These 4. Das Schriftverständnis des Bischofs wird auch in Psalm 2,2f angesprochen: „Die Herren halten Rat miteinander wider den HERRN und seinen Gesalbten: ‚Lasset uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Stricke!'“ Dies besagt im Grunde das gleiche wie 1Mo 3, setzt aber einen zusätzlichen Akzent:

Gott und sein Wort setzen uns Grenzen. Sie sagen „du sollst“ oder „du sollst nicht“; sie sagen ja oder nein; sie sagen richtig oder falsch. Doch solche Grenzen sind dem aufgeklärten Mensch lästig. Er kann es nicht ausstehen, wenn jemand ihm vorschreibt, was er tun oder lassen soll. Deswegen hat er Mittel und Wege gefunden, diese Grenzen auszuhebeln und die göttlichen Stricke von sich zu werfen. Das Mittel, das die aufgeklärte Theologie für diese Zwecke benutzt, ist halt der Angriff auf die Buchstaben der Heiligen Schrift.

Lesen sei „Sinngewinnung aus Zeichen“. D. h., beim Schreiben wird Sinn, werden Ideen, Gedanken, Vorstellungen gewissermaßen konserviert. Sie werden in Worte gekleidet und die werden mit Buchstaben festgehalten. Sie werden buchstäblich festgeschrieben. Danach sind diese Ideen, Gedanken, Vorstellungen für jedermann zugänglich. Sie können zu jeder Zeit aus den Buchstaben wieder herausgelesen werden. Christen glauben, dass Gott genau das getan hat: Er hat das, was er uns mitteilen möchte, in Worte gekleidet und mit Buchstaben festgeschrieben. Nun sind Gottes Gedanken in der heiligen Schrift für jedermann zugänglich. Sie können zu jeder Zeit dort nachgelesen werden.

Voraussetzungen für das Gelingen der „Gedankenübertragung“ vom Schreiber zum Leser sind – zunächst – verständliche Worte und eindeutige Buchstaben. Wenn ein Chinese mir einen Brief schreibt mit chinesischen Schriftzeichen, sehe ich alt aus. Wenn ich Gottes Wort nur in Hebräisch, Griechisch oder Latein habe, nutzt es mir nichts. Deshalb hat Luther die Bibel in die deutsche Sprache übersetzt. Er hat uns, dem Volk, aufs Maul geschaut, um Gottes Worte in solche Sprache und Zeichen zu fassen, dass wir, das Volk, sie verstehen. Dank Luther ist das, was Gott uns sagen will, zu jeder Zeit für jeden Deutschen zugänglich.

Nun kommt aber Bischof Bohl und löst das Wort Gottes von den Buchstaben der Bibel. Damit unterstellt er: Was Gott uns sagen will, sei gar nicht verbindlich festgeschrieben, zumindest nicht in der Bibel. Folglich könne man es dort auch nicht nachlesen, zumindest nicht eindeutig und verbindlich. Es brauche es ein spezielles Fachwissen, um Gottes Gedanken herauszufinden. Das wiederum heißt auf deutsch: Wir „normalen Menschen“ könnten nicht wissen, was Gott sagen will. Das sei uns, dem Volk, nicht zugänglich. Damit macht ein evangelischer Bischof Luthers Ãœbersetzung praktisch rückgängig. Er nimmt dem deutschen Volk das Wort Gottes wieder aus der Hand.

Der eigentliche Trick ist aber noch ein anderer: Was festgeschrieben wurde, steht fest; daran ist nicht zu rütteln. Was nicht festgeschrieben ist, steht dagegen nicht fest. Das kann verändert werden. Wenn also der Sinn vom Zeichen bzw. das Wort Gottes von den Buchstaben losgelöst wird, kann der eine Theologe dieses behaupten, der nächste jenes und der dritte wieder anderes. Sie alle können den Wortlaut der Bibel hier ein wenig verdrehen, dort ein wenig verbiegen und da ein wenig umdeuten. Am Ende ist „Wort Gottes“ nicht mehr das, was Gott den Menschen sagen will, sondern was Theologen wünschen, das Gott uns sagen sollte; d. h. wo „Wort Gottes“ draufsteht, ist „Wort der Theologen“ drin. Und genau das ist das Wesen des Schriftverständnisses der heutigen Theologie: Es hat die Bande des HERRN zerrissen und die göttlichen Stricke von sich geworfen. Das Wort Gottes wurde seiner objektiven Grundlage beraubt und in das subjektive Ermessen der Theologen gestellt.

Dies ist selbstverständlich nicht die Erfindung eines einzelnen sächsischen Bischofs sondern das Ergebnis eines mehr als 200 Jahre währenden Prozesses. Der bewirkte einen Umbruch aller Grundlagen des kirchlichen Glaubens. Dabei wurde das Oberste zuunterst und das Unterste nach oben gekehrt. Es ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Und dieser Umbruch läßt sich – zugespitzt – auf den Punkt bringen:

Auf den Platz der Bibel haben sich die Theologen gesetzt. Einst galt „sola scriptura“, allein die Schrift ist der Maßstab für ja oder nein, richtig oder falsch – heute zählt allein der Theologe und dessen Meinung. Einst entschied der Wortlaut der Heiligen Schrift über „du sollst“ oder „du sollst nicht“ – heute entscheiden das die Theologen. Einst setzten Gott und sein festgeschriebenes Wort uns Menschen Grenzen – heute tun das die Theologen; genauer: sie setzen Gott und seinem Wort Grenzen. Kurz: einst herrschte Gottes Wort über Theologie und Kirche – heute herrschen die Theologen über Gottes Wort und damit über die Kirche.

Seinerzeit wurde Jesus durch einen Kuß verraten. Dadurch wurde „des Menschen Sohn in der Menschen Hände überantwortet“. Wenn Bischof Bohl sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann tut er im Prinzip genau das, was Judas seinerzeit tat: Er überantwortet das Wort Gottes in der Menschen Hände. Die können nun mit ihm umspringen, wie es ihnen beliebt.

Zu These 5. In DER SONNTAG konnte man lesen: „Mein Theologiestudium habe ich mit viel Freude und Interesse erlebt … Uns war vermittelt worden, nicht zu fragen: Ist das so gewesen? Sondern zu fragen: Was bedeutet das? Und dass Bedeutungen von Mensch zu Mensch und in unterschiedlichen Zeiten sich ändern, zeigt, wie vielschichtig, aufregend und anregend die Bibel ist.“(5) Hier ist nicht der Ort, das eigenartige Denken der modernen Theologie ausführlich darzulegen. Dennoch, dieses Zitat bringt es auf den Punkt! Heutige Theologie fragt nicht: „Ist das so gewesen?“ Sie interessiert sich nicht für Tatsachen, für historische Fakten. Im Gegenteil, sie ist überzeugt, das meiste von dem, was die Bibel berichtet, sei gar nicht wirklich geschehen. Folglich sucht diese Theologie das, was gar nicht geschehen ist, so zu deuten, dass es dennoch Bedeutung gewinnt.

Im Ergebnis verstehen sich diese Theologen nicht als Zeugen sondern als Deuter; nicht als Stern- sondern als Literaturdeuter, gewissermaßen als Literar-Astrologen. Sie bezeugen nicht Geschichte, sondern sie deuten Geschichten. Ihr Glaube ist nicht gegründet auf historischen Tatsachen sondern auf religiösen Ideen, auf frommen Fiktionen. In der Folge bezeugen diese Theologen nicht, „es steht geschrieben“, sondern sie deuten den Wortlaut der Bibel (die „Buchstaben“) und verkünden ihre Deutungen als „Wort Gottes“. Sie bezeugen auch nicht, „ich glaube an Gott den Vater …“, sondern sie deuten das Bekenntnis und auf diese ihre Deutungen gründen sie den Glauben.

Wohlgemerkt: Selbstverständlich gibt es auch heute noch Theologen, die Heilsgeschichte bezeugen. Doch die sprechen nicht für die ganze Kirche, sondern sind Einzelmeinungen unter anderen Einzelmeinungen. Oder wohl richtiger: sie sind ein kleines Grüppchen neben der großen Schar der Theologen,  die Heilstheorien verkünden.

Zum Beispiel 1: Die historische Tatsache „Jungfrau Maria“ wurde verdrängt durch die Idee einer Jungfrau, durch die Deutung des Begriffes. Viele Theologen bekennen „ich glaube … geboren von der Jungfrau Maria“. Dennoch sind sie überzeugt, diese Aussage beschreibe keinen „gynäkologischen Befund“, sondern habe die Bedeutung „dass man in Jesus Gott begegnet“(6) oder „Gott kommt den Menschen näher, als dieser sich selbst nahe zu sein vermag“. (7)

Oder: Die Leipziger Theologie-Professorin G. Schneider-Flume spricht von „fundamentalen Lebensbeziehungen, für deren tragenden Grund der Name Gott – das heißt Liebe – steht“.(8) Auf deutsch: Wenn diese Theologin sagt, „ich glaube an Gott“, meint sie nicht eine übernatürliche Person, ein „höheres Wesen“ – sondern sie deutet Gott als ein anderes Wort für Liebe, sprich: für ein bestimmtes Sozialverhalten, für gelingende zwischenmenschliche Beziehungen.

Oder: Ihr Kollege Prof. R. Leonhardt wird in einer Studentenzeitung zitiert (sinngemäß): „Die Pointe des Christentums als Erlösungsreligion sei nicht Jenseitsvertröstung sondern ‚Endlichkeitsmanagement‘, denn das Christentum verweist nicht auf ein Jenseits sondern bedeutet eine bestimmte Art zu leben.“ Das heißt, dieser Professor bezeugt nicht „Ich glaube … an das ewige Leben“, sondern er deutet den christlichen Glauben als „Endlichkeitsmanagement“, als eine bestimmt Art zu leben.

So ergeht es allen Grundworten des Glaubens. Sie werden (um)gedeutet. Viele brave Kirchgänger wären sehr erstaunt, würden sie verstehen, was Theologen meinen, wenn sie „Gott“ sagen oder „Jesus Christus“ oder „Heiliger Geist“ oder „Schöpfer“ oder „Jungfrau“ oder „Auferstehung“ oder „ewiges Leben“ oder … Noch viel erstaunter wären diese braven Kirchgänger, würden sie ahnen, wie viele verschiedene Götter oder Jesus Christusse oder Heilige Geister oder Schöpfer oder Jungfrauen oder Auferstehungen oder ewige Leben sich in unserer Kirche tummeln; d. h. wie viele verschiedene Deutungen diesen Begriffen in Theologenkreisen untergeschoben werden. Auch diese Worte wurden des ihnen „objektiv innewohnenden“ Sinnes beraubt und dem subjektiven Ermessen ausgeliefert. Heute kann jeder Theologe sie genau so deuten – d. h. die Bedeutung zuschreiben -, wie es ihm genehm ist.

Kurz: den Worten unseres Glaubens ist es ergangen wie manchen Hühnereiern zu Ostern. Sie wurden vorsichtig angebohrt und ausgeblasen. Geblieben ist eine bunt bemalte Schale, der Inhalt aber ist nur noch lauwarme Luft; sprich: ein „von Mensch zu Mensch und in unterschiedlichen Zeiten sich änderndes“ Wort- bzw. Deutungsgeklingel.

Hinter all dem zeigt sich ein eigenartiges Gefälle: Zuerst wird die Theologie von der Geschichte gelöst, dann das „Wort Gottes“ von den Buchstaben, dann das Denken von der Sprache und zuletzt die Kirche vom Glauben. Denn die bezeugt nicht den christlichen oder den evangelischen Glauben, sondern sie bietet „Pluralität“, d. h. eine unüberschaubare Fülle unterschiedlichster Deutungen dieses Glaubens. Es wird ständig geredet von Gott, Evangelium, Auferstehung und anderen frommen Dinge. Doch wenn man diese wohlklingenden Worte abklopft, klingen sie hohl. Es wird nicht deutlich, was genau damit gemeint ist. In den christlichen Begriffen ist keine Kraft mehr, kein Leben. Am Ende verfassen Kirchenleitungen und Synoden unzählige Stellungnahmen zu unzähligen Themen in Politik und Gesellschaft. Doch wen interessieren die wirklich? Sie sind kaum mehr als Papier gewordene Belanglosigkeit; eben hohle Schalen – leere Worte ohne Substanz.

Das Gesicht der heutigen Theologie ist der evangelische Kirchentag: ein lärmender Marktplatz, wo man alles und jedes als Wort Gottes anpreisen bzw. als Glauben verkaufen kann; ein buntes Fest voller Jubel, Trubel, Heiterkeit. Aber das Herz dieser Theologie findet man in der stillen, unspektakulären Arbeit in den Gemeinden; genauer: auf all den unzähligen Stühlen und Bänken, die auch am Sonntagmorgen leer bleiben. Eben weil die Mühseligen und Beladenen dort keine „gute Nachricht“ hören sondern nur Deutungen des Evangeliums; weil sie dort nicht Brot des Lebens erhalten sondern Spekulationen, was damit wohl gemeint sein könnte; weil ihnen nicht ein allmächtiger Gott, Vergebung der Sünden, Auferstehung usw. bezeugt, sondern nur die entsprechenden Ideen kommentiert werden.

Unsere Kirche weiß Millionen gute Ratschläge zu Frieden, Gerechtigkeit und Umweltschutz. Doch Evangelium für den einzelnen Menschen? Gute Nachrichten, die mich trösten, die mir Kraft und Hoffnung geben, die mein Leben positiv verändern? Gottes Worte, die mir SEINE Nähe, SEINEN Segen, SEINEN Frieden bringen; die mich zu SEINEM Kind machen, mich in der Ewigkeit geborgen und zu Hause sein lassen? (Nochmals: Solches Evangelium ist noch zu hören! Aber diese Stimmen werden leiser und weniger.)

Unsere Kirchengebäude sind leere Hüllen – oft genug wunderschöne, liebevoll gepflegte Hüllen! – weil das Evangelium, das in ihnen gepredigt wird, solch eine leere Hülle ist. Wenn Bischof Bohl also sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann macht er Glauben und Kirche zum Osterei: eine fromm bemalte Schale mit leerem Wortgeklingel. „Du hast den Namen, daß du lebst und bist tot“ (Off 3,1).

Zu These 6. Die Leere der Ostereier-Theologie wird selbstverständlich nicht an die große Glocke gehängt. Dennoch wird sie gelegentlich für jedermann sichtbar: Z. B. war im Zusammenhang mit dem Homo-Ehe-Beschluß irgendwo in Sachsen die Frau eines Pfarrers aus der Kirche ausgetreten. In der Folge verbot Bischof Bohl diesem Pfarrer, seiner Frau im Gottesdienst das Abendmahl zu spenden. Laut dem Pressesprecher der sächsischen Landeskirche wurde das begründet: „Nicht nur in der sächsischen Landeskirche gingen die Gemeinden und ihre Leitung davon aus, dass eine Person, die sich von der Gemeinde trennt, am Abendmahl weder teilnehmen wolle noch könne.“ Und wörtlich: „Dies ist keine Festlegung, die für einen Einzelfall angeordnet worden ist. Sie ist die Folge eines jeden Kirchenaustritts.“(9)

Dummerweise hatte etwa zur gleichen Zeit der Pressesprecher der EKD gegenüber der süddeutschen Zeitung das genaue Gegenteil erklärt. In der ev. Kirche sei die Teilnahme am Abendmahl nicht an die Mitgliedschaft sondern an die Taufe geknüpft, die immer erhalten bliebe. Und wörtlich: „Sie können austreten soviel sie wollen, wir laden sie immer wieder ein.“(10)

Ãœber solchen Peinlichkeiten hängt ein uralter Geruch, nämlich der Widerspruch zwischen „auswendig“ und „inwendig“; Mt 23,27f: „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr seid gleichwie die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch erscheinen, inwendig aber sind sie voller Totengebeine und lauter Unrat. So auch ihr: von außen scheinet ihr vor den Menschen fromm, aber inwendig seid ihr voller Heuchelei und Ãœbertretung.“ Dies klingt zwar heftig, dennoch hängt genau dieser Geruch im Raum:

In Hannover, bei der EKD, sieht man „inwendig“ den Mitgliederschwund, deshalb knüpft man „auswendig“ das Abendmahl an die Taufe und ruft den Ausgetretenen hinterher: „Kommt zurück! Ihr seid zum Abendmahl herzlich eingeladen.“ In Dresden dagegen will man „inwendig“ einen Aufstand niederschlagen und die Querulanten in die Schranken weisen, deshalb wird das Abendmahl „auswendig“ an die Mitgliedschaft gebunden: „Wer austritt, schließt sich vom Abendmahl aus. Ihr seid nicht eingeladen!“

Hier stellt sich die Frage: Folgt kirchliche Theologie den Vorgaben der Bibel oder denen der Kirchenpolitik? Erwächst sie aus einer inneren Ãœberzeugung oder ist sie nur taktisches Instrument der Kirchenoberen? Die sächsische Landeskirche hatte vermutlich noch niemals eine so fromme und geistliche und bibeltreue Kirchenleitung wie im Jahre 2012 – sofern man ihrem Auftreten nach dem Homo-Ehe-Beschluß Glauben schenkt. Ist dieses fromme Gehabe Ausdruck eines ehrlichen Glaubens oder dient es nur dazu, die aufmüpfigen Gemeinden zu beruhigen?

Ãœber die Jahrhunderte hin war allen Theologen klar, die Bibel sieht Homosexualität kritisch. 2001 hatte die sächsische Kirchenleitung nochmals genauer hingeschaut und festgestellt: „Homo-Ehe im Pfarrhaus ist nicht möglich“. Nur elf Jahre später sagt diese Kirchenleitung plötzlich das Gegenteil. Bischof Bohl begründet diesen Sinneswandel: „Die Kirchenleitung war sich ihrer Aufgabe sehr bewußt, der Einheit zu dienen … Zugleich wußte sie sich dem Bemühen um die Wahrheit im Hören auf die Schrift verpflichtet; sie hat konzentriert und in eine geistlich geprägten Atmosphäre diskutiert.“(11)

„Im Hören auf die Schrift“? Sagt Bibel heute etwas anderes als 2001? Oder hat der „Geist Gottes“ über Nacht seine Meinung geändert? Oder stimmt etwas nicht mit den Ohren der Theologen? Hören die in der Schrift immer nur das, was sie hören wollen? (Albert Schweitzer habe diesen Hörschaden bereits vor 100 Jahren diagnostiziert – angesichts der damaligen „Leben-Jesu Forschung“.)

Oder: Vor 60 Jahren war die Stimmung in der Gesellschaft noch eine völlig andere. Damals wäre das „Hören auf die Schrift“ vielleicht glaubhaft gewesen. Heute aber entsteht ein anderer Eindruck: Die ev. Kirche hat Angst, den Anschluß zu verpassen, also rennt sie Politik und Medien hinterher und springt auf deren fahrenden Zug auf; sprich: sie knickt ein vor dem Lärm der veröffentlichten Meinung. Und dieses Einknicken sucht sie hinter einer fromm-theologischen Propaganda zu verstecken.

Oder: wenn die Kirchenleitung all ihren Eifer um Gesprächsprozeß, Einheit der Kirche usw. bereits vor ihrem Beschluß vom 21. 01. 2012 gezeigt hätte, wäre dieser Eifer u. U. glaubwürdig gewesen. Jetzt, hinterher, ist er das nicht mehr. Folglich hängt über all diesen Beteuerungen der Geruch; Mk 12,38f (sinngemäß): Die Schriftgelehrten gehen in frommen Gewändern und verrichten zum Schein lange Gebete.

Mit anderen Worten: Kirche tut alles, um den Widerspruch zwischen „auswendig“ und „inwendig“ zu verbergen. Wird dieser Geruch dennoch so durchdringend, dass die Stillen im Lande unruhig werden, schmiert man ihnen frommen Honig ums Maul. Und den reicht man ihnen auf güldenen Löffelchen. Bischof Bohl z. B. benutzte vor der sächsischen Synode die Löffelchen „Wahrheit in Christus“, „Christus, die Mitte der Schrift“, „was Christum treibet“ und „dass der Buchstabe tötet, aber nur der Geist lebendig macht“.(2)

All diese güldenen Honiglöffel haben eines gemeinsam: „Auswendig“ klingen sie fromm, aber niemand kann genau sagen, was „inwendig“ drin ist. Es ist nirgendwo verbindlich festgelegt, was Christum treibet, oder was der Geist lebendig macht oder wo genau die Mitte der Schrift zu finden ist. Im Gegenteil, dies alles ist „unterschiedlich interpretierbar und unbegrenzter Entfaltung und Differenzierung fähig.“(12) Die Betonung liegt dabei auf „unbegrenzt“! Sprich: den Deutungen sind keine Grenzen gesetzt. Jeder Mann und jede Frau kann sich eine eigene Mitte der Schrift suchen oder selbst entscheiden, was für ihn oder sie Christum treibet oder was der Geist lebendig macht oder eben auch nicht. Letztlich kann man dahinter alles verbergen bzw. man kann damit alles begründen.

In der Folge zeigt sich in unserer Kirche eine fatale Tendenz: Auswendig bekennt sie „Gott … den Schöpfer … das ewige Leben“, inwendig denkt sie Liebe (sprich: zwischenmenschliche Beziehungen), Evolution und „Endlichkeitsmanagement“; auswendig redet sie vom Wort Gottes, inwendig vertritt sie „Theologen Wort“; auswendig beschwört sie die Einheit der Kirche, inwendig faßt sie Beschlüsse, die genau diese Einheit zerstören; auswendig vertritt sie den christlichen Glauben, inwendig ist sie ein weltanschaulicher Flohzirkus; auswendig ist sie Kirche, inwendig ist sie „Welt“.

Und diese Loslösung des Inwendig vom Auswendig beginnt dort, wo der Sinn vom Zeichen gelöst wird; wo der Glaube die Stricke der göttlichen Buchstaben abwirft und eigene Wege geht. Wo der festgeschriebene Wortlaut der heiligen Schrift verdrängt wird von dem, wonach – wie Paulus bzw. Luther es in 2Ti 4,3 so trefflich formuliert – den Menschen die „Ohren jucken“. Wenn Bischof Bohl also sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann durchsäuert er seine Kirche mit „dem Sauerteig der Pharisäer, welches ist die Heuchelei“ (Luk 12,1).

II. Gott

Zu These 7. In unserer Kirche wird gern und viel vom „Wort Gottes“ geredet. Doch was genau bedeutet dieser Begriff? Er setzt ja voraus, dass da irgendwie und irgendwo ein Gott existiert, sprich: ein „höheres Wesen“, eine transzendente Person mit Verstand und Willen. Wenn dieser Gott uns Botschaften sendet, wenn er – wie auch immer – zu uns Menschen redet, dann ist das, was er uns zu sagen hat, halt „Wort Gottes“. Im Verständnis manchen Religionen geschieht dies durch Träume oder Visionen, im Alten Testament wurden diese Botschaften oftmals durch Propheten überbracht, im Neuen Testament heißt es, Gott habe geredet durch seinen Sohn (Heb 1,1). Für den christlichen Glauben heute liegen diese Botschaften in gedruckter Form vor. D. h., Gott wendet sich schriftlich an uns; er schickt uns sein Wort in Form eines Buches.

Der Haken ist nur, dass viele Theologen gar nicht an solch einen Gott glauben. Wenn sie dieses Wort benutzen, meinen sie halt Liebe oder „die Alles bestimmende Wirklichkeit“ oder den „Grund der Möglichkeit von überhaupt allem“ oder was auch immer – zumindest aber keine Person mit eigenem Verstand und Willen. Deshalb kann der „Gott“ dieser Theologen gar nicht reden und uns auch keine Botschaften schicken. Für diese Theologie gibt es gar kein „Wort Gottes“ im eigentlichen Sinne. Dieser Begriff dient nur als eine Art Stempel, den sie auf „Menschen-Worte“ drückt, um denen größeres Gewicht zu verleihen. Folglich ist das „Wort Gottes“ in unserer Kirche oft genug nur ein Etiketten-Schwindel, mit dem manche Theologen sich und ihr Reden wichtig machen.

Ich habe keine Ahnung, was genau Bischof Bohl meint, wenn er von „Gott“ spricht. Wenn er aber sagt: „Wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann bedeutet das: Der allmächtige Gott war nicht in der Lage, seiner Kirche die Heilige Schrift zu geben, die sie braucht; zumindest keine, in der genau das geschrieben steht, was „unser Vater im Himmel“ seiner Kirche zu sagen hat. Stattdessen müsse er laufend nachbessern. Der Heilige Geist sei gezwungen, den Theologen ständig hinterherzulaufen, um ihnen klarzumachen, dass der dreieinige Gott etwas anderes sagen möchte, als er in die Bibel hat schreiben lassen.

Außerdem scheint der Bischof zu denken: Der das Ohr gepflanzt hat, mag zwar hören können; und der das Auge gemacht hat, mag zwar sehen können – aber reden kann er nicht; zumindest nicht klar und verständlich. Die Unterscheidung von Buchstaben der Bibel und Gottes Wort unterstellt Gott gewissermaßen einen Sprachfehler: Der uns die Sprache gegeben hat, könne selber nicht richtig sprechen. Deshalb brauche er zum Reden menschliche Hilfe, sprich: die Theologen müssen übersetzen, was Gott so undeutlich vor sich hingestammelt hat.

Ich bin entschieden anderer Meinung. Ich glaube nicht, dass unser Gott solch ein Stümper ist. Im Gegenteil, ich glaube an Gott, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Ich glaube, dass dieser lebendige Gott das ungeheure Weltall und all die Wunder auf der Erde gemacht hat. Deshalb glaube ich auch, dass er ein Buch schaffen kann – und zwar genau so, wie er sich das vorgestellt hat. Ob dieses Buch dann unseren Erwartungen und Wünschen gerecht wird, ist eine andere Frage. Aber ich glaube, die Heilige Schrift samt allen ihren Buchstaben ist genau so geworden, wie Gott sie gewollt hat. Jesus ist kein Spinner, wenn er sagt; Mt 5,19: „Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht“. Es grenzt an Größenwahn, wenn Theologen klüger sein wollen als der Sohn des lebendigen Gottes und die Buchstaben der Bibel verwerfen.

Außerdem glaube ich, dass unser Gott Ursprung und Quelle aller Worte ist. Ich glaube an den Gott, der „sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“ Ich glaube an den Gott, der alle Dinge trägt mit seinem lebendigen Wort. Ich glaube, „wenn er spricht, so geschieht’s; wenn er gebietet, so steht’s da“. Ich glaube: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“.  Es ist geradezu aberwitzig, wenn Menschen meinen, Wort und Sprache besser zu beherrschen, als Gott das tut; wenn sie an den Worten dieses Gottes herummäkeln und herumbessern; wenn sie sich zu Kritikern und Meistern der Heiligen Schrift aufblasen.

Ich bin überzeugt: Gott selber hat uns die Bibel gegeben. Er selbst ist deren Verfasser. Der Heilige Geist hat sie – wie auch immer – durch Menschen hindurch geschrieben. Deshalb spricht Gott selber durch die Bibel zu uns, und zwar durch die Buchstaben, die dort schwarz auf weiß gedruckt sind. Und ich bin überzeugt, dass Gott uns genau die Bibel gegeben hat, die er wollte und die wir brauchen. Dort steht all das geschrieben, was wir wissen müssen – und zwar so, wie es für uns gut und richtig ist. Man muß es nur lesen. Und wenn wir etwas nicht verstehen, dann liegt das Problem nicht in der Bibel sondern bei uns.

Es ist und bleibt eine Tatsache, an der kein Theologe vorbei kommt; Mt 11,25: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart.“ Um die Bibel zu verstehen, braucht es zunächst keinen gelehrten Kopf sondern einen zerschlagenen, demütigen Geist, der „erzittert vor meinem Wort“ (Jes 66,2). Auch 1Ko 2,14 ist und bleibt eine Tatsache, an der selbst der klügste Theologe nichts ändern kann: „Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, denn es muß geistlich verstanden sein.“ Gott selbst muß uns sein Wort aufschließen und erklären. Wenn er das nicht tut, dann versteht auch der intelligenteste und aufgeklärteste Theologe nichts vom „Wort Gottes“ – und zwar absolut nichts. Er ist blind und taub für die geistliche Botschaft, die Gott uns durch die Bibel übermittelt. Von daher dürfte Jesus heute die gleichen Probleme mit seinen Jüngern haben wie seinerzeit; Joh 16,12: „Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen“. Wobei zu befürchten ist, dass wir heute noch sehr viel weniger ertragen können als seinerzeit die Apostel.

Nochmals, ich weiß nicht, an was für einen Gott Bischof Bohl glaubt. Aber wenn er sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann muß das ein anderer Gott sein als der, an den ich glaube.

III. Geist

Zu These 8. Einst galt in unserer Kirche „sola scriptura“: Die Heilige Schrift ist die letzte, entscheidende Autorität über Glaube, Theologie und Kirche. Heute dagegen wird „scriptura“ durch eine andere Autorität ersetzt. Bischof Bohl begründet dies mit 2Ko 3,6: „Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Er betont: „Der Geist will vom Buchstaben unterschieden sein“. Was letztlich bedeutet: Nicht was die Bibel sagt, sei entscheidend für unseren Glauben sondern etwas anderes. Es gelten nicht die Buchstaben, nicht der Wortlaut, nicht „es steht geschrieben“ – sondern es zähle ein „Geist“. Der stünde als letzte, entscheidende Autorität über Glauben, Theologie und Kirche. Damit wird die Kirche des Wortes zu der Kirche eines Geistes gemacht.

Anders formuliert: Für die Reformatoren galt die Bibel als „norma normans“. Sie war die Norm, die den Glauben „normierte“. An ihr mußten sich Theologie und kirchliche Ordnungen messen lassen. Die Bibel konnte das leisten, weil sie aus bedruckten Papier besteht; d. h. in ihr sind Normen und Maßstäbe festgeschrieben. Heute nun sei ein Geist diese normierende Norm. Der aber ist wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Die Normen und Maßstäbe dieses Geistes sind nirgendwo festgeschrieben. Die müssen erst in ihn hineingelegt werden. Selbstverständlich können die Normen dieses Geistes dann auch aus der Bibel stammen. Doch das müssen sie nicht; sie können auch aus ganz anderen Quellen kommen.

Das allerdings bringt erhebliche Risiken mit sich. Denn in der Bibel wimmelt es von Menschen, die sich auf solch einen Geist beriefen – und katastrophal daneben lagen. Einst waren es 400 Propheten, die dem König Ahab Heil und Sieg verkündeten im Kampf um Ramot in Gilead. Doch stattdessen starb der König und die Hunde leckten sein Blut (1Kö 22). Zur Zeit Jeremias predigten die Propheten den Bewohnern Jerusalems: „Ihr werdet das Schwert nicht sehen und keine Hungersnot bei euch haben, sondern Gott will euch beständigen Frieden geben an diesem Ort.“ (Jer 14,13) Doch stattdessen wurde die Stadt erobert, seine Bewohner starben „durch Schwert und Hunger“ oder wurden in die „babylonische Gefangenschaft“ geführt.

Auch in der Geschichte unserer Kirche geschah dies immer wieder. Thomas Münzer und die Täufer von Münster beriefen sich auf einen Geist – und scheiterten kläglich. So gab und gibt es bis heute zahlreiche Sekten, wo Menschen von ganzem Herzen ihren „Propheten“ folgen, obwohl die „falsche Offenbarung, nichtige Wahrsagung und ihres Herzens Trug“ predigen (Jer 14,14).

Deshalb betont die Bibel nachdrücklich: „Ihr Lieben, glaubet nicht einem jeden Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie von Gott sind, denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt“ (1Jh 4,1). Doch wie kann man denn die Geister prüfen? Wie kann ich feststellen, ob dieser Geist, der heute unsere Kirche treibt, tatsächlich der Geist Gottes ist? Vielleicht ist es auch der Geist der Welt (1Ko 2,12) oder ein Lügengeist (1Kö 22,22) oder der Geist des Irrtums oder gar der des Antichristen (1Joh 4,6 u. 3)? Immerhin warnte schon Paulus vor „Mächtigen und Gewaltigen, nämlich die Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, den bösen Geistern unter dem Himmel“ (Eph 6,12).

Einst wurde Jesus vom Teufel versucht. Seine Antwort lautete stets: „Es steht geschrieben“. Jesus hat sich auf den Wortlaut der Bibel berufen. Er hat buchstäblich auf die Buchstaben gepocht. Dieses Schwert des Geistes dürfte auch heute noch die einzige Waffe sein, mit dem die Gemeinde Jesu den Geistern dieser Welt widerstehen und die listigen Anläufe des Teufel abwehren kann. Wenn diese Waffe stumpf wird, bleiben als Abwehrkräfte nur noch menschliche Klugheit und guter Wille. Damit wird der Teufel vielleicht im Märchen überlistet aber nicht in der Realität. Allein der Blick in die Geschichte des letzten Jahrhundert zeigt, wie anfällig die aufgeklärte Menschheit ist gerade für die Geister, die den Himmel versprechen und die Hölle bringen. Dieser Blick zeigt auch, dass die evangelische Kirche alles andere als immun ist gegenüber solchen Geistern.

Deshalb stellen die Buchstaben der Bibel deutliche Warnschilder neben jede(!) Theologie; z. B. Jer 23,28: „Ein Prophet der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen? spricht der HERR.“ Oder Jer 29,8f: „Laßt euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der HERR.“

Eine Kirche, die die Buchstaben der Bibel abwertet, läuft Gefahr, geistliches AIDS zu bekommen. Ihr Immunsystem wird geschwächt. Sie verliert die Fähigkeit, zu unterscheiden zwischen Weizen und Stroh, zwischen Gottes Wort und Theologen Wort, zwischen Wort des HERRN und den Träumen von Gutmenschen jeder Art. Kurz: sie verliert die Fähigkeit, die Geister zu prüfen. Damit steht sie deren Einflüsterungen und Angriffen hilflos gegenüber. Wenn Bischof Bohl also sagt, „der Geist will vom Buchstaben unterschieden sein“, dann singt er praktisch das Lied: „Die Tür ist hoch, die Tor sind weit, komm doch herein, du Geist der Zeit.“

Zu These 9. Der Bischof beruft sich auf 2Ko 3,6: „Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ In meiner Bibel steht als Ãœberschrift über dem gesamten Kapitel „Die Herrlichkeit des Dienstes am neuen Bund“. Paulus unterscheidet darin zwischen der Herrlichkeit des alten Bundes und der Herrlichkeit des neuen Bundes, d. h. zwischen Gesetz und Evangelium. Er spitzt diese Unterscheidung zu und bringt sie auf den Punkt: Buchstaben oder Geist.

Als Laie kann ich theologische Feinheiten nicht beurteilen. Dennoch dürfte feststehen: Wenn Paulus hier „Buchstabe“ schreibt, meint er nur bestimmte Buchstaben, nämlich das schriftlich fixierte Regelwerk des jüdischen Gesetzes, die Thora. Und die umfaßt die fünf Bücher Mose. (Vielleicht auch das gesamte Alte Testament und sonstige Vorschriften des jüdischen Glaubens; die theologischen Nachschlagewerke sind sich da nicht ganz einig.) Die Buchstaben des Evangeliums, d. h. die Worte des Neuen Testamentes, zählen auf jeden Fall nicht dazu. Sie werden ausdrücklich davon ausgenommen. Letztlich dürfte Paulus in 2Ko 3,6 unterscheiden zwischen dem Regelwerk der jüdischen Religion und dem Glauben an Jesus Christus; zwischen dem Gesetz der Thora und dem Evangelium (d. h. dem Gesetz des Geistes in Rö 8,2 sowie dem Gesetz Christi in Gal 6,2). Zugespitzt: Paulus unterscheidet zwischen den Worten des Alten Testamentes und den Worten des Neuen Testamentes, zwischen den Buchstaben des Alten Bundes und den Buchstaben des Neuen Bundes.

Doch diese Unterscheidung trifft der Bischof nicht. Er bezieht das, was Paulus als „Buchstabe“ bezeichnet, auf die ganze Bibel; d. h. er bewertet alle ihre Buchstaben gleich. Der Bischof unterstellt, auch die Buchstaben des Evangeliums würden töten. Damit aber verfälscht er die Aussage des Paulus. Er gibt ihr eine Bedeutung, die sie nicht hat – um sie als Argument gegen den Wortlaut der Bibel zu verwenden.

Dieses Vorgehen sollte man sich gründlich auf der Zunge zergehen lassen: Einst galt „sola scriptura“; allein die Schrift, d. h. das in der Bibel mit Buchstaben Geschriebene, sei die Grundlage unseres Glaubens. Heute heißt es, die Buchstaben, das Geschriebene, die Schrift, würden töten; „scriptura“ sei gefährlich! Damit stellt die hohe evangelische Geistlichkeit vor der Bibel ein Warnschild auf: „Achtung Gefahr! Vor der Lektüre wird gewarnt! Der Wortsinn dieses Buches kann tödlich sein!“ Mit dieser Auslegung von 2Ko 3,6 wird das genaue Gegenteil gesagt von dem, was die Reformatoren wollten. Die evangelische Theologie wird buchstäblich auf den Kopf gestellt.

Obendrein erinnert dieses Vorgehen an Mt 26,59: „Die Hohenpriester aber und der ganze Hohe Rat suchten falsch Zeugnis wider Jesus.“ Mit ähnlichem falsch Zeugnis beschwören heute Theologen und hohe Geistlichkeit einen Geist, von dem sie behaupten, er könne uns „in alle Wahrheit leiten“? Und den stellen sie über die Buchstaben der Bibel, damit der – letztlich – die Heilige Schrift kontrolliert und kritisiert und korrigiert? Sie rufen mit ihrem falsch Zeugnis einen Geist, der – letztlich – entscheiden kann, was Gottes Wort (und damit Gott selber!) sagen darf und was nicht?

Dieser Geist der Theologen unterscheidet sich erheblich von dem Heiligen Geist in der Bibel. Denn dort steht in Joh 3,8: „Der Wind bläst, wo er will und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist.“ Bei dem Geist, auf den die heutige Theologie sich beruft, weiß man sehr wohl, woher er kommt und wohin er fährt. Denn er sagt – welch Zufall! – immer genau das, was der Theologe hören will. Dieser Geist erinnert weniger an den Wind als vielmehr an einen elektrischen Föhn. Man kann ihn nach Belieben ein- und ausschalten; und wenn er denn an ist, pustet er genau da, wo der Theologe es möchte. Oder er weht genau in die Richtung, in die die kirchliche Obrigkeit das Kirchenschiff zu steuern gedenkt.

Einst konnte der Geist Gottes für sich selber sprechen – und zwar durch die Buchstaben der Bibel. Die waren sein Werkzeug. Durch sie hat er das Leben spendende Worte Gottes zu den Menschen gebracht. Jesus sagt: „Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben“ (Joh 6,63). Diese Worte wurden mit Buchstaben festgeschrieben.  Doch die zählen heute nicht mehr: „Der Geist will vom Buchstaben unterschieden sein“, sagt der Bischof. Der Geist, der die Kirchenleitung treibt, will von den Worten Jesu unterschieden sein!

Das Ende vom Lied: Diese Theologie hat dem Geist Gottes das Werkzeug, die Stimme, die Worte genommen. Dafür hat sie ihm andere Werkzeuge gegeben, nämlich den kritischen Verstand bzw. die persönliche Meinung des Theologen. Was der für gut und richtig befindet, das gilt heute als vom Geist Gottes gebilligt; was dem Theologen nicht zusagt, sei es eben nicht. Dadurch darf der Heilige Geist heute nur noch durch die Theologen sprechen – dass er auch einmal eine eigene Meinung äußern könnte, ist praktisch ausgeschlossen.

Wenn Bischof Bohl sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann überantwortet er auch den Geist Gottes in die Hände der Menschen. Die können ihm nun vorschreiben, was er lebendig machen darf und was nicht. Oder richtiger: er macht den Heiligen Geist zu einer variablen Größe in theologischen Gleichungen, zur Rechtfertigung für Beliebigkeit.

IV. Kirche

Zu These 10. Zu allen Zeiten und vermutlich in allen Religionen gab es „spirituelle Spezialisten“. Die standen zwischen Gott und den einfachen Menschen. Sei es der Schamane im Urwald, sei es der katholische Priester in einer Kathedrale – sie alle berufen sich auf besondere religiöse Fähigkeiten, die sie aus der Masse der Menschen herausheben. Dagegen ist Luther aufgestanden und hat betont, vor Gott sind alle gleich! Egal ob Papst oder Priester oder Mönch oder Bauer oder Handwerker oder Hausfrau – unser aller alltägliches Leben kann ein Gottesdienst sein und ist, wenn es im Glauben geschieht, vor Gott wertvoll.

Wenn aber der Wortlaut der Bibel eine Sache ist und das Wort Gottes eine andere, dann wäre dieser Grundpfeiler der Reformation zerstört. Denn wir Bauern, Handwerker, Hausfrauen usw. könnten dann nicht wissen, was Gott uns sagen will. Es brauchte Spezialisten mit besonderen Fähigkeiten, die uns einfachen, dummen Christenmenschen erklären, was Gottes Wort ist bzw. was Gott uns zu sagen hat. Wir Laien wären abhängig von Priestern und Schriftgelehrten.

Diese religiösen Spezialisten müßten dann z. B. Gottes Wort vom Menschenwort in der Bibel trennen.  Sie würden entscheiden, was in der Bibel als Gottes Wort gelten darf und was nicht. Sie wären eine Instanz bzw. eine Autorität, die über der Schrift stünde, sie kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert; eine Autorität die festlegt, was Gott sagt und was nicht bzw. was Gott meint, auch wenn in der Bibel etwas anderes steht. Im normalen Leben nennt man solch eine Instanz Vormund und in der Kirche heißt sie Lehramt.

Ein solches hat tatsächlich viele Jahrhunderte lang über den Glauben der Christenheit geherrscht, zumindest in dem Teil Europas, der römisch-katholisch war. Doch dann kam Luther und stellte klar: Auch Päpste und Konzilien können irren. Deshalb darf kein Lehramt sondern allein die Bibel festlegen, was wir glauben können und was nicht. Auf diesem Fundament, „sola scriptura“, wurde vor 500 Jahren unsere evangelische Kirche errichtet.

Doch in der hat mittlerweile ein erneuter Umbruch stattgefunden. Eine große Mehrheit der evangelischen Theologen ist halt zu der Ãœberzeugung gekommen, der Wortlaut der Bibel sei wenig glaubhaft, unzuverlässig und sogar gefährlich – denn immerhin, so betonen sie, die Buchstaben der Bibel töten! Um diese Probleme zu beheben, wurde das „Wort Gottes“ von den Buchstaben der Bibel losgelöst und in das Ermessen der Theologen gestellt; d. h. die Heilige Schrift wurde erneut entmündigt. Zur Abwechslung wurde nun ein evangelisches Lehramt etabliert, das die Buchstaben der Bibel kontrolliert. Dieser evangelische Vormund trägt den Namen „historisch kritische Methode“: allein der (kritische!) Theologe entscheidet, was Gottes Wort ist und was nicht, was in unserer Kirche als richtig und als falsch, als Wahrheit und als Lüge gilt.

Damit ist die evangelische Kirche wieder in den Zustand vor der Reformation zurückgefallen. Der Unterschied ist nur: das katholische Lehramt ist über Jahrhunderte gewachsen. Es ist geordnet und berechenbar. Da kann jeder wissen, woran er ist. Das Lehramt in der evangelischen Kirche besteht aus dem ungeordneten Nebeneinander zahlreicher Professoren, deren Lehren eher zufällig aus dem jeweils herrschenden Zeitgeist erwachsen.

Wohlgemerkt: Es heißt, der größte Erfolg des Teufels sei, die Menschen davon überzeugt zu haben, dass es ihn nicht gäbe. Ähnlich gehört zum Wesen des evangelischen Lehramtes die Behauptung, es existiere gar nicht. Wer sich aber ein wenig mit der ev. Kirche bzw. deren Theologie beschäftigt, der begegnet ihm auf Schritt und Tritt. In ihren geistlich-theologischen Strukturen sind die Protestanten heute kaum mehr als eine katholische Sekte.

Dies belegt z. B. Bischof Bohl, wenn er sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“. Damit entmündigt er die Bibel und zerstört so das geistliche Fundament unserer Kirche: das Priestertum aller Gläubigen. An dessen Stelle setzt er die Dominanz der Fachtheologie, eben das evangelische Lehramt.

Zu These 11. Das evangelische Kirchenverständnis tendiert – zumindest in der Theorie – in die Richtung: „Alle Macht geht von der Gemeinde aus.“ Denn die beauftrage, sprich: ordiniert, Pfarrer, Bischöfe usw., damit diese Theologie sachgerecht ausüben. Daher seien Pfarrer, Bischöfe usw. der Gemeinde zur Rechenschaft verpflichtet. In diesem Zusammenhang wird gerne Luther zitiert, wonach „eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen“. (Der Schluß des Zitates wird geflissentlich weggelassen: „… und Lehrer zu berufen, ein und abzusetzen.“)

Die Praxis sieht wie üblich anders aus. Es fragt sich, ob Theologen und hohe Geistlichkeit jemals bereit waren, sich von der Gemeinde in die Karten schauen zu lassen. Doch selbst wenn, wie könnte das denn geschehen? Um „alle Lehre zu beurteilen“, braucht die Gemeinde einen Maßstab, mit dem sie die theologische Lehre messen und bewerten kann. Wenn Theologen aber behaupten, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann schlagen sie der Gemeinde diesen Maßstab aus der Hand. „Der Geist“, „die Mitte der Schrift“, „was Christum treibet“ und all diese güldenen Löffelchen sind viel zu ungenau und deshalb unbrauchbar. Mit diesen schwammigen Allgemeinplätzen entziehen sich Theologen jeder Kontrolle. Denn wie könnte ein fachfremder Laie die verworrenen Lehren der „wissenschaftlichen Theologie“ beurteilen – es sei denn, er mißt sie am Wortlaut der Schrift?

Der badische Bischof U. Fischer kritisierte vor der dortigen Landessynode „bloßes Rezitieren und Reklamieren“ von Bibelversen sowie einen „naiven Biblizismus“, der das Wort Gottes mit den Worten der Bibel gleichsetze. „Vielmehr lasse sich in einem mehrstufigen Verfahren aus theologischen, historischen und soziologischen Einsichten ein ethisches Urteil gewinnen, ‚dass beanspruchen kann, an dem aus der Bibel zu uns sprechenden Wort Gottes orientiert zu sein'“.(13) In solchen Aussagen schwingt unüberhörbar der feine Unterton: „Laien haben keine Ahnung. Deshalb sollten sie den Mund halten und die Theologie den Theologen überlassen.“

Diese Haltung ist aktuell sehr gut zu beobachten. Die Leitung der sächsischen Landeskirche hat die Türen ihrer Pfarrhäuser der Homo-Ehe weit geöffnet. (Die diesbezüglichen Bedingungen dürften in der Praxis kaum von Bedeutung sein.) Ca. 120 Kirchenvorstände hatten gebeten, dies nicht zu tun. Sie wurden ignoriert. Ihr Argument „Aber in der Bibel steht doch …“ konnte Kirchenleitung und Synode nicht umstimmen.

Eine entsprechende Arbeitsgruppe hatte zwar in ihrem Abschlußbericht einstimmig festgehalten, „dass die im Alten Testament beschriebenen homosexuellen Handlungen durchweg negativ als gottwidriges und schöpfungswidriges Verhalten von Männern beurteilt werden“ und „Im Neuen Testament gibt es ebenfalls keine positiven Aussagen zur Homosexualität““. Dennoch kam die Mehrheit der dort versammelten Theologen zu dem Ergebnis: „Auch die gelebte Homosexualität untersteht dem Liebesgebot und somit dem Anspruch und Zuspruch Gottes“.

Gegen solch geballten Sachverstand standen die 120 Gemeinden auf verlorenem Posten. Sie hatten weder das Recht noch die Macht, die Lehre in der Landeskirche zu beurteilen. Wenn Bischof Bohl also sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, entmündigt er nicht nur die Heilige Schrift sondern auch die Gemeinden. Und er macht die evangelische Kirche zur Theologenkirche. Die können dann tun und lassen, was sie wollen – kein Mensch kann sie daran hindern.

Zu These 12. In der Beziehung zwischen Jesus und seiner religiösen Obrigkeit spiegelte sich in der Tat die Spannung zwischen Evangelium und Gesetz, die Spannung zwischen dem Geist, der lebendig macht, und dem Buchstaben, der tötet. Dennoch wurden Schriftgelehrte und Hohenpriester von noch ganz anderen Motiven getrieben; z. B. Joh 11,48: „Lassen wir Jesus gewähren, dann werden sie alle an ihn glauben, und es kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute“.

Dies dürfte heute nicht anders sein. Religiöse Organisationen schielen nach Einfluß auf „Land und Leute“. Folglich neigen Kirchenleitungen dazu, dieses Streben bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. Was mitunter fatale Folgen haben kann: Vor 80 Jahren nahm die evangelische Kirche eine tiefbraune Farbe an. Viele Kirchenführer wandelten sich in stramme „Deutsche Christen“ und einige Landeskirchen (darunter die sächsische) finanzierten in Eisenach das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ (kurz: „Entjudungs-Institut“). Und nur wenige Jahre später zierte die Landeskirchen in der DDR ein rötlicher Anstrich. U. a. warben im gesamten Ostblock die „Kirchen im Sozialismus“ für dessen sozialistischen Propaganda-Weltfrieden.

Heute nun singen Politik und Gesellschaft das Hohelied der Homosexualität. Und prompt stimmt ev. Kirche kräftig ein. Die Kirchenleitungen singen mit der Welt im Chor und begründen dies mit dem „Hören auf die Schrift“ Es tut mir leid, aber auch hier werde ich mißtrauisch: Dreht sich der aktuelle Streit wirklich um unser Schriftverständnis – oder geht es eher um unser Weltverständnis? Folgt unsere Kirche tatsächlich Gott und seiner Wahrheit – oder ihrem Streben nach Einfluß auf „Land und Leute“?

Die alten Römer waren ein tolerantes Volk. Jeder konnte denken und glauben, was er wollte – vorausgesetzt er unterwarf sich der der offiziellen Staats-Ideologie und akzeptierte den Kaiser als gottähnliches Wesen. Diese Unterwerfung geschah in Form eines kleinen Opfers auf einem entsprechenden Altar. Wer das darbrachte, zählte als guter Römer; wer es verweigerte, galt als Staatsfeind und riskierte u. U. Kopf und Kragen. In der DDR hatten die Wahlen, Jugendweihe usw. eine ähnliche Funktion. Wer da hinging, verneigt sich gewissermaßen vor der der sozialistischen Ideologie und galt als guter Staatsbürger. Wer das nicht tat, konnte sich u. U. erheblichen Ärger einhandeln. Heute opfern Politik und Medien auf dem Altar der „political correctness“. Wer da mitspielt, zählt als guter Demokrat. Wer sich dieser Ideologie verweigert, wird u. U. heftig angefeindet.

In der Barmer Erklärung von 1934 heißt es (3): „Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche ihre Botschaft und ihre Ordnungen ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Ãœberzeugungen überlassen.“(14) In genau dieser Spannung standen Christen und Kirche zu allen Zeiten: Gehorchen wir dem erste Gebot oder akzeptieren wir, dass „andere Götter“ uns beherrschen? Ist allein Christus unser Herr, oder dulden wir noch andere Herren über uns? Stehen wir zu unserem Glauben oder unterwerfen wir uns anderen Ideologien?

Im alten Rom haben viele Christen das Kaiseropfer verweigert – und dafür u. U. mit ihrem Leben bezahlt. Aber es gab auch Christen, die dieses Opfer dargebracht haben. Im Dritten Reich haben viele Christen den Nazis Widerstand geleistet. Aber eine ungleich größere Zahl hat sich, wie die meisten Landeskirchen, deren Ideologie unterworfen. In der DDR haben viele Christen eine klare Haltung vertreten. Dennoch war es eine weit verbreitete Praxis, zunächst zur Jugendweihe zu gehen und ein Jahr später zur Konfirmation. Auch wurde die Staatsnähe und Stasi-Verstrickung der ev. Landeskirchen nicht wirklich aufgearbeitet. Heute entzündet sich dieser Konflikt u. a. am Thema „Homosexualität“: Beziehen Christen und Kirchen eine eigene, unabhängige Position, die sich an der Bibel (und unabhängiger Wissenschaft) orientiert – oder knicken sie ein und unterwerfen sich den Forderungen der Ideologie, die derzeit Politik und Gesellschaft dominiert?

Dieses Thema ist sehr sensibel. Man sollte sich vor leichtfertigen Urteilen oder gar Verurteilungen hüten. Unser Gott ist gnädig und barmherzig; bei ihm ist viel Vergebung. Er wird niemanden verurteilen, nur weil er oder sie unter dem Druck der Umstände einmal eine falsche Entscheidung getroffen hat. Dennoch steht hinter diesen Fragen ein großer Ernst: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den will auch ich bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will auch ich verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“ (Mt 10,32f) Wer Christ ist und zu seinem Glauben steht, mußte zu allen Zeiten Schwierigkeiten in Kauf nehmen; Joh 15,19: „Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb. Weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt erwählt habe, darum haßt euch die Welt.“

Christen und ihre Kirche stehen grundsätzlich immer vor der Entscheidung: Stehen wir zu unserem Gott und seiner Wahrheit und nehmen den damit verbundenen Ärger in Kauf – oder gehen wir diesem Ärger aus dem Weg, indem wir „der Welt“ das geben, was sie von uns fordert. Dies ist oft genug weder eine einfache noch eine leichte Entscheidung! Eines aber ist sicher: Wenn eine Kirche das Wort Gottes von den Buchstaben der Bibel loslöst und es „dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Ãœberzeugen“ anpaßt, dann sollte sie sich der Warnung des Jakobus bewußt sein; Jak 4,4: „Wißt ihr nicht, daß Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein.“

Zwischen „absolut reinem Glauben“ und völliger Anpassung liegt ein unendlich weites Feld. Dennoch, wenn Bischof Bohl sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann schickt er seine Kirche auf einen Weg, auf dem sie Gefahr läuft, sich Gott zum Feind zu machen.

Nachwort 1:

In dem Bericht der Kirchenleitung an die Landessynode im Herbst 2012 findet sich fast ganz am Schluß ein Zitat von M. Buber (gekürzt): „Die wahre Gemeinde entsteht … daß sie alle zu einer lebendigen Mitte in lebendiger gegenseitiger Beziehung stehen … der Baumeister ist die lebendig wirkende Mitte“.(15)

Genau das ist der entscheidende Punkt! Und genau das ist die entscheidende Frage: Was ist denn diese „lebendig wirkende Mitte“, die unsere Kirche zu einer „wahren Gemeinde“ macht? Anders ausgedrückt: Dreht sich der Streit, der derzeit die sächsischen Gemüter aufwühlt, nur um Randfragen des Glaubens? Oder geht es da um viel, viel mehr – nämlich um genau diese „lebendig wirkende Mitte“? Sind die sächsischen Gemüter in den entscheidenden Fragen des Glaubens noch immer ein Herz und eine Seele? Oder ist der Streit um die Homosexualität nur ein Symptom dafür, dass unsere Kirche in ihrem tiefsten Inneren bereits zerrissen und gespalten ist?

Wenn Bischof Bohl sagt, „wir setzen nicht das Wort Gottes mit den Buchstaben der Bibel in eins“, dann teilt er unsere Kirche in (mindestens) zwei Lager: A) sind diejenigen, die anderer Meinung sind; diejenigen, für die die Bibel Gottes Wort ist, deren Glaube an den Wortlaut, an die Buchstaben der Heiligen Schrift gebunden ist. Lager B) sind diejenigen, die die Meinung des Bischofs teilen; die den Wortlaut der Bibel kritisieren und ihren Glauben an die Auslegung, an die „Interpretation“ der Bibel hängen.

Kurz: Für A) ist das Wort Gottes festgeschrieben; für B) ist es veränderlich. A) sucht es in Schrift; B) sucht es im Hirn des Theologen. Aus dieser unterschiedlichen Weichenstellung heraus, entwickeln sich halt unterschiedliche theologische Positionen. Diese mögen sich äußerlich ähneln, in der Sache aber haben sie wenig gemein. Die Folge davon ist eine Kirche, die auswendig wie eine Einheit wirkt, inwendig aber bereits zerbrochen ist – eben weil sie kein alle verbindendes „Wort Gottes“ mehr besitzt und damit die „lebendig wirkende Mitte“ verloren hat.

Von daher stellt sich zwangsläufig die Frage: Wenn das Fehlen eines gemeinsamen Fundamentes und daraus folgend das Fehlen einer gemeinsamen Theologie und eines gemeinsamen Glaubens nicht den „status confessionis“ auslöst – WAS DANN ? ? ?

Nachwort 2

Im 13. Kapitel der Offenbarung ist zunächst die Rede von einem Tier, dem Macht gegeben wurde, „zu kämpfen mit den Heiligen und sie zu überwinden“. Danach wird ein zweites Tier beschrieben, das „verführt die auf Erden wohnen, durch die Zeichen, die zu tun … ihm Macht gegeben ist“. Seit es Christen und ihre Kirche gibt, sind sie diesen beiden Gefahren ausgesetzt: Bedrohung und Verführung. Auch heute werden Christen in vielen Ländern bedroht; sie werden mit allen erdenklichen Mitteln unter Druck gesetzt. In Europa ist dieser Druck derzeit noch relativ gering. Dafür ergießen sich ganze Fluten von Verführung über die Christenheit und ihre Kirchen.

Um diesen Fluten widerstehen zu können, braucht unsere Kirche Christen, die ihre Bibel kennen; die sie tagtäglich lesen – vorwärts, rückwärts, kreuz und quer; Menschen, die die Buchstaben der Heiligen Schrift regelrecht essen: „Dein Wort ward meine Speise“, schreibt Jeremia, „dein Wort ist meines Herzens Freude und Trost.“ (Jer 15,16) Sie braucht Christen, die Gottes Gebot wörtlich und buchstabengetreu befolgen; Jos 1,8: „Laß das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, daß du hältst und tust in allen Dingen, nach dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten.“

Und sie braucht die Hilfe des echten, des tatsächlichen „Heiligen Geistes“. Der möge solchen Christen die Fähigkeit schenken, die Geister zu unterscheiden, die unsere Kirche in alle nur denkbaren theologischen Himmelsrichtungen auseinander treiben.

Wenn unsere Kirche Zukunft haben will, braucht sie eine Theologie, die unter Schmerzen gelernt hat: Die Geister töten, aber die Buchstaben machen lebendig. Möge Gott uns wieder solche Theologen erwecken!

Andreas Rau
rau@DerLaie.com
www.DerLaie.com
Tel.: 03904 461485

Quellenangaben

(1)        http://www.evlks.de/publikationen/texte/20337.html

(2)        http://www.evlks.de/doc/Vorlage_50_Bericht_des_Landesbischofs.pdf

(3)        Kirchenpräsident P. Steinacker, „zeitzeichen“ 11/2005 S. 39

(4)        z. B. in „Ist Jesus dem Glauben im Weg?“; Interview mit Prof. Andreas Lindemann, Bethel; DER SPIEGEL 50/1999, Seite 130 ff.;   http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15239644.html

(5)        „Der Sonntag“ 10/2013, Leserbrief von G. Wizisla, Falkensee

(6)        Kirchenpräsident Steinacker; „zeitzeichen“ 11/2005 S. 40

(7)        Prof. E. Jüngel; „ideaSpektrum“

(8)        „Der Sonntag“ 5/2013

(9)        „ideaSpektrum“ 36/2012

(10)      http://www.sueddeutsche.de/leben/ekd-sprecher-zu-kirchensteuer-urteil-wir-laden-sie-trotzdem-immer-wieder-ein-1.1479430

(11)      Pastor@lbrief vom 27. 02. 2012

(12)      Prof. W. Härle, „Dogmatik“ S. 136f

(13)      http://p18860.typo3server.info/nachrichten/detailartikel/artikel/bischof-warnt-vor-irrwegen-bei-der-bibelauslegung.html  Zitiert nach ideaSpektrum

(14)      Evangelisches Gesangbuch Nr. 810

(15)      http://www.evlks.de/doc/Vorlage_49_Bericht_der_Kirchenleitung.pdf

(16)      „Geistliches Wort zum Auftakt des Gesprächsprozesses …“ http://www.evlks.de/doc/Geistliches_Wort_des_Landesbischofs_zum_Gespraechsprozess.pdf

 

 

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 29. April 2013 um 10:45 und abgelegt unter Kirche, Theologie.