Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Immer mehr Deutsche sind psychisch krank

Mittwoch 30. MĂ€rz 2011 von Hans-Arved Willberg


Hans-Arved Willberg

Immer mehr Deutsche sind psychisch krank

Im Jahr 2006 meldete das Robert Koch Institut, das viele umfangreiche und reprĂ€sentative Untersuchungen des Gesundheitszustands der Deutschen fĂŒr das Statistische Bundesamt durchfĂŒhrt, dass die Bedeutung psychischer Erkrankungen mangelnder verlĂ€sslicher Daten wegen lange Zeit unterschĂ€tzt worden sei. Das Robert Koch Institut und die wissenschaftlichen Institute der großen Krankenkassen stellen zudem fest, dass schon seit einigen Jahren die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen immer weiter ansteigen. Im Gegensatz dazu ist der Trend bei anderen Krankheiten insgesamt rĂŒcklĂ€ufig. In der Rangfolge der Fehlzeiten durch Krankheit stehen die psychischen Erkrankungen nach den Muskel-Skelett-Erkrankungen, den Verletzungen und den Atemwegserkrankungen an vierter Stelle.

Aus dem Rahmen fallend ist bei den psychischen Erkrankungen vor allem die LĂ€nge der durchschnittlichen Krankheitsdauer. WĂ€hrend sie bei Atemwegserkrankungen zum Beispiel nur 6,4 Tag betrĂ€gt, fehlen der AOK zufolge psychisch kranke Arbeitnehmer im Schnitt 22,5 Tage pro Jahr. Fast drei Viertel der Betroffenen werden außerdem ihrer psychischen Störungen wegen mehrmals jĂ€hrlich krank geschrieben. Besonders hĂ€ufig sind Frauen betroffen und besonders lang dauern die Krankheitszeiten bei Ă€lteren Arbeitnehmern. Mit dem Alter nimmt auch die HĂ€ufigkeit der psychischen Erkrankungen zu. Da die Bevölkerung insgesamt immer Ă€lter wird, ist schon allein aus diesem Grund in den kommenden Jahren ein weiteres Anwachsen der Epidemie psychischer Störungen zu erwarten. Dem Anfang MĂ€rz erschienenen Barmer Gesundheitsreport nach kommt dadurch derzeit eine Summe von insgesamt 44,1 Millionen Ausfalltagen zusammen. Der wirtschaftliche Schaden wird auf vier Milliarden Euro geschĂ€tzt. Der Aufwand fĂŒr die Behandlung dieser Störungen lag 2008 dem Statistischen Bundesamt zufolge bei 26,7 Milliarden Euro. Psychische Störungen sind mittlerweile der Hauptgrund fĂŒr gesundheitsbedingte FrĂŒhpensionierungen.

Schon im Zusammenhang des Ende der 90er Jahre fertiggestellten groß angelegten „Bundesgesundheitssurveys“ wurde geschĂ€tzt, dass ungefĂ€hr 32 Prozent der Deutschen im „erwerbsfĂ€higen“ Alter zwischen 18 und 64 Jahren im Lauf eines Jahres unter mindestens einer ernst zu nehmenden psychischen Störung litten. UngefĂ€hr die HĂ€lfte davon hĂ€tte sofortige therapeutische UnterstĂŒtzung benötigt. Dass jedenfalls ein Drittel der erwachsenen Deutschen innerhalb eines Jahres seelische Störungen mit Krankheitswert erleiden, darf heute als gesichert angesehen werden. FĂŒr die gesamte EU wird von 27 Prozent gesprochen; fĂŒr ganz Europa werden Zahlen bis zu 20 Prozent genannt. Im Jahr 2007 wurde die Zahl der erwachsenen Deutschen, die jĂ€hrlich wenigstens eine psychische Störung entwickeln, auf 37 Prozent der Frauen und 25 Prozent der MĂ€nner beziffert. Dass die MĂ€nner so „gut“ abschneiden, liegt nach Meinung der Experten nicht an ihrer grĂ¶ĂŸeren psychischen StabilitĂ€t, sondern an ihrer geringeren Bereitschaft und FĂ€higkeit, SchwĂ€chen zuzugeben. MĂ€nner kompensieren ihre Probleme darum auch eher durch „gesellschaftsfĂ€hige“ Verhaltensweisen wie Arbeitssucht und Alkohol.

Die stĂ€rkste Zunahme ist bei den Depressionen zu verzeichnen. Sie nehmen heute vor den „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“ den ersten Platz der HĂ€ufigkeit psychischer Störungen ein. Die Weltgesundheitsorganisation rechnet damit, dass 2020 die depressiven Störungen nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen an zweiter Stelle der KrankheitshĂ€ufigkeit weltweit stehen werden und dass dann sowohl die meisten frĂŒhzeitigen TodesfĂ€lle als auch die meisten psychischen Behinderungen darauf zurĂŒckzufĂŒhren sein werden. Im Jahr 2006 erlitten 15 Prozent der Frauen und acht Prozent der MĂ€nner in Deutschland mindestens eine depressive Phase. Einer von sieben schwer depressiven Deutschen stirbt durch Suizid. Der gesamtwirtschaftliche durch Depressionen entstehende Schaden in den EU-Mitgliedsstaaten wurde fĂŒr 2004 auf 118 Milliarden Euro beziffert. Stark zugenommen haben auch Angststörungen und SĂŒchte.

Einen Hauptgrund fĂŒr die Epidemie psychischer Störungen sehen Experten in ĂŒbermĂ€ĂŸigem Stress am Arbeitsplatz. Es wird davon ausgegangen, dass diese Probleme in Zukunft noch weiter ansteigen werden. Folgende Faktoren werden genannt:

– Termindruck
– Zu hohe Erwartungen an das Arbeitstempo
– Gesteigerte KomplexitĂ€t der Arbeitsprozesse
– Störungen der ArbeitsablĂ€ufe
– Umstrukturierungen
– MissverstĂ€ndnisse
– UngeklĂ€rte Kompetenzen
– Probleme mit der Technik
– Wirtschaftlicher Druck, der auf den Unternehmen lastet
– Angst um den eigenen Arbeitsplatz
– Mangelnde Anerkennung am Arbeitsplatz
– Mobbing

Der Barmer Gesundheitsreport stellt fest, dass psychische Belastungen auffallend hĂ€ufig in Berufen vorkommen, die mit großen psychosozialen Herausforderungen verbunden sind: Vor allem betroffen seien Krankenpflege und Sozialarbeit. Sehr gefĂ€hrdet seien aber auch Berufe, die durch ĂŒberdurchschnittliche Monotonie geprĂ€gt sind: hier seien vor allem VerkĂ€uferinnen betroffen. Auch das Bildungsniveau spielt anscheinend eine deutlich begĂŒnstigende Rolle fĂŒr die Entstehung seelischer Störungen.

Wie zuverlĂ€ssig sind die statistischen Daten? Einerseits hat die SensibilitĂ€t fĂŒr psychische Stö-rungen bei der Bevölkerung wie auch bei den Medizinern zugenommen. Daraus darf vorsichtig gefolgert werden, dass eine gewisse Anzahl der Diagnosen ĂŒbertrieben sein mögen. Andererseits muss aber auch mit einer großen Dunkelziffer gerechnet werden. Zum Beispiel weist die Erkenntnis, dass wohl nur etwa fĂŒnf Prozent der Muskel-Skelett-Erkrankungen eindeutig auf organische Ursachen zurĂŒckzufĂŒhren sind, auf den oft nur schwer wahrnehmbaren hohen Anteil psychosomatischer HintergrĂŒnde bei körperlichen Erkrankungen hin.

Der Psychologieprofessor Hans-Ulrich Wittchen, Leiter der Untersuchungen ĂŒber die Verbreitung der psychischen Störungen und ihre Behandlung im Rahmen des Gesundheitssurveys Ende der 90er Jahre, bilanzierte eine „gravierende Unterversorgung“ von Menschen mit seelischen Erkrankungen. Der Barmer Gesundheitsreport 2009 konstatiert, dass psychische Störungen nach wie vor „selten frĂŒhzeitig diagnostiziert und noch seltener adĂ€quat behandelt“ werden.

Der Verfasser des Barmer Gesundheitsreports 2009, der Arbeitspsychologe Professor Rainer Wieland, kommt zu dem Schluss, dass die psychische Gesundheit „die Herausforderung der Gesellschaft von morgen“ sein werde. Die Gesundheit wĂŒrde „als Humanressource der Unternehmen im 21. Jahrhundert eine zunehmend wichtige Rolle spielen.“ Dabei gelte es, sich statt wie bisher auf die Pathogenese, also auf die Entstehungsfaktoren von Krankheit, zu konzentrieren, sondern mehr noch auf die Salutogenese, also auf die Bedingungen nachhaltiger Gesundheit. Seelische Gesundheit und Wohlbefinden seien eine Unternehmensressource, „die fĂŒr die WettbewerbsfĂ€higkeit steigende Bedeutung“ erlangen werde. „Die Gesundheitskompetenz eines Unternehmens wird dadurch zukĂŒnftig auch eine wesentliche SchlĂŒsselkompetenz eines Unternehmens darstellen“, sagte Wieland auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gesundheitsreports. Damit bestĂ€tigt sich wieder einmal mehr die These des christlichen Wirtschaftstheoretikers Leo Nefiodow, dass wir an der Schwelle zu einem neuen ökonomischen Zeitalter stehen, das die gegenwĂ€rtige Epoche der Informationstechnologie ablöst und maßgeblich durch die Faktoren „Gesundheit“ und „Sozialkompetenz“ geprĂ€gt sein wird.

Hans-Arved Willberg, Karlsruhe (Quelle: „Bonner Querschnitte“)

Der Autor, Hans-Arved Willberg, steht fĂŒr Interviews gern zur VerfĂŒgung und kann kontaktiert werden ĂŒber: Institut fĂŒr Seelsorgeausbildung (ISA) Hermann-Weick-Weg 1 76229 Karlsruhe , Tel.: (0721) 6655-149; Fax: (0721) 6655-398; E-Mail: (willberg@life-consult.org) (www.life-consult.org)

 

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 30. MĂ€rz 2011 um 16:47 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Seelsorge / Lebenshilfe.