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Die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens

Freitag 12. März 2010 von Prof. Dr. Rainer Mayer


Prof. Dr. Rainer Mayer

Die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens

1. Der Mensch auf der Suche nach sich selbst
So weit wir die Geschichte kennen, hat es immer Menschenbilder gegeben, mit deren Hilfe die Menschen sich in der Welt orientierten. Allerdings gilt es als besonderes Kennzeichen der Neuzeit, dass unser Zeitalter das erste ist, „in welchem der Mensch sich völlig und rückhaltlos problematisch geworden ist, in dem er nicht mehr weiß, wer er ist und zugleich an seiner eigenen schmerzhaften Unkenntlichkeit leidet“[1]. Jürgen Moltmann spricht vom „verborgenen Menschen“[2]. Martin Heidegger stellte zwei Dinge fest. Einerseits: „Keine Zeit hat so viel und so Mannigfaltiges vom Menschen gewusst wie die heutige.“ Andererseits: „Aber auch keine Zeit wusste weniger, was der Mensch sei, als die heutige.“[3] Schon Dostojewski schrieb: „Die Ameise kennt die Formel ihres Ameisenhaufens, die Biene die Formel ihres Bienenstocks… Nur der Mensch kennt seine Formel nicht.“[4]

Entfalten wir den ersten Satz von Heidegger: „Keine Zeit hat so viel und so Mannigfaltiges vom Menschen gewusst wie die heutige…“ Politiker, Psychologen, Soziologen, Mediziner, Juristen, ja selbst Wirtschaftsinstitute entwerfen ihr je eigenes Bild vom Menschen und agieren entsprechend. Es handelt sich um viele einzelne Facetten, von denen jede besonders deutlich zu sehen verspricht – und doch sind es immer nur Teile, Bruchstücke; es fehlt das geistige Band. Offen ist, was den Menschen zum Menschen macht. – In der Tat ist in der Neuzeit der Mensch selbst ganz in den Mittelpunkt alles Denkens und Handelns gerückt. Welche Weltanschauung oder Ideologie hätte nicht „Humanität“ und „Menschenrechte“ auf ihre Fahnen geschrieben? – Die Hochachtung für Humanität und Menschenrechte ist zweifellos zu begrüßen, doch das Problem besteht ja darin, dass umstritten ist, was dem Menschen wirklich dient, weil fraglich wurde, wer der Mensch letztlich ist.

Nun der zweite Satzteil: „Aber auch keine Zeit wusste weniger, was der Mensch sei, als die heutige.“ – Bis in die Neuzeit hinein hatte der Versuch einer Wesensbestimmung des Menschen seinen philosophischen Kontext in einer kosmischen Gesamtschau, die Gott, Welt und Mensch umspannte. Insbesondere seit Descartes’ (1596 – 1650) Bestimmung des „Ich“ als eines Seienden, das durch sich selbst zu existieren vermag („cogito ergo sum“), vollzog sich jedoch ein grundsätzlicher Wandel. Seither ist der neuzeitliche Mensch immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Er kann die Frage, wer er sei, nur noch an sich selbst richten. Es ist ein echoloses Schreien aus der Einsamkeit in die Einsamkeit des Ich. Die neuzeitliche Philosophie (von Nietzsche bis Heidegger) und Dichtung (von Hölderlin bis Gottfried Benn) haben dem bewegend Ausdruck verliehen. – In das Vakuum stießen Ideologien wie Kommunismus und Nationalsozialismus. Aber diese führten in die Irre. Vielleicht entstehen neue Ideologien. Doch auch diese werden scheitern!

Somit stehen wir vor dem Phänomen, dass bei aller Mittelpunktstellung des Menschen im neuzeitlichen Denken der Mensch sich selbst zum Rätsel wurde. Im Rahmen der Alltagserfahrungen sagt man dann: „Ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin“ oder „Ich muss mich erst wiederfinden“ oder „Ich möchte einmal wieder zu mir selbst kommen“.

Der in dieser Weise Ich-zentrierte Mensch empfindet sich einerseits als autonom, was gegenüber Zwangsstrukturen und einengenden Traditionen als Befreiung verstanden werden kann; andererseits vereinsamt er in seiner um sich selbst kreisenden Autonomie. Die Selbstverfügung bewirkt ein Doppeltes: Einesteils bleibt der Mensch bei sich selbst allein, andererseits ist er insofern grenzenlos geworden, als es keine Instanz gibt, die sein Ego einschränken dürfte. – Warum sollte jemand, der sich als autonom versteht, nicht auch über sein Ende verfügen dürfen? Wenn der Schmerz unerträglich wird – wer sollte die gewünschte Todesspritze verwehren? Über seinen Anfang, nämlich Zeugung und Geburt, konnte der autonome Mensch nicht bestimmen. Um so mehr wird gefordert, dass man, so lange man Bewusstsein hat, das eigene Ende festlegen darf.

Allerdings: Über die eigene Geburt konnte, wie gesagt, niemand bestimmen. Schon der biologische Ursprung des Menschen zeigt folglich, dass der Gedanke schrankenloser Autonomie eine Illusion ist. Denn der Mensch ist ein soziales Wesen. Jeder ist Kind einer Frau und eines Mannes. Niemand existiert in einem sozial luftleeren Raum. Gerade das neu geborene Menschenkind ist viel mehr als die meisten anderen Lebewesen auf Gemeinschaft, insbesondere auf die Zuwendung der Mutter angewiesen. Ohne Mitmensch gibt es auch für Erwachsene keine Überlebenschance.

Wir kommen zu dem Ergebnis, dass der Mensch, wie sehr er auch auf seine Selbstverfügung pochen mag, nicht davon loskommt, dass er ein Gemeinschaftswesen ist und zwar wurzelhaft! Somit ist Selbstverfügung prinzipiell begrenzt. Das gilt, auch wenn moderne Trends das Gegenteil propagieren.

2. Der Mensch, auf Gott verwiesen
Den isolierten Einzelnen gibt es nicht. Jeder braucht den Mitmenschen. Mit dieser richtigen Einsicht ist aber die Frage, wer der Mensch sei, noch nicht beantwortet. Am deutlichsten tritt das bei der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch in Erscheinung. Da kein Mensch isoliert existieren kann, gibt es immer wieder zugespitzte Situationen, in denen besonders deutlich wird, wie sehr der Einzelne vom Mitmenschen abhängig ist. Über die eigene Geburt, wir wiesen darauf hin, kann niemand selbst verfügen. Der Säugling ist völlig abhängig von seiner Mutter, und diese wieder, das wird oft übersehen, von ihrer gesellschaftlichen Umgebung. Modernes Selbstverfügungsdenken stößt hier besonders deutlich an seine Grenze. Es kann gar nicht uneingeschränkt gelten! Man sucht einen Ausweg, indem man sagt: „Autonome Selbstverfügung gilt stets, so lange niemand anderes dadurch Schaden erleidet.“ Doch das ist eine Scheinlösung. Denn ab wann schadet man dem Anderen? Wo liegt beim Anderen im wörtlichen und übertragenen Sinne die Schmerzgrenze, bei der Halt zu machen wäre? Letztlich kann das nur der Andere, nämlich der Betroffene, selbst sagen. Wenn aber der Betroffene keine Stimme mehr hat, kann er dem in seiner Selbstverwirklichung Handelnden auch keine Grenze mehr setzen. In dieser Weise, als Stummer, ist auch ein Embryo der Mutter, dem Vater, der Gesellschaft gegenüber wehrlos!

Außerdem: Wenn es allein der Mitmensch ist, der dem selbstbestimmt Handelnden die Grenze setzen soll, so ergibt sich sofort die Frage, die ein kluger Gesetzeskundiger einst an Jesus richtete: „Wer ist denn mein Nächster?“ Jesus hat nicht abstrakt geantwortet, denn im Prinzip sind ja alle Menschen Nächste. Konkret jedoch, das ist der Sinn der Gleichniserzählung Jesu vom Barmherzigen Samariter, ist immer derjenige mein Nächster, der meine Hilfe braucht (vgl. Lukas 10, 25-37). Am hilfsbedürftigen Nächsten wird der Zirkel menschlicher Selbstverfügung aufgebrochen! Die Selbstverwirklichung stößt hier an ihre Grenze. Denn das Recht des Einzelnen und das Recht seines Nächsten sind nie ins Gleichgewicht zu bringen ohne absolute Liebe!

Wer jedoch lebt uneingeschränkt in der Liebe? Kein Mensch kann das aus eigener Kraft leisten! An dieser Stelle wird der Zirkel menschlicher Selbstbezogenheit und Autonomie auf Gott hin aufgebrochen, genauer gesagt, auf den Gott der Bibel hin, der uns in Jesus Christus begegnet. Es gibt keinen isolierten Einzelnen, es gibt auch nicht die Menschheit, die sich selbst schafft. Vielmehr lebt alles Leben aus einer großen, sich schenkenden Liebe. Dieser Gedanke ist auch Philosophen nicht fremd. Hans Jonas schrieb über „Die Kunst des Liebens“. Daraus leitete er „Das Prinzip Verantwortung“ ab. Nach Hans Jonas ist es in besonderer Weise das neugeborene Kind, das uns auf unsere Verantwortung hinweist[5].

Nochmals: Kein Mensch existiert als Einzelner. Er lebt immer in Beziehung. Die erste ist die Liebe Gottes. Die andere Beziehung ist die zwischenmenschliche Liebe, die jedoch ohne die Liebe Gottes eng begrenzt bleibt.

3. Geschaffen als Gottes Ebenbild
Nach 1Mose 1 erschafft Gott die Welt in sechs Tagen. Der siebte Tag der Schöpfung ist ganz der Ruhe, dem Sabbat, gewidmet. Erst mit dem Ruhen in Gott kommt die Schöpfung zur Vollendung.

Von der Zahl der Schöpfungstage ist die Zahl der Schöpfungswerke zu unterscheiden. Laut 1Mose 1 werden die Landtiere und der Mensch als siebtes und achtes Schöpfungswerk Gottes am sechsten Tag erschaffen[6]. Der Mensch ist damit das letzte Schöpfungswerk Gottes. Zugleich es fällt auf, dass die Erschaffung des Menschen (Verse 26-31) anders geschildert wird als die Erschaffung aller vorangegangenen Schöpfungswerke. Eine deutliche Zäsur gegenüber dem Vorangegangenen ist erkennbar: Während sonst dem gebietenden Wort „und Gott sprach“ die Bestätigung, dass es so geschah, nachfolgt, geht bei der Menschenschöpfung das Schöpfungswerk, das „Machen“ des Menschen, voran. Die Menschenschöpfung wird auf diese Weise von allem Vorhergehenden durch einen neuen Einsatz abgehoben, nämlich durch die Selbstaufforderung Gottes (Vers 26) „Lasst uns Menschen machen!“[7] Erst anschließend heißt es (V. 27): „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; männlich und weiblich schuf er sie.“ – Man kann das als Parallele deuten zur Menschenschöpfung, wie sie im folgenden Kapitel 2 geschildert wird. Dort heißt es: „Da bildete Gott, der HERR, den Menschen aus Erde vom Ackerboden.“ Erst danach folgt die spezielle Menschwerdung, beschrieben mit den Worten: „Und hauchte ihm den Lebensodem in die Nase, so wurde der Mensch ein lebendes Wesen“ (2,7). (Man kann auch übersetzen: „…eine lebendige Seele“.) Beide Stellen lassen sich so deuten, dass der Menschwerdung des Menschen eine biologische Grundlegung vorausgegangen ist. Der Mensch kann von zwei Seiten her betrachtet werden. „Von unten her“ gesehen steht er in Gemeinschaft mit der gesamten Schöpfung, insbesondere den Tieren. Tiere und Menschen empfangen in gleicher Weise den Fruchtbarkeitssegen (vgl. 1Mose 1,22.28). Jedoch „von oben her“ gesehen ist der Mensch, wie dreimal betont wird, zum Bilde Gottes erschaffen (1Mose 1,26 und 1,27 zweimal) und empfängt laut Kapitel 2,7 den Odem Gottes. Damit unterscheidet er sich grundsätzlich von jeder anderen Kreatur!

Entsprechend weiß die Bibel von zweierlei Leben: „bịos“ und „zōæ“. „Bịos“ meint die irdische physische Existenz (vgl. z.B. Lukas 8,14), zwh, [zōæ] aber das ewige Leben (vgl. z.B. Johannes 3,36). Der Mensch, geschaffen aus einem irdenen Kloß, ist zum ewigen Leben berufen. Darin besteht seine einzigartige Würde im Zusammenhang mit der Gottebenbildlichkeit. Von „bịos“ spricht das Neue Testament – von Parallelstellen in den Evangelien abgesehen – nur sieben Mal! Die „zōæ“ gibt nach der neutestamentlichen Botschaft das Ziel des menschlichen Lebens an. Auf ihr liegt das Gewicht!

Mit diesen Feststellungen ist noch nicht erschöpft, was die Botschaft von der Gottebenbildlichkeit des Menschen aussagt. Wie ist sie weiterhin zu deuten? – In der Tradition hat man versucht, die Gottebenbildlichkeit an einer menschlichen Eigenschaft festzumachen, etwa am „geistigen Wesen“ des Menschen, seiner „Persönlichkeit“ oder seiner „ethischen Entscheidungsfähigkeit“. Doch die neuere Auslegung ist mit Recht davon abgekommen. Denn die beiden hebräischen Worte in 1Mose1,26 „zäläm“ (Bild) und „dəmūt“ (Ähnlichkeit), die in der klassischen Lutherübersetzung mit „Bild“ und „uns gleich“ übersetzt werden (im Wortlaut: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei…“) beziehen sich auf die äußere Form und meinen tatsächlich eine Verwandtschaft im Aussehen. Die Menschengestalt wäre demnach ein Abbild der Gottesgestalt als eine Art Statue. Wer nun erschrickt, weil das doch sehr primitiv gedacht zu sein scheint, dem sei gesagt, dass mit den beiden hebräischen Präpositionen „bə“ und „kə“ bei den Substantiven „zäläm“ und „dəmūt“ eine Näherbestimmung des Verbs „lasset uns machen“ geschieht. Somit wird eine Aussage über die Art und Weise des Schaffens Gottes gemacht, nicht aber über das Wesen des Menschen[8]. Die klassische Lutherübersetzung von Vers 27, die uns vertraut ist: „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn…“, ist durch die lateinische Bibelübersetzung (Vulgata) beeinflusst. Die Vulgata und die Lutherübersetzung machen aus dem Satz tatsächlich eine Aussage über den Menschen, während der hebräische Text eine Aussage über die Art und Weise des Schaffens Gottes macht. Dem Sinn nach: „In Art und Weise göttlichen Handelns schuf Gott den Menschen…“. Es geht in der gesamten Schöpfungsgeschichte um ein Lob des majestätischen Tuns Gottes. Dieses göttliche Tun erreicht seinen Höhepunkt in der Ebenbildlichkeit der Menschenschöpfung.

Was der Text meint, hat Karl Barth in seiner Dogmatik treffend erschlossen. Er schreibt: „Die Gottebenbildlichkeit…ist keine Qualität des Menschen… Sie besteht…darin, dass er [der Mensch] Gottes Gegenüber ist. Das tertium comparationis, die Analogie zwischen Gott und Mensch ist sehr schlicht die Existenz im Gegenüber von Ich und Du.“[9] – Gemeint ist also das Personsein des Menschen im Ich-Du-Verhältnis, wurzelhaft zunächst Gott gegenüber, dann aber auch von Mensch zu Mensch, denn es heißt: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde; nach Gottes Bild schuf er ihn [Einzahl!], männlich und weiblich schuf er sie [Mehrzahl!]“. Gott hat in souveräner Entscheidung den Menschen im Unterschied zu aller anderen Kreatur dadurch hervorgehoben, dass er sich in ihm ein Gegenüber schuf, mit dem er persönliche Gemeinschaft haben, mit dem er reden will, ein Geschöpf, das vor seinem Angesicht leben soll. Mit Martin Buber gesprochen geht es um die dialogische Existenz.

An dieser Stelle blicken wir zurück auf das eingangs Dargestellte: Der moderne Mensch auf der Suche nach sich selbst; der Mensch in der Selbstverfügung, selbstverkrümmt in der echolosen Einsamkeit seiner selbst. Wo gibt es einen Ausweg? Hier in der biblischen Schöpfungsgeschichte finden wir die Antwort: Nicht in der isolierten Selbstverwirklichung, sondern in der Gemeinschaft mit Gott, seinem Schöpfer, und im Gegenüber zu seinen Mitmenschen – allein hier findet der Mensch seine Bestimmung und seinen Lebenssinn.

4. Die Menschenwürde
Die Rede vom Menschen als Bild Gottes weist uns hinüber auf Psalm 8:

„HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel…

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?

Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott (hebräisch: Elohim = Gottwesen), mit Ehre und Hoheit (= mit Würde und Pracht / mit göttlichem Glanz) (hebräisch: kabod we hadar) kröntest du ihn.“

Zunächst können wir aufgrund dieser Verse im Rückblick auf 1Mose 1 zur Ebenbildlichkeit vertiefend sagen: Sofern die äußere menschliche Gestalt überhaupt gemeint sein kann, bezieht sich die Gestaltähnlichkeit nicht auf den unsichtbaren Gott selbst, sondern auf die Gestalt jener Gottwesen bzw. Engel, die den himmlischen Hofstaat bilden. So lautet in manchen Bibelausgaben die Übersetzung des sechsten Verses von Psalm 8 entsprechend: „Du hast den Menschen wenig niedriger gemacht als Engel[10].

Wichtiger noch ist die zweite Aussage des Psalms über den Menschen: In direkter Anrede Gottes, also als Lob Gottes, heißt es: „Mit Ehre und Hoheit (hebräisch: kabod we hadar) kröntest du ihn [=den Menschen].“ Königliche, nahezu göttliche Herrscherwürde, ist dem Menschen von Gott her verliehen worden. – Im Rückblick auf die Schöpfungsgeschichte von 1Mose 1 ist damit der Herrschaftsauftrag bestätigt. Dort lesen wir in Vers 28: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan, und herrschet über die Fische im Meer und die Vögel des Himmels, über das Vieh und alle Tiere, die auf der Erde sich regen!“ – Auch in Psalm 8 wird in Form des Lobpreises Gottes über den Menschen gesagt: „Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht… HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!“

Dieser Herrschaftsauftrag an den Menschen ist oft missverstanden worden bis hin zu dem Vorwurf, an der modernen Umweltzerstörung sei der jüdisch-christliche Glaube mit seiner Freiheit gegenüber der Natur schuld. Hingegen seien alte Stammesreligionen mit ihrer Verehrung von Naturgöttern zu bevorzugen, weil diese Religionen die Menschen lehrten, die Natur zu verehren und daher unangetastet zu lassen. – Dabei wird geflissentlich übersehen, wie sehr die Anhänger von Naturreligionen geknechtet sind durch Ängste aufgrund von Zauberei, Magie, Schamanentum und allerlei Aberglaube. Außerdem will wohl kaum einer der heutigen Naturschwärmer tatsächlich auf die Lebenserleichterungen verzichten, welche die durch Wissenschaft und Technik geprägte Zivilisation bereitstellt; ganz abgesehen davon, dass diese Zeitgenossen gewiss kein Jahr im Urwald und auch keinen Winter in unseren Breiten überleben würden ohne die Hilfe moderner Zivilisation.

Der biblische Herrschaftsauftrag ist in einem echt königlichen Sinn gemeint. Der in dieser Weise herrschende Mensch bleibt in Abhängigkeit von seinem Schöpfer. Er ist sich seiner Verantwortung vor Gott bewusst. Das bedeutet, so schreibt der Alttestamentler Claus Westermann, vom Verständnis des Königtums in der Antike her: „Als Herr seines Reiches ist der König nicht nur für sein Reich verantwortlich; er ist auch der Segensträger und Segensmittler für dieses sein ihm anvertrautes Reich. Der Mensch würde also sein königliches Amt der Herrschaft über die Erde darin gerade verfehlen, dass er die Kräfte der Erde ausbeutet zum Schaden des Ackerlandes, zum Schaden der Pflanzen und Tiere, zum Schaden der Flüsse und Meere.“[11]

Nicht ohne Grund ist der wissenschaftlich-technische Fortschritt nur im Abendland auf dem Boden des jüdisch-christlichen Glaubens gewachsen! Übergriffe und Zerstörung der Natur beginnen erst dann, wenn der Mensch sich von seiner Verantwortung vor Gott verabschiedet und sich von Gier und Egoismus beherrschen lässt. Denn der Mensch übt seine Herrschaft nur dort und nur so lange richtig aus, wie er sich als Beauftragter, als Mandatar Gottes, des HERRN, versteht. Der Mensch ist zwar Herr über die Kreatur, aber nur als Verwalter auf Zeit, als Haushalter in Verantwortung vor Gott.

Entsprechendes gilt vom Verständnis der Menschenwürde. Dieser Begriff hat eine längere Geschichte. Die ersten Spuren finden sich in der stoischen Philosophie (begründet durch Zenon von Elea ca. 490-430 v. Chr.). Die Stoiker waren die ersten, die auch Sklaven und Barbaren als vollwertige Menschen ansehen wollten. Sie begründeten ihre Sicht naturrechtlich: Alle Menschen haben Anteil am Logos, an der Weltvernunft. (An Sklavenbefreiung dachten die Stoiker dennoch nicht!)

Das Verständnis der Menschenwürde im neuzeitlichen Sinne wurde von Immanuel Kant (1724-1804) geprägt. Kant grenzte den Begriff der „Würde“ von dem des „Wertes“ ab. Der Mensch ist Selbstzweck und trägt deshalb eine unverlierbare Würde. Die übrigen Weltwesen und Dinge hingegen können als Mittel zum Zweck benutzt werden. Insofern haben sie einen Wert, nicht aber die allein dem Menschen zustehende Würde[12]. Konkret machte Kant die Würde fest am menschlichen Verstand, an seiner Freiheit zu wählen und an seiner Autonomie, sich dessen ohne fremde Beeinflussung zu bedienen. – Obwohl Kant die Menschenwürde als unveräußerlich ansieht, hat er dennoch mit „Verstand“, „Freiheit“ und „Autonomie“ bestimmte Eigenschaften genannt. Was aber gilt, wenn etwa bei einem Schwerkranken, z.B. Koma-Patienten, der Verstand ausfällt? An dieser Stelle hat das aufklärerische Verständnis von Menschenwürde eine offene Flanke[13]. – Wir werden darauf zurückkommen.

Ganz anders das biblische Verständnis. Denn „Würde“ (hebräisch: kabod griechisch: doxa) steht in erster Linie Gott zu. Von daher erst fällt ein Licht auf den Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit gemäß Psalm 8,6: „Du hast den Menschen wenig niedriger gemacht als Gottwesen.“

Entscheidend ist hier: Diese Würde ist eine geschenkte Würde. Sie wird nicht an menschlichen Eigenschaften und Qualitäten festgemacht, sondern wird allein von Gott her begründet[14]! Nur so ist sie unverlierbar. Allein vom Menschen aus gesehen ist sie nicht unverlierbar. Jedoch mit der biblischen Begründung gilt, dass auch ein von Gott abgefallener Mensch, sei es ein Verbrecher, ein Mörder, ein gegen Gott rebellierender Atheist dennoch eine unverlierbare Menschenwürde besitzt. Er mag sie durch sein Verhalten verdunkeln, aber er verliert sie nicht. Entsprechendes gilt für Kranke, sei es ein Komapatient, ein Demenzkranker, ein seelischer oder körperlicher Krüppel, jeder von ihnen hat unter allen Umständen die volle, unverlierbare Menschenwürde! Erst mit dieser theonomen biblischen Begründung erhält die Menschenwürde ihr volles Recht!

Der modernen Diskussion mangelt es genau an dieser Stelle. Denn gegenwärtig wird in der aktuellen Auseinandersetzung z.B. über Schwangerschaftsabbruch, Euthanasie, pränatale Diagnostik immer wieder die Menschenwürde im Sinne utilitaristischer Ethik an Eigenschaften festgemacht oder an sogenannten „konkreten Umständen“.

Mit den Worten „Die Menschenwürde ist unantastbar“ in Art. 1, Abs. 1 stellt auch das deutsche Grundgesetz die Menschenwürde als bedingungsloses Absolutum an den Anfang aller weiteren Ausführungen. Die Menschenwürde ist auch im Grundgesetz an keinerlei Bedingungen geknüpft. Wenn man jedoch Bedingungen einführt, gibt es bald kein Halten mehr. Diesbezüglich hat der australische Philosoph und Ethiker Peter Singer mit seinem Buch „Praktische Ethik“[15] eine Lawine ins Rollen gebracht. Er knüpft Menschenwürde an Eigenschaften, die verloren gehen können. Nach seiner Ansicht gehören zur Menschenwürde Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Fähigkeit zur Selbstbestimmung, Reflexionsvermögen, Vernunft, Pragmatik, Streben nach Glücksempfindungen und Vermeidung von Schmerz. Es ist klar, dass z.B. ein Koma-Patient diese Eigenschaften nicht hat, ebenso wenig wie ein Embryo (wobei die Frage nach der Schmerzempfindung ein eigenes Problem darstellt[16]). Ein gesundes höheres Säugetier kann unter Umständen mehr dieser Eigenschaften aufweisen als ein Koma-Patient oder ein Embryo. Singer folgert aus dieser Feststellung konsequent z.B. die aktive Sterbehilfe und die Freigabe der Abtreibung. Einem Menschen allein deshalb Menschenwürde zuzusprechen, weil er zur biologischen Gattung „Mensch“ gehört, nennt Singer „Speziezismus“. Aufgrund dieser Thesen kann man dann solch paradoxe Parolen hören wie „Menschenwürde auch für Tiere“.

Wir jedoch halten im biblischen Sinne an der Absolutheit der Menschenwürde fest, nicht, weil wir dem „Speziezismus“ verfallen wären, sondern weil Menschenwürde nicht empirisch begründbar ist. Sie kann nur als Geschenk Gottes empfangen werden, unbegründbar, aber eben darum auch unverlierbar. Denn der Mensch ist Gottes Ebenbild! Nur auf diesem Wege lässt sich Menschenwürde uneingeschränkt bewahren und konsequent schützen! Ohne die Quellen des biblischen Glaubens verfallen die Grundlagen der Humanität. Gott ist der Geber des Lebens. Er allein darf es auch nehmen. Die Entscheidung über Leben und Tod ist der menschlichen Verfügbarkeit entzogen, wenn die Menschenwürde nicht Schaden leiden soll. Humanität ohne Divinität endet in Bestialität!

5. Staatsgewalt, Polizei und Todesstrafe
Nun lebt die Menschheit freilich nicht im Paradies, sondern in der gefallenen Welt. Auf die biblischen Paradieserzählungen folgt die Geschichte von Kain und Abel, die Erzählung vom Brudermord. Das tödlich bedrohende Böse dringt in den engsten Familienkreis ein. Wer schützt Abel?

In der gefallenen Welt erhebt sich an erster Stelle der Rachegedanke. Die archaische Sitte der Blutrache sollte den Mörder bestrafen, ihn in zweiter Linie von weiteren Taten abhalten. Kain fürchtete sich davor und klagte Gott an, der ihn zur Rechenschaft zog: „…unstet und flüchtig muss ich sein auf Erden; so wird mich denn totschlagen, wer mich antrifft“ (1Mose 4,14b). Gott selbst schützte ihn daraufhin mit dem Kainszeichen (1Mose 4,15). So entging Kain der Blutrache. Unter seinen Nachkommen aber nahm sie schreckliche Ausmaße an, wie wir noch im selben Kapitel lesen:

„Und Lamech sprach zu seinen Frauen: Ada und Zilla, hört meine Rede, ihr Frauen Lamechs, vernehmt meinen Spruch: Einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine Strieme. Denn wird Kain siebenmal gerächt, so Lamech siebenundsiebzigmal“ (1Mose 4,23 f.)

Sich in dieser Weise ausweitende Blutrache kann ganze Sippschaften, ja Stämme ausrotten. Darum ist dem Volk Gottes die Blutrache grundsätzlich verwehrt worden. „Du sollst nicht morden“, lautet apodiktisch, d.h. absolut und keinen Widerspruch duldend, das fünfte Gebot[17].

Aber gibt es nicht Stellen im Alten Testament, die anderes sagen? Wie verhält es sich mit dem Grundsatz „Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (3Mose 24,20; vgl. 2Mose 21,24), auf den immer wieder mit Kritik am Alten Testament hingewiesen wird? – Diese oft missdeuteten Stellen wenden sich zunächst einmal gegen eine sich hochschaukelnde Blutrache, wie sie das Lamechlied zeigt. Die Strafe soll einem ordentlichen Gericht überantwortet und in angemessenem Maße, in diesem Sinne gerechtem Maße, ausgeführt werden.

Dennoch kann man weiterhin einwenden, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sei eine schreckliche Vorschrift. – Was uns zunächst abschreckt, ist die Körperstrafe. Aber das war in archaischen Gesellschaften ohne Gefängniswesen und bei großer Armut des Delinquenten oft die einzige Möglichkeit der Strafabschreckung. Es geht um gleiches Maß. Immerhin finden wir im Alten Testament nicht die Exzesse von Körperstrafen wie in der islamischen Sharia, die z.B. für Diebstahl ein Abhacken der Hand vorsieht.

Bezüglich des Alten Testaments lohnt sich wiederum ein Blick auf das Hebräische: Für das „um“ in der Übersetzung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, steht im Hebräischen die Präposition „tachat“, und diese bedeutet zugleich „an Stelle von“, gemäß dem lateinischen „pro“. Dies wiederum heißt, dass eine Ersatzleistung gegeben werden kann und nicht, dass man dem Täter, der einem Anderen z.B. ein Auge ausgestochen hat, ebenfalls das Auge ausstechen soll. Entsprechend lesen wir über die Bibelstelle 2Mose 21,22-24 (auch 3Mose 24,20) im Traktat „Bawa kamma“, 83b/84a des Babylonischen Talmud: „Wie derjenige, der ein Tier erschlägt, zu Ersatzleistungen verpflichtet ist, so ist auch derjenige, der einen Menschen schlägt, zu Ersatzleistungen verpflichtet.“[18] – Somit geht es um angemessene Ersatzleistungen, keineswegs um die Körperstrafen als solche. Im alten Israel konnte auch im Falle eines Totschlags, etwa infolge eines tödlichen Unfalls, Ersatzleistung erbracht werden. Zunächst musste der Totschläger zu einem Asylort fliehen (4Mose 35,9ff.). Dann aber konnte seine Familie oder er selbst der Familie des Getöteten ein Mitglied der eigenen Familie zur Verfügung stellen, so dass zumindest die Arbeitskraft des Getöteten ersetzt wurde. Ergab es sich, dass der aus der Familie gegebene Sohn im heiratsfähigen Alter war und die Familie des zu Tode Gekommenen eine heiratsfähige Tochter hatte, war es sogar möglich, dass von den beiden Familien eine Heirat arrangiert wurde. Eben dadurch wurde im vollkommenen Sinne Ersatz geleistet. Das Ergebnis war nicht Rache, sondern Friedensstiftung. Der ausgleichenden Gerechtigkeit war auf diese Weise im besten Sinne Genüge getan.

Diese Regelung, die bei Leibesschädigung und bei Totschlag angewendet wurde, galt allerdings nicht für Mord. Für geplanten Mord heißt es ausdrücklich 4Mose 35,31: „Und ihr sollt für das Leben eines Mörders, der des Todes schuldig ist, kein Lösegeld annehmen, sondern er soll getötet werden.“ – Damit kommen wir zum Problem der Todesstrafe. Sie wurde auch im Abendland Jahrhunderte lang geübt. Voraussetzung war, dass sie in die Hand des Staates und der ordentlichen Gerichtsbarkeit gelegt wurde, wie auch der Apostel Paulus Römer 13,4 schreibt, dass die Obrigkeit „Dienerin Gottes“ ist und „nicht umsonst das Schwert trägt“. Im Deutschen Grundgesetz hingegen heißt es lapidar in Artikel 102: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ Denn mit der Todesstrafe wurde viel Missbrauch getrieben. Im NS-Staat wurde sie vor allem aus politischen Gründen verhängt und diente zur Terrorisierung der Bevölkerung.

Im Alten Testament wird die Todesstrafe des weiteren mit der Heiligkeit des von Gott auserwählten Volkes Israel begründet. Diese Begründung findet sich im Heiligkeitsgesetz (3Mose 17-26). Sie lautet: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott“ (3Mose 19,2; vgl. 3Mose 20,26). Darum: „So sollst du das Böse aus deiner Mitte ‚wegräumen’“ (insgesamt neunmal, z.B. 5Mose 13,5; 17,7 u.ö.).

Diese Vorschriften gelten eindeutig nur dem frühen Volk Israel. Gottesreichreich und Weltreich waren für Israel eins. Im Blick auf unsere heutige Situation entfällt diese besondere Begründung des Alten Testaments für die Todesstrafe. Denn für alle nichtisraelitischen Völker, die „Heiden“, gilt die Einheit von Gottesvolk und Staatsvolk nicht, die im Alten Testament als Ideal für Israel vorausgesetzt ist, bzw. eingefordert wird. Für die neutestamentliche Gemeinde bestätigt Jesus vor Pilatus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannes 18,36). – Der bleibende Sinn der theologischen Begründungen der Todesstrafe im Alten Testament besteht darin zu zeigen, wie schwer die Sünde vor Gott wiegt und dass der Sünder vor Gott sein Leben verwirkt hat. Durch Jesu Christi stellvertretendes Leiden und Sterben wurde der sündige Mensch jedoch von der Strafe des ewigen Todes losgekauft (vgl. Galater 3,13; 4,5; Titus 2,14; 1Petrus 1,18f.)[19]. Aus christlicher Sicht ist darum die Todesstrafe keine staatsrechtliche biblische Forderung! – Es gibt eine naturrechtliche Begründung der Todesstrafe als Ausdruck des Lebensschutzes. Was aber das Naturrecht und die Praxis in der Staatenwelt anbetrifft, hat Adolf Schlatter in seiner Ethik das Dilemma treffend gekennzeichnet: Somit zeigt gerade die Problematik der Todesstrafe, die Ausdruck des Ernstnehmens des Bösen ist, die Ausweglosigkeit, auf „natürlichem“ Wege mit dem Bösen fertig zu werden, „das die Nachsicht zu seiner Stärkung missbraucht und durch die Härte vollends verhärtet…“[20].

Dass aber die Obrigkeit mit Recht „das Schwert trägt“, wie es Römer 13 heißt, ist auch im modernen Staat keine Frage. Denn wir leben in einer gefallenen Welt, in der das Böse nicht schwärmerisch wegdiskutiert werden kann. Das Gewaltmonopol muss beim Staat bleiben, weil Anarchismus zu größten Gewaltexzessen führt. Daher ist eine für den Ernstfall bewaffnete Polizei nötig. – Was passiert, wenn die Ordnung zerbricht, zeigt sich immer wieder z.B. bei Erdbebenkatastrophen: Die UNO war in letzter Zeit gezwungen, nicht nur Polizei, sondern Militär in diese Gebiete zu schicken, weil oft Chaos ausbrach, in dem Raub, Vergewaltigung, Mord und Totschlag überhand nahmen. In solchen Situationen ist bewaffnete Gewalt unumgänglich. Sie dient dann ausschließlich dazu, Leben zu schützen.

6. Ausblick
Zuletzt seien die biblischen Glaubenszeugen, die Märtyrer, erwähnt. Keiner von ihnen hat den Tod gesucht oder gar in terroristischer Absicht andere Menschen mit in den Tod gerissen, wie es islamische Attentäter tun, die genau deshalb nicht Märtyrer genannt werden sollten. Der christliche Märtyrer ist ein Opfer, das allein um seines standhaften Glaubenszeugnisses willen ermordet wurde. Dies geschieht in der Nachfolge Jesu Christi. Jesus selbst hat als Opferlamm für die menschliche Sünde den Kreuzestod erlitten. Zwar deutet der Apostel Paulus an, dass er nicht vor dem Märtyrertod zurückschreckt (vgl. Philipper 2,17) und dass er sich sogar freuen würde, bei Christus zu sein (vgl. Philipper 1,23), doch er sucht den Tod nicht, stellt sein Leben und Sterben ganz in Gottes Hand (vgl. Römer 14,8) und bleibt seiner irdischen apostolischen Verantwortung für seine Gemeinden treu (vgl. Philipper 1,24). – In der Offenbarung des Johannes sieht der Apostel Johannes vor dem göttlichen Thron die Seelen derer, die um des Wortes Gottes willen hingeschlachtet wurden (Offenbarung 6,9). Sie werden um Geduld gebeten, bis die Vollzahl der Märtyrer eingegangen ist, denn auf die Märtyrer wartet besonderer Lohn. Märtyrer ist aber nur der, der Opfer wurde, nicht der, der den Tod freiwillig oder gar mutwillig gesucht hat. Christenverfolgungen weltweit, wie wir sie heute erleben, sind ein Zeichen der Endzeit, der Entfesselung der widergöttlichen Mächte. In der Endzeit wächst unter den Christen die Sehnsucht danach, dass Gott sein Friedensreich errichtet, in dem es keine Tränen, keinen Schmerz, kein Leid und vor allem keinen Tod mehr gibt (vgl. Offenbarung 21,3-5). Aber dieses Reich richtet Gott allein auf. Es ist nicht Ergebnis menschlicher emanzipatorischer Fortschrittsbewegungen. Denn diese führen, wenn sie sich absolut setzen, eher in die Hölle der Entfremdung als in den Himmel der Vollendung.

Zusammenfassend halten wir fest: Gott ist ein Freund des Lebens. Er ist der Schöpfer und Erhalter allen Lebens. Das Leben kommt von ihm her und hat sein Ziel in ihm. Darum ist es nach biblischer Sicht menschlicher Verfügbarkeit grundsätzlich entzogen. Zwar ermöglicht der medizinische Fortschritt, für den wir dankbar sind, eine Erhöhung der durchschnittlichen menschlichen Lebenserwartung; die Apparatemedizin erweitert den Übergangsbereich zwischen Leben und Tod und vergrößert die Grauzone des Zwischenstadiums. Doch es ist ein Irrglaube zu meinen, Krankheit, Leiden und Tod ließen sich durch menschlichen Fortschritt aus der Welt verbannen. Es ist nicht christlich, wenn der Tod naht, stets zu versuchen, ihn mit allen Mitteln der Medizin hinauszuschieben. Ein Christ bleibt bereit, krankheitsbedingtes Leiden und Tod zu ertragen und aus der Hand Gottes anzunehmen und wenn es Zeit ist zu gehen. Gott, der HERR, ist allein Herr über Leben und Tod. Nur wenn dieses beachtet wird, ist auch menschlicherseits die Unverfügbarkeit des Lebens gesichert! So bekennt der Christ zuletzt mit dem Dulder Hiob: „Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen, der Name des HERRN sei gelobt“ (Hiob 1,21). Denn das Lob Gottes ist Ziel der Schöpfung und erst recht Ziel allen menschlichen Lebens in seiner Gottebenbildlichkeit! Deshalb wird sich auch der ortlos gewordene moderne Mensch nur in seinem Schöpfer wiederfinden und seine Orientierung zurückgewinnen.

Prof. Dr. Rainer Mayer, Stuttgart, 08. März 2010


[1] Jürgen Moltmann, Der verborgene Mensch, Das Gespräch, Heft 4, Wuppertal 1961, S. 3.
[2] Vgl. den Anmerkung 1 genannten Titel.
[3] Martin Heidegger in seiner Schrift „Kant und das Problem der Metaphysik“; hier zitiert nach Martin Buber, Das Problem des Menschen, Heidelberg 1948, S. 125 f.
[4] Zitiert nach J. Moltmann, Der verborgene Mensch, S. 6.
[5] Diese Zusammenhänge erschließt sehr eindrücklich: Hans Lachenmann, Sieh hin und du weißt. Ein theologisches Gespräch mit Hans Jonas, Stuttgart 2009.
[6] Vgl. die übersichtliche Tabelle von Walter Hilbrands in der Broschüre: Walter Hilbrands, Der biblische Schöpfungsbericht / Joachim Cochlovius, Das Schöpfungszeugnis des Neuen Testaments, Gemeindehilfsbund Walsrode 2009, S. 13.
[7] Vgl. Claus Westermann, Schöpfung, Stuttgart / Berlin 1971, S. 68.
[8] Vgl. Claus Westermann, Calwer Predigthilfen, Band 4: Die alttestamentlichen Texte der sechsten Reihe, Stuttgart 1965, S. 197.
[9] Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III/1, S. 206 f.; hier zitiert nach Claus Westermann, Calwer Predigthilfen, a.a.O., S. 198.
[10] Vgl. dazu auch: Gerhard v. Rad., Das erste Buch Mose. Genesis, Das Alte Testament Deutsch, Band 2/4, Göttingen 19585, S. 47.
[11] Claus Westermann, Schöpfung, a.a.O., S. 76 f.
[12] So Kant in „Metaphysik der Sitten“, 1797, § 38 „Tugendlehre“.
[13] Dies gilt für die folgende Geschichte der Aufklärung, nicht für Immanuel Kant selbst. Autonomie bedeutet für Kant Gesetzgebung durch Vernunft, die auf Gemeinschaft bezogen ist; und Freiheit ist für ihn nicht Willkürfreiheit. Nach seiner Ethik müsste ein Arzt es daher ablehnen, eine Todesspritze zu geben, auch wenn er vom Patienten selbst darum gebeten würde. Denn das hieße, Personalität in Materialität zu überführen.
[14] Die göttlich begründete volle Menschenwürde gilt auch für den Embryo gemäß Psalm 119,13-16. Vers 16 lautet in der wörtlichen Übersetzung von Martin Buber: „Meinen Knäul [Doppelhelix?] sahn deine Augen…“ (Das Buch der Preisungen, verdeutscht von M. Buber, Köln & Olten, o.J., S.198).
[15] Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1984; Titel der Originalausgabe: Practical Ethics, Cambridge 1979.
[16] Nach heutiger medizinischer Erkenntnis besteht ab der zehnten Woche Schmerzempfindlichkeit des Embryos!
[17] Vgl. Jesu indirekte Stellungnahme zum Lamechlied (Matthäus 18,21): Auf die Frage des Petrus, wie oft man dem Bruder vergeben müsse, ob siebenmal genüge, antwortet Jesus: „Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.“ Somit setzt Jesus an die Stelle der grenzenlosen Rache die grenzenlose Liebe!
[18] Siehe Reinhold Mayer, Der babylonische Talmud. Ausgewählt, übersetzt und erklärt, München 19633, Kapitel „Über Schädigungen“.
[19] Vgl. im Einzelnen zur Frage der Todesstrafe: Rainer Mayer, Artikel „Todesstrafe“, in: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde, Band 3, Wuppertal / Zürich 1994, S. 2016 f.
[20] Adolf Schlatter, Die christliche Ethik, Stuttgart 19614, S. 158.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 12. März 2010 um 13:16 und abgelegt unter Lebensrecht, Theologie.