Der (ewige?) Streit um die Wahrheit
Mittwoch 4. Januar 2006 von Prof. Dr. Markus Zehnder
Der (ewige?) Streit um die Wahrheit
Geistliche Betrachtung zu Jeremia 28
1. Falsche Berufung auf Gott – nur ein Problem des Alten Testaments?
Der Konflikt, vor den wir hier gestellt werden, ist von einer kaum zu überbietenden Dramatik: Zwei Menschen prallen aufeinander, von denen beide behaupten, daß das, was sie sagen, Wort Gottes sei, und zwar ein Wort Gottes, das nicht nur für sie selbst persönlich gilt, sondern für die ganze Gemeinschaft, in der sie leben.
Dieser Konflikt, daß zwei Parteien mit gegensätzlichen Positionen behaupten, daß sie im Sinne und im Auftrag Gottes handeln, tritt bei Jeremia (die Szene in Kap. 28 ist wohl auf das Jahr 594 v. Chr. zu datieren) nicht zum ersten Mal auf. Sondern schon vorher ist es immer wieder vorgekommen, daß dort, wo Gott Menschen geschickt hat, sein Wort auszurichten, andere gekommen sind und gesagt haben: „Was will der denn Besonderes sein! – Nein, das, was der da sagt, das ist nicht von Gott; sondern zu uns hat Gott geredet, nicht zu jenem, der vertritt nur seine Sondermeinung“ (vgl. z.B. 1. Kön. 22). Und dieser Konflikt ist dann weitergegangen über die Zeit der Propheten im Alten Testament hinaus. Jesus selber hat in einem solchen Konflikt gestanden: Sein Anspruch, von Gott gesandt zu sein, um seinem Volk Israel ein neues Wort zu verkünden, wurde von den Schriftgelehrten, von denen, die religiös drauskommen, zurückgewiesen. Sie sagten: „Der Anspruch Jesu ist eine falsche Anmaßung, ein gefährlicher Versuch, das Volk zu verführen und von dem, was Gott wirklich will, wegzuführen auf einen Weg, der im Verderben endet“.
Der Konflikt um die Frage, wer tatsächlich oder nur angemaßt im Auftrag Gottes redet, hört aber auch mit der Zeit Jesu nicht auf. Jesus selbst kündigt an, daß nach ihm falsche Propheten kommen werden; und selbst für die letzte Zeit beschreibt uns das Buch der Offenbarung, daß auf der einen Seite zwei Männer auftreten werden, die im Namen Gottes, von ihm gesandt, als Propheten reden; auf der anderen Seite wird aber, nachdem man diese zwei Männer gewaltsam zum Schweigen gebracht hat, ein anderer Prophet auftreten, der nicht nur behauptet, im Namen Gottes zu sprechen, sondern der diese Behauptung noch damit untermauern kann, daß er auch Wunder tut, so daß es so aussieht, daß das, was er sagt, tatsächlich von Gott selbst bestätigt wird; und die Menschen werden ihm folgen und das Tier, den politischen Machthaber, mit dem dieser Prophet im Bund steht, anbeten (Offb 13).
Der Konflikt um die Frage, wer tatsächlich im Sinn Gottes spricht, ist also etwas, was den Weg der Kirche ständig begleitet hat und bis zum Ende dieser Zeit nicht aufhören wird.
Und bei uns? In unserem Land, in unseren Kirchen? – Wie könnte es bei uns, in unserem Land und in unseren Kirchen, anders sein als so, wie es immer zugeht, wo es um das Reden Gottes geht? Auch bei uns kann es nicht ohne diesen Konflikt gehen, ohne die Auseinandersetzung darum, welche der Meinungen, die auch bei uns gegeneinander stehen, von Gott ist und welche nicht. Natürlich, es gibt Fragen, die dieses letzte Gewicht nicht haben, Fragen, bei denen nicht nur die eine Sicht im Sinne Gottes ist und die andere nicht. Aber es gibt eben auch die anderen Fragen, bei denen es um wahr oder unwahr, um richtig oder falsch, um gottgemäß oder gottwidrig geht; und beide Seiten stoßen aufeinander, beide berufen sich auf den Willen Gottes, und doch stimmt es nur auf der einen Seite, auf der anderen Seite ist es nur Eigenes, und die Berufung auf Gott nur Anmaßung – so ernst sind die Dinge! Wir stehen mitten drin in dieser Spannung, und darum wird es nicht ohne Kampf und ohne klare Entscheidung gehen, in den Gemeinden, aber auch im Leben als einzelne.
2. Falsche Berufung auf Gott – wie sieht die aus?
Das Erschreckende: Äußerlich sieht sie häufig nicht anders aus als eine Berufung auf Gott, bei der tatsächlich der Wille oder das Reden Gottes dahintersteht.
Wie geht das zu? Das Erste, was hier zu sagen ist: Hananja ist nicht irgendeiner, der außerhalb des Volkes Gottes steht, sondern ein anerkannter Prophet (so jedenfalls nach dem masoretischen Text); modern gesagt ist er also einer, der zur Kirche hinzugehört, der gewohnt ist, dort ein Wort mitzureden, und der das auch darf; und vielleicht war das, was er bis jetzt in der Gemeinde gemacht hat, hilfreich und auch vor Gott recht. Das falsche Wort, das sich zu Unrecht auf Gott beruft, muß also nicht von außen kommen, sondern es kann aus der Mitte der Kirche selbst kommen – so unheimlich geht das zu.
Und weiter: Hananja gebraucht genau die gleichen Redewendungen wie Jeremia: „So spricht der Herr, der Gott Israels“; Hananja redet, wie man als Frommer, als einer, der zur Gemeinde gehört, gewohnt ist zu reden – und trotzdem sind diese Worte, obwohl sie fromm geformt sind, falsch. – Aber es ist nicht nur die äußere Form, die das Auftreten des falschen Propheten von dem des rechten nicht unterscheidbar macht. Auch der Inhalt der Botschaft ist so, daß man nicht von vornherein sagen könnte: „Das kann nicht Gottes Wort sein, denn so hat Gott noch nie geredet“; nein, dieser Einwand war nicht möglich, denn die Botschaft Hanajas, daß Jerusalem gerettet wird, die stimmt ziemlich genau mit dem überein, was Jesaja ungefähr 100 Jahre früher angesichts einer ähnlichen Bedrohung Judas durch die Großmacht aus dem Osten verkündigt hatte; und die Verkündigung Jesajas hatte sich ja damals als wahr erwiesen: Das riesige Heer der Assyrer, das Jerusalem belagert hatte, mußte unverrichteter Dinge wieder abziehen. Die Stadt und ihre Bewohner blieben unversehrt und mußten sich der Großmacht nicht unterwerfen. Hananja kann sich also auf die Tradition stützen, er konnte sich berufen auf das Wort Jesajas, also auf das Wort einer Autorität, die niemand in Zweifel ziehen konnte.
Falsche Prophetie, Berufung auf ein Reden Gottes, das bloß der Einbildung oder dem eigenen Wunschdenken entspringt, ist in manchem also nicht unterscheidbar vom echten Wort Gottes. Es sieht aus, als müßte Jeremia erst einmal klein beigeben. Er steht da, ohne daß Gott ihm zunächst ein neues Wort gibt, ohne daß Gott eingreift und den falschen Propheten zum Schweigen bringt. Vorerst ist da nur das Schweigen Gottes und Jeremia hat nichts in der Hand, das er dem, der das Gegenteil dessen gepredigt hat, was er zuvor im Auftrag Gottes gesagt hatte, entgegenhalten könnte.
Wie ist das nun: Gibt es gar keine Möglichkeiten, Worte und Meinungen, die von Gott her kommen, zu unterscheiden von solchen, die das zwar auch für sich beanspruchen, bei denen aber in Wahrheit nicht Gott dahinter steht?
3. Falsche Berufung auf Gott –
wie unterscheidet man sie von der echten?
Wir haben beim letzten Punkt gesehen, was als Kennzeichen für das echte Reden Gottes nicht reicht: Es reicht nicht, wenn jemand bloß behauptet (oder ich selbst bei mir diesen Eindruck habe): „Gott hat zu mir gesagt“ oder „der Herr hat mir gezeigt“. Vielleicht ist das subjektiv so empfunden, aber es kommt doch nicht von Gott, sondern aus dem eigenen Herzen; und wenn man in einer Gemeinschaft lebt, in der solche Formulierungen gängig sind, ist die Gefahr umso größer. Als Kennzeichen reicht auch nicht, daß die äußere Form dem entspricht, wie man Gottes Reden aus der Vergangenheit kennt.
Jeremia nennt selbst zwei Kriterien, wie wahre und falsche Berufung auf Gott zu unterscheiden sind: Das erste: Jeremia sagt: „Die Propheten, die vor uns gewesen sind, die haben geweissagt von Krieg und Unheil und Pest“. D.h. wir werden zurückverwiesen auf die Tradition. Wir haben vorher gesehen: Auch der falsche Prophet beruft sich auf die Tradition: Hananja kann sich berufen auf die Heilszusage, die Jesaja 100 Jahre früher an Jerusalem gerichtet und die sich dort bewährt hat; aber dem hält Jeremia entgegen: „Ja, damals vor 100 Jahren, damals kam dieses Heilswort von Gott; aber es reicht nicht ein einzelnes Wort, sondern es geht um den breiten Strom der Tradition, und der weist in eine andere Richtung“. Es gibt eine Grundrichtung des Redens Gottes in der Vergangenheit; wenn jemand von sich behauptet, daß Gott zu ihm geredet hat, muß er zeigen können, daß sich dieses Reden in einsehbarer Weise anfügt an das, was Gott früher gesagt hat. Es reicht also nicht, wenn man auf irgendeinen einzelnen Fall aus der Vergangenheit hinweisen kann, in dem Gott auch schon so geredet hat.
Ein Beispiel soll zeigen, was damit gemeint ist: Eine der neuen Entwicklungen in den protestantischen Kirchen ist, daß man die Einführung von sog. kirchlichen Scheidungsgottesdiensten diskutiert, Feiern, in denen man – quasi analog zur Bestattung – das Ende der Liebe in einer ehelichen Beziehung begeht und mit dem Segen Gottes die zwei Geschiedenen nun ihren Weg weitergehen können. Nun ist es ohne weiteres möglich, irgendeine Bibelstelle herbeizuziehen, auf die man sich berufen kann; z.B. zitiert man Stellen, in denen von der Barmherzigkeit Gottes die Rede ist, oder man nimmt das Wort Jesu aus Joh 8, das er zur Ehebrecherin sagt: „Hat dich niemand verurteilt? So verurteile ich dich auch nicht“. Das kann man eben tun, ein einzelnes Wort, das Gott einmal gesagt hat, aus dem Zusammenhang herausreißen und es auf die eigene Zeit übertragen ohne Rücksicht auf die Besonderheit der Situation, in der es gesprochen wurde, und es so verwenden, daß es zu dem paßt, was man erreichen will. Man kann das tun. Aber wenn das getan wird, sind wir dem nicht hilflos ausgeliefert, sondern wir finden bei Jeremia eine Hilfe zur Unterscheidung von Gottes Wort und menschlichen Wünschen (Jer 28,9): Ob die Berufung auf das Reden Gottes zu Recht geschieht, das erweist sich daran, ob es sich sinnvoll anfügt an das Reden und Handeln Gottes, wie es uns aus der Vergangenheit überliefert ist. Beim Beispiel der Scheidung ist es klar, daß dies etwas ist, nicht was in allen Fällen nicht sein darf, aber doch etwas, woran Gott keine Freude hat und was nicht zum normalen Weg der Ehe gehört, so daß man den Segen Gottes darüber aussprechen könnte. Nicht in jedem Fall wird sich so Klarheit gewinnen lassen; aber in manchen Fragen gibt es diese allgemeine Tendenz im Reden Gottes, die uns deutlich macht, welches sein Weg ist und welches nicht. Und je tiefer wir vertraut sind mit dem Handeln und Reden Gottes in der Vergangenheit, so, wie es uns in der Bibel überliefert wird, umso besser werden uns die großen Linien seines Weges deutlich. So werden wir besser erkennen, ob die Stimmen, die mit dem Anspruch an uns herankommen, das zu sagen, was Gott will, wirklich von ihm her kommen oder nicht.
Jeremia nennt noch ein zweites Kriterium: „Wenn ein Prophet Heil weissagt, erkennt man daran, daß sein Wort eintrifft, daß dieser Prophet wirklich von Gott gesandt war“. Das heißt: Eine Botschaft, die dem entspricht, was die Hörer gerne hören, fällt von vornherein stärker unter den Verdacht, nicht von Gott zu stammen; denn die Tendenz ist, daß Gottes Wort die Adressaten nicht einfach bestätigt in dem, wie sie leben. Der Wille Gottes, wie wir ihn in der Geschichte mit seinem Volk kennenlernen, ist nicht, das beliebige Verhalten der Menschen abzusegnen und noch so ein Stück religiöse Sahne auf den Kuchen unseres Lebens zu geben, den wir im übrigen selbst backen; sondern Gottes Wort ruft heraus aus dem, was sonst in dieser Welt als „normal“ und „recht“ gilt, es ruft uns zurück in die guten Ordnungen und in das Maß, das Gott unserem Leben setzt. Gottes Wort will eben nicht nur trösten. Natürlich, das Trösten gehört mit hinzu; aber das Wort, das wir sagen oder das uns gesagt wird im Auftrag Gottes, wird dort verdächtig, nicht wirklich Wort Gottes zu sein, wo es nur noch tröstet, wo nur noch Heil und Segen verkündet werden.
Wie sieht das aus am Schluß dieser Geschichte – einer Geschichte, zu der noch manches zu sagen wäre? Das Wort Jeremias ist in manchem erschreckend; aber es bleibt der Trost: Zuletzt wird Gott selbst eingreifen und seiner Wahrheit endgültig zum Durchbruch verhelfen, so daß alles Unklare abfallen und jeder Widerstand gegen Gott überwunden sein wird, auch der Widerstand gegen ihn in unserem eigenen Herzen.
Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 4. Januar 2006 um 15:17 und abgelegt unter Seelsorge / Lebenshilfe, Theologie.