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Vor Grundlegung der Welt erwählt! Was lehrt die Bibel zur Prädestination?

Mittwoch 26. März 2025 von Prof. Dr. Friedhelm Jung


Prof. Dr. Friedhelm Jung

In der 2000-jährigen Kirchengeschichte hat es viel Streit und manche Spaltungen wegen der Prädestinationslehre gegeben. Erst in der Zeit der Aufklärung wurde es ruhiger um dieses Thema. Im 20. Jahrhundert hat vor allem der Schweizer Theologe Karl Barth intensiv über die Prädestination nachgedacht und seinen christologischen Entwurf präsentiert, der aber keineswegs von allen akzeptiert wurde. Seit einigen Jahren kommt es in theologisch konservativen Kreisen in Deutschland vermehrt zu Uneinigkeit über die Frage der Vorherbestimmung, die in Einzelfällen auch schon zu Gemeindeabspaltungen geführt hat.

1. Begriff

Prädestination ist lateinisch und bedeutet Vorherbestimmung. In der christlichen Theologie bezeichnet man mit Prädestination die Lehre, dass Gott vor Grundlegung der Welt festgelegt hat, wer die ewige Seligkeit erreicht und wer nicht. Dabei ist Prädestination und Erwählung nicht dasselbe. Vielmehr ist Prädestination ein Sonderfall bzw. eine Teilmenge der Erwählung. Denn Gott erwählt Menschen nicht nur zum Heil (worauf sich Prädestination bezieht), sondern er erwählt auch ganz individuell einzelne Menschen zu irdischen Diensten als Priester, König, Prophet, Apostel usw.

In diesem Artikel geht es also um eine Sonderform der Erwählung, nämlich der Vorherbestimmung zum Heil.

2. Stellenwert

Die Prädestinationslehre ist keine zentrale und keine heilsnotwendige Lehre der Heiligen Schrift. Sie darf also nie den Stellenwert einnehmen, den z. B. die Trinitätslehre, die Jungfrauengeburt Jesu, sein Tod zur Vergebung der Sünden und seine Auferstehung einnehmen. Deshalb sollten sich Christen eigentlich wegen unterschiedlicher Auffassungen zur Erwählungslehre nicht spalten. Doch wie sie sich wegen unterschiedlicher Abendmahls- oder Taufüberzeugungen getrennt haben, so ist es leider auch wegen der Prädestinationslehre zu Spaltungen gekommen.

3. Biblischer Befund

Der biblische Befund ist eindeutig: Es gibt individuelle Erwählung!

Im AT erwählt Gott in freier Souveränität Israel zu seinem irdischen Volk (Dt 7,7f.) – und nicht Ägypten, Griechenland oder Rom.

Er erwählt Aaron und seine Söhne zu seinen Priestern (Ex 28,1) – und nicht Mose, der ihm eigentlich näher stand.

Er erwählt David, den jüngsten Sohn einer Familie, zum König – obwohl sieben ältere Söhne auch zur Verfügung standen (1. Sam 16,10ff.).

Er erwählt Jeremia zum Propheten, als dieser noch im Mutterleib war (Jer 1,5) – obwohl viele andere auch hätten in Frage kommen können. Im NT erwählt Jesus in souveräner Freiheit 12 Männer, die er zu seinen Aposteln beruft (Mk 3,13ff.).

Ebenfalls erwählt Gott in souveräner Freiheit Menschen, die zum Glauben an Jesus kommen und damit Erben des ewigen Lebens werden (Joh 6,44; 15,16; Apg 13,48; 16,14; Rö 8,29f.; 9,14-24; Eph 1,4.11).

Die griechischen Termini, die das Geschehen der Erwählung bezeichnen, sind folgende:

Proorizo – vorherbestimmen (z. B. Rö 8,29f.; Eph 1,5).

Prothesis – Vorsatz, Ratschluss (z. B. Rö 8,28; 9,11).

Eklegomai – erwählen (z. B. 1 Kor 1,26ff.; Eph 1,4; Jak 2,5).

4. Interpretationen des Befundes

Der biblische Befund zum Thema Prädestination ist unterschiedlich interpretiert worden. Vor allem zwei Richtungen gilt es zu unterscheiden: Eine Richtung versteht Erwählung als Vorherwissen Gottes (diejenigen, von denen Gott im Voraus weiß, dass sie sich einmal für Jesus entscheiden werden, sind die Prädestinierten bzw. Auserwählten). Die andere Richtung lehrt, dass Gott frei bestimmt und festgelegt hat, wer zum Glauben an Jesus findet.

Unter den Anhängern dieser zweiten Richtung gibt es solche, die meinen, dass Gott nicht nur bestimmt hat, wer glaubt (einfache Prädestination), sondern auch, wer nicht glaubt (doppelte Prädestination).

Aber: Wir finden keine Bibelstellen, die sagen, dass Gott Menschen zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt hat. Gott braucht auch gar nicht jemanden zur Verdammnis zu bestimmen; wir haben uns als Folge des Sündenfalls und unserer vielen Einzelsünden selbst dazu bestimmt. Wir sind alle „Kinder des Zorns von Natur“ aus (Eph 2,3). Es kann also nur eine Erwählung zum Heil geben.

Allerdings übergeht Gott diejenigen, die nicht zum Heil vorherbestimmt sind; diese empfangen ihr gerechtes Urteil für ihr sündiges Leben, während die Auserwählten begnadigt werden.

Manche werfen deshalb Gott Ungerechtigkeit vor, weil er die einen begnadige und die anderen ihrem gerechten Urteil überlasse. Doch Rö 9,14ff. zeigt, dass dieser Vorwurf ins Leere läuft. Erstens handelt Gott nie ungerecht, und zweitens vollzieht er an denen, die verloren gehen, lediglich das ihnen zustehende Gericht.

5. Widersprüche zu anderen Stellen

Aber sagt nicht die Bibel, dass Gott die ganze Welt liebt (Joh 3,16) und dass er will, dass alle Menschen zum Heil finden (1 Tim 2,4)?

Sagt sie nicht weiterhin, dass wir Menschen selbst dafür verantwortlich sind, wenn wir verloren gehen, weil wir eben das Heilsangebot Jesu nicht annehmen (Apg 13,46)?

Die Prädestinationslehre ist logisch nicht fassbar. Sie ist vergleichbar mit der Trinitätslehre und mit der Lehre der zwei Naturen in Jesus. Man spricht hier von einer Antinomie. Unter Antinomie versteht man den Widerspruch zweier Sätze zueinander, von denen jedoch jeder für sich Gültigkeit beanspruchen kann („Jesus war ganz Mensch, aber auch ganz Gott“; „es gibt nur einen Gott, aber er existiert in drei Personen“). Auch die Naturwissenschaft kennt das Antinomie-Prinzip.

Vor 100 Jahren hat die Physik das Licht erforscht und erkannte, dass – je nach Versuchsanordnung – das Licht einmal Welle und ein anderes Mal kleinstes Teilchen (Korpuskel) ist. Die Physiker konnten sich diesen Widerspruch nicht erklären. Sie diskutierten lange und kontrovers, bis einer von ihnen vorschlug, komplementär zu denken. Durch die Lehre von der Komplementarität lernte man, zwei sich offensichtlich widersprechende Erscheinungen als sich ergänzend zu akzeptieren.

Ähnlich können auch wir die sich scheinbar widersprechenden Aufforderungen der Bibel verstehen (Phil 2,12f.). Unsere menschliche Verantwortung und Gottes Souveränität ergänzen sich geheimnisvoll. Auch bedeutet die Vorherbestimmung nicht eine Vergewaltigung des menschlichen Willens. Niemand entscheidet sich gegen seinen Willen für Jesus. Gott wirkt vielmehr geheimnisvoll das Wollen und das Vollbringen (Phil 2,13; Apg 16,14).

Gottes erwählendes Handeln und sein Wunsch, dass alle gerettet werden, muss ebenfalls komplementär verstanden werden. Im Himmel werden wir diesen (scheinbaren) Widerspruch verstehen (1 Kor 13,9-12).

Treffend hat jemand das Geheimnis von Gottes Erwählung und unserer Verantwortung mit folgendem Bild dargestellt: Eine Tür mit Türrahmen; auf der Vorderseite des Türrahmens steht: „Gehet hinein durch die enge Pforte!“; der Mensch geht hindurch, dreht sich um und liest auf der Rückseite: „Erwählt vor Grundlegung der Welt“.

Auch das Problem der Unverlierbarkeit des Heils ist analog zu klären. Die Bibel lehrt beides. Den kleinmütigen Seelen sagt sie: Niemand kann euch aus des Vaters Hand reißen (Joh 10,29). Den Selbstsicheren dagegen sagt sie: Seht zu, dass keiner unter euch ein böses oder ungläubiges Herz habe, das von dem lebendigen Gott abfällt (Hebr 3,12).

Auch hier müssen wir also komplementär denken und nicht das eine gegen das andere ausspielen; denn die Heilige Schrift lehrt beides: die Unverlierbarkeit des Heils und die reale Gefahr des Abfalls (Hebr 6,4ff.; 10,26ff.).

Fazit

Die Heilige Schrift lehrt klar eine individuelle Erwählung. Sie lehrt aber auch den allgemeinen Heilswillen Gottes und unsere menschliche Verantwortung. Diese Spannung müssen wir aushalten und beides als sich ergänzend betrachten. In Predigt und Lehre sind beide Wahrheiten ausgewogen darzustellen.

Dr. theol. Friedhelm Jung, Professor für systematische Theologie (SWBTS, USA)

Bibelseminar Bonn / Southwestern Baptist Theological Seminary

Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Quelle: Bibel und Gemeinde, 1/2025, Seiten 57-59.

Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 26. März 2025 um 8:40 und abgelegt unter Gemeinde, Kirche, Kirchengeschichte, Theologie.