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Der Protestantismus vor dem Reformationsjubiläum

Dienstag 14. März 2017 von Landesbischof i. R. Prof. Dr. Gerhard Maier


Landesbischof i. R. Prof. Dr. Gerhard Maier

In diesen Tagen münden die Vorbereitungen für das Jubiläumsjahr der Reformation in die letzte Phase ein. Das Gedenken gilt 500 Jahren Reformationsgeschichte, deren Beginn auf den 31. Oktober 1517 angesetzt wird. Damals schlug Luther 95 Thesen an, in denen er eine akademische Diskussion über den Wert der Ablässe herausforderte.

I. Einige derzeitige Tendenzen

  1. Eine davon wird gut fassbar im Chrismon-Artikel von Katharina Kunter, der kürzlich unter dem Titel «Ende eines Helden» erschienen ist.1 Der Verfasserin geht es darum, Martin Luther aus den Fesseln einer nationalen Vereinnahmung zu befreien. Sie verweist auf Beispiele aus dem ersten Weltkrieg. Dahinter steckt offenkundig das Bestreben, Luther im Reformations-Festjahr nicht irgendwelchen Missverständnissen zum Opfer fallen zu lassen.
  2. Eng damit verwandt ist eine zweite Tendenz, nämlich bewusst die dunklen Seiten des Reformators und überhaupt der Reformation anzusprechen. Man möchte sich nicht dem Vorwurf aussetzen, ein einseitig positives Bild der Reformation zu vermitteln oder gar eine Art Kult der Reformatoren zu feiern.
    Kunter formuliert diese Besorgnis: Manchmal scheine es so, «als wolle die Kirche mit einem perfekt inszenierten Reformationsjubiläum beglücken».2 Deshalb behandelt man immer wieder die antijudaistischen Schriften Luthers oder auch seine harte Kritik an den Bauern im Bauernkrieg oder an den Täufern oder – weil besonders aktuell – an den Muslimen.
  3. Eine dritte Tendenz tritt bei den ökumenischen Gesprächen mit der katholischen Kirche hervor. Diese Gespräche, die offenbar intensiv geführt werden, zielen darauf ab, möglichst viele gemeinsame Beurteilungen aufzuweisen. Es bleibt allerdings ein Grund-Dissens, den Kardinal Koch3 etwa so formuliert: Ein Jubiläum «kann von der Katholischen Kirche 2017 nicht gefeiert werden, wohl aber ein umfassendes Gedenken.»
  4. Eine vierte Tendenz lässt sich eher im Hintergrund wahrnehmen, ist aber durchaus spürbar. Sie ist keineswegs neu, sondern die Fortsetzung einer jahrhundertelangen Linie. Das ist die Tendenz, den Reformator als den Vater der Bibelkritik und als den Ausgangspunkt der historisch-kritischen Methode in Anspruch zu nehmen. Diese Tendenz wird zum Beispiel in Werner Georg Kümmels «Das Neue Testament» in klassischer Weise formuliert4, und prägt heute die Einleitungswissenschaft in weiten Teilen.
  5. Aus einer Summe von Tendenzen, die sich natürlich immer neu vermehren lassen, ergeben sich noch keine Resultate. Als Zeitgenosse und gerade als evangelischer Beobachter fragt man sich jedoch: Was ist die Gesamtstrategie bei diesen Jubiläumsfeierlichkeiten? Worauf zielen sie? Adolf Schlatter hat in seinem «Christlichen Dogma» die Überzeugung vertreten, dass jedes Denken mit einem Wollen verknüpft sei.5 Man fragt deshalb: Welches Wollen steckt hinter den vielen Planungen und Gedankenblitzen, die das Jubiläum vorbereiten? Werden wir manchmal nicht an einen Läufer erinnert, der ein perfektes Krafttraining absolviert, der aber bisher weder Bahn noch Ziel kennt?

II. Umschau: Der heutige Protestantismus in der Welt der Religionen

1. Inmitten der anderen christlichen Kirchengruppen

Die Wahrnehmung, dass er eine Bewegung innerhalb einer großen Kirche in dieser Welt bildet, fällt ihm schwer. Manchmal fällt es uns Protestanten schon schwer, auch in andern Protestanten noch die unam sanctam ecclesiam zu erkennen, die wir im Apostolischen Glaubensbekenntnis bekennen. Das Ziehen von Grenzen blieb in unserer ganzen Geschichte ein offenes Problem. Ich erinnere mich an meine Jugend in Ulm an der Donau. Wenn einer über die Donaubrücke ins bayrische Neu-Ulm ging, hieß es: «Jetzt kommt man in den Balkan», und wenn die Rede von lutherischen Gottesdiensten war, die man drüben in Neu-Ulm feierte, lief manchem Ulmer eine Gänsehaut über den Rücken.

Inzwischen ist deutlich, dass Gott die Hoffnung der frühen reformatorischen Generationen, dass die Reformation sich überall durchsetzen würde, nicht erfüllt hat. Im Gegenteil: Die Lutheraner schwinden in ihren Kernländern mehr und mehr, andere protestantische Denominationen nicht weniger. Die Christenheit wird heute stärker von den Kirchengruppen der Katholiken und Orthodoxen bestimmt. Eine besondere Tragik unserer Zeit liegt darin, dass die orientalischen Kirchen, die 1400 Jahre dem Islam widerstanden haben und in denen teilweise noch die Sprache Jesu gesprochen wird, jetzt binnen einer Generation nahezu ausgelöscht werden. Es ist allerdings hier nicht die Möglichkeit, dieses Thema weiter zu erörtern. Auch die bedrückende Tatsache, dass die protestantischen Kirchen teilweise untätig, teilweise sogar auf der Seite der Gegner der untergehenden Kirche sind, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Genug, dass wir sehen, dass der Protestantismus auch 500 Jahre nach seiner Entstehung über seinen Platz inmitten der anderen christlichen Kirchengruppen unsicher geblieben ist.

2. Inmitten anderer Weltreligionen

Die Renaissance des Islam wird in Europa immer noch als Überraschung empfunden. Es lässt sich wohl kaum ein größerer Gegensatz denken, als der zwischen dem Urteil unseres großen Dogmatikers Karl Heim (1874–1958) und dem tatsächlichen Geschehen. Karl Heim erklärte 1928, als er von der Tagung des Internationalen Missionsrates in Jerusalem zurückkehrte, es gebe eine «absolute Überlegenheit» des Christenglaubens gegenüber den religiösen Werten aller anderen Religionen.6 Die außerchristlichen Weltreligionen hätten demnach keine Zukunft mehr gehabt. Achtzig Jahre später hat Deutschland zwischen vier und fünf Millionen Muslime, darunter zum Islam konvertierte Kirchenmitglieder, und man nimmt auf einen Schlag eine Million Muslime auf. Es hat muslimische Minister, Parlamentarier, Soldaten und einflussreiche muslimische Verbände. Nicht anders das übrige Westeuropa. Was geschieht hier? Als Christen haben wir die Überzeugung, dass Gott die Weltgeschichte regiert. Ist diese Überzeugung richtig, dann stellt sich die Frage: Was will uns Gott mit diesem Geschichtsverlauf sagen? Waren wir blind? Die Renaissance des Islam begann vor ca. 150 Jahren. Aber das Überlegenheitsgefühl, das den Abendländer in Karl May’s «Menschenjäger» auszeichnet, ist uns immer noch geblieben. Haben wir vergessen, dass die mittelalterlichen Disputationen zwischen Christen und Muslimen in der Regel unentschieden ausgingen? Ich erinnere mich noch gerne an meinen evangelischen Religionsunterricht. Mit Genugtuung hörten wir von den christlichen Missionaren. Aber dass die Ausbreitung des Islam oft schneller vonstattenging, davon erfuhren wir nichts. Ist ein 500-jähriges Jubiläum nicht auch ein Anlass, sich den Fragen dieser Geschichte und vor allem den heutigen Herausforderungen zu stellen? Wie entschieden müsste da der missionarische Auftrag in den Vordergrund rücken.

Allerdings geht es nicht nur um Dialog, Mission und Theologie des Islam. Wie schon angedeutet, begegnen wir heute auch dem Buddhismus, dem Hinduismus und sogar dem Animismus auf erstaunlicher Breite. Wir haben es nicht mit schwächelnden Weltreligionen zu tun, sondern mit einer universalen Wiederkehr der Religion. Wiederkehr der Religion heißt aber zugleich: Wiederkehr der Wahrheitsfrage. Es geht um die Wahrheit, die meine Existenz gestaltet, nicht um Lessings Ringparabel, die mein Denken in einer sanftmütigen Toleranz zur Ruhe bringt.

Man muss es freilich Lessing zugestehen, dass er in fast prophetischer Hellsicht den zukünftigen Weg des aufklärerischen Europa beleuchtet hat. Seine Gedanken sind in großem Maßstab Allgemeingut des heutigen Protestantismus geworden. Als aktuelles Beispiel erwähne ich den Beitrag von Dietrich Heyde jüngstens im Deutschen Pfarrerblatt.7 Im Schlussabschnitt stellt der Verfasser fest: «Jede Religion ist… eine (nicht die) menschliche Wahrheit» und: Jede Religion muss abrücken von dem «Anspruch, die alleinige Wahrheit zu sein».7a Soll der Protestantismus mit dieser vorgegebenen Relativierung in das Gespräch mit den Religionen und der Welt eintreten? Wo und wie wird er darauf im Jubiläumsjahr eine Antwort geben?

Damit rühren wir schon an den inneren Weg des Protestantismus, den wir in diesen 500 Jahren zurückgelegt haben.

3. Zum inneren Weg des Protestantismus

Der Protestantismus gleicht einem Strom aus zwei Quellen. Die erste Quelle ist ein biblisch-reformatorischer Impuls. Er suchte das wahre Evangelium, die echte apostolische Kirche, die Gnade und Gerechtigkeit Gottes für den einzelnen Christen. Jener Impuls schlug sich nicht zuletzt nieder in der Liebe zum Wort Gottes entsprechend des berühmten Satzes Martin Luthers in seiner Assertio ominum articulorum von 1520: «ich will, dass die Schrift allein Königin sei» (solam scripturam regnare).8

Die zweite Quelle ist der Humanismus der großen europäischen Renaissance-Bewegung in Wiederaufnahme der vorchristlichen griechisch-römischen Tradition. Dieser Humanismus richtete sich damals kirchenkritisch gegen die bestehende römisch-katholische Kirche, trug aber das Potential zur Kritik an jeder vorfindlichen Kirche in sich. Das Licht, dem er folgte, war das Licht der Vernunft, die Kategorien, derer er sich bediente, schuf später die Aufklärung.

Zuerst dominierte der biblisch-reformierte Impuls, der Luther, Calvin, Zwingli, Sattler und die frühen Täufer regierte. Man denke an die berühmte Definition Hans Schlaffers: «Ein Nachfolger Christi, der ist ein Christ.»9 Biblisch-reformatorisch wurde von der Herrlichkeit Christi gesprochen. Wieder und wieder wurde seine Zentralstellung hervorgehoben. Luther konnte ganz konzentriert sagen: «Wo Christus auch immer ist, da ist Licht.»9a Dann aber gewann der zweite Impuls, der aufklärerische Humanismus, mehr und mehr Raum. Im Zeitalter Lessings heißt es nun, dass Erziehung und Aufklärung im Wege der Vernunft auf die «höchste Stufe» führen werden.10

Noch immer gibt es das Kraftreservoir des biblischen Glaubens in den protestantischen Kirchen. Pietismus, biblizistische Theologie, bekenntnistreue Pfarrer, Erweckungsbewegungen und freie Gemeinden haben dazu beigetragen. Vor allem liegt ein solches Kraftreservoir in den außereuropäischen Kirchen. Es war ein Highlight für die deutsche Fußballwelt, als die brasilianischen Fußballer in der 1. Bundesliga anfingen, ihre Trikots auszuziehen um mit dem großen Jesus-Namen auf ihren Hemden darunter zu werben. Natürlich wurde das von den deutschen Ordnungshütern rasch untersagt.

Doch neben den Kontinentalschollen biblischer Verkündigung und missionarischen Lebens drängte sich unaufhaltsam das Meer aufgeklärt-humanistischer Impulse hervor. Das Dogma von der Widersprüchlichkeit der Schrift setzte sich gegen die anderslautenden Äußerungen der neutestamentlichen Verfasser und gegen Augustinus durch. Wo die Inspirationslehre überlebte, beschränkte sie sich auf den Bereich der Personalinspiration. In den modernen Glaubensbekenntnissen, die Gerhard Ruhbach schon 1971 gesammelt hat,11 findet sich viel über die Ohnmacht Jesu, seinen Kampf um die Veränderung der Verhältnisse, über Jesus als Bruder und Vorbild, aber wenig über die Erlösung, die durch ihn geschah. Hier warten wirklich dringliche und der Zeit entsprechende Aufgaben auf uns. Mit dem Bild Martin Luthers als eines Polterers und Antisemiten hat man zu ihrer Lösung wenig beigetragen. Wir verlassen damit die Betrachtung äußerer und innerer Wege des Protestantismus und kommen zu einem dritten Teil:

III. Ungelöste Aufgaben

Dieser Punkt ist sicherlich am meisten subjektiv geprägt. Andere würden ganz andere Akzente setzen. Meinerseits möchte ich hier auf drei Gebiete zu sprechen kommen: die Ethik, die Ekklesiologie und die Schriftfrage.

1. Das Gebiet der Ethik

Kaum ein Rom-Führer wird sich die Möglichkeit entgehen lassen, die Via Urbana und die Via Panisperna zu besuchen, wo Cäsar gewohnt haben soll und Laurentius getötet wurde. Er wird dann wohl auch die kleine Nebengasse Salita Borgia aufsuchen, in der die Geliebte des Papstes Alexander VI. wohnte, die ihm vier Kinder gebar. Die Verhältnisse des Borgia-Papstes waren bekanntlich einer der Auslöser der Reformation. Man hätte von daher erwarten dürfen, dass die Reformation der Ethik einen vorrangigen Platz einräumte. Das aber wird man nicht so ohne weiteres sagen können, jedenfalls nicht, was das Luthertum betrifft. Sehr früh begegnen wir der Klage, dass die evangelisch Gesinnten keineswegs einen vorbildlichen Lebenswandel führten. So schrieb Landgraf Philipp von Hessen 1530 an seine Schwester Elisabeth von Sachsen: «Ich sehe auch mehr Besserung bei denen, die man Schwärmer heißt, denn bei denen, die lutherisch sind.»12 Und Ludwig Hätzer attackierte die Anhänger Luthers mit den Versen: «Ja, spricht die Welt: es ist nicht noth, dass ich mit Christo leide. Er litt doch selbst für mich den Tod, nun zech ich auf sein Kreide. Er zahlt für mich, dasselb glaub ich. Hiermit ists ausgerichtet. O Bruder mein! es ist ein Schein; der Teufel hats erdichtet.»13 Nicht umsonst hat später der Pietismus die Lebensreformation betont. Unter den Theologen des 20. Jahrhunderts legte Schlatter besonderen Wert auf die Werke des Gehorsams. In seiner Jakobusbrief-Auslegung konnte er schreiben: «Das ist die Weise der göttlichen Gnade, dass sie unsere bösen Werke vergibt und die Werke unseres Gehorsams uns zum Grund der Segnung macht.»14 Dabei geht es nicht nur um die theologische Klärung des Verhältnisses von Glauben und Werken. Es geht vielmehr um die ganze praktische Arbeit der Kirche. Und es geht ganz grundsätzlich um das Verhältnis von Prinzipien und Geboten, meines Erachtens besonders dringlich beim Prinzip der Liebe. Hat nicht der Protestantismus auf breiter Front die konkreten Gebote Gottes ersetzt durch seine Prinzipien, die sich nahezu beliebig füllen und färben lassen?

Es entspricht ganz dem Wesen der Aufklärung, wenn damit eine zunehmende Moralisierung des Lebens einhergeht. Sie findet statt unter den unmöglichsten Begriffen wie zum Beispiel dem des Fremdschämens oder der Trauerarbeit. Natürlich kann man nicht alle Schuld an den gesellschaftlichen Entwicklungen dem Protestantismus zuschieben. Aber man wird nicht leugnen können, dass er dazu seinen Beitrag leistete. In alledem behielt er eine merkwürdige Affinität zum politischen Leben. Ich erinnere mich an die Zeit, als es in der Württembergischen Landessynode um die Frage ging, ob der Evangelische Kirchentag nach Stuttgart eingeladen werden sollte. Damals definierte der Bundesrichter Helmut Simon, eine führende Gestalt des Kirchentages, die evangelische Kirche so: «Wir sind eine Bürgerrechtsbewegung.» Diese Simon’sche Definition scheint mir nahe an der Wahrheit und kommt mir immer wieder ins Gedächtnis, wenn es zum Beispiel um öffentliche Stellungnahmen der evangelischen Kirchen geht. Dieser Tage erschien ein interessanter Artikel im Deutschen Pfarrerblatt, der den Titel trägt: «Die EKD und das neue Mittelalter».15 Verfasser ist Dr. Karl Richard Ziegert, früher Direktor der Ev. Akademie Speyer, 1995–2011 landeskirchlicher Beauftragter für Weltanschauungsfragen. In einem Abschnitt, der mit «Abkehr von den Grundauffassungen der Reformation» überschrieben ist16, beklagt er, dass die Kirche «in die Rolle der ersten Moralagentur der Gesellschaft» geschlüpft sei. Sie sei zum Anwalt einer «Moral mit Annahmezwang» geworden.

Umso kritischer ist es, wenn die deutschen protestantischen Kirchen alle paar Jahre ihre Meinung ändern. Beobachten ließ sich dies beispielsweise in der Beurteilung von Homosexualität und Mission. Kann eine christliche Kirche alle 15 oder 20 Jahre ihre Meinung ändern? Ein Jubiläumsjahr könnte ein Moment der Besinnung sein und Anstöße zu biblischen Klärungen und Perspektiven geben. Wird diese Chance wahrgenommen?

2. Das Gebiet der Ekklesiologie

Wir sprachen bisher mit einer gewissen Selbstverständlichkeit von «Protestantismus». Dieser zusammenfassende Begriff ist wohl unverzichtbar. Aber hat er genügend Realsinn? Vor meinen Augen steht ein Erlebnis in Mbeya, Tansania, aus dem Anfang der 2000er-Jahre. Im Rahmen einer Reise einer württembergischen Kirchendelegation wurde ich damals zu Vorlesungen an der noch jungen Universität eingeladen. Aber nicht ohne Vorprüfung. Die Vertreter der dortigen lutherischen Theologie wollten von mir ganz konkret wissen, wie ich zu bestimmten Punkten stünde. Sie hatten mit Lutheranern aus Europa zwiespältige Erfahrungen gemacht. Damals ging mir erst so richtig auf, wie tief der Riss zwischen europäischen und afrikanischen Lutheranern sein kann.

Wir wollten von ungelösten Aufgaben des Protestantismus im Gebiet der Ekklesiologie sprechen. Dabei geht es zunächst einmal um unsere Wahrnehmung. Wir sind Zeugen einer ständig fortschreitenden Auffächerung. Wie viele protestantische Kirchen gibt es? Als ich Bischof in Stuttgart war, konnte ich das nicht einmal für Stuttgart sagen. Als ich Regionalbischof in Ulm war, erhielt ich eines Tages eine schlichte Postkarte: «Wir haben in Ulm eine neue Gemeinde gegründet.» Ich fand es sympathisch, dass man sogar eine Postkarte an den Prälaten und Regionalbischof schrieb. Wie total anders das Denken in andern Kirchengruppen ist, wurde mir in Weißrussland bewusst. Als wir einen Arbeiterpriester in einer Vorstadt von Minsk besuchten, gab es zunächst eines jener langatmigen Einführungsreferate. Am Schluss reckte er sich hoch auf – irgendwie erinnerte er mich an Tolstois Figuren – und sagte langsam und betont: «Ich arbeite hier im Segen des Bischofs.» Dieser Segen drückte für ihn gleichzeitig die Einheit der Kirche aus.

Seit den Reformatoren Luther, Calvin, Zwingli, Melchior Hofmann, Menno Simons und anderen hat sich die Auffächerung in Kirchen und Glaubensgemeinschaften innerhalb des Protestantismus immer weiter fortgesetzt. Der Dynamik dieser Entwicklung entspricht jedoch keine besondere Kraft der Ekklesiologie. Um es zugespitzt zu sagen: Wir alle lieben unsere Gemeinde, aber nicht die apostolische Kirche, die wir im Apostolicum und Nicaenum bekennen. Dahinter taucht eine zweite, biblische Dimension auf: Was ist dann mit Joh 13,34-35 und Joh 17,20ff?

Meines Erachtens wirkt sich hier bis heute ein reformatorischer Grundimpuls aus. Kurz gesagt: Wir wollten die Kirche reformieren, aber nicht Kirche sein. So bleibt die Ekklesiologie eine unge-löste Aufgabe.

3. Das Gebiet der Schriftfrage

Zweifellos ist das das schwierigste und doch ein entscheidendes Gebiet. Nur von «Hermeneutik» zu sprechen, würde zu kurz greifen. Denn infolge der Reformation wurde die Bibel zu einem Volksbuch, das lange Zeit auch den Alltag der Evangelischen prägte. Man kann sich in der Tat diesem Thema nur so nähern, dass man zuerst mit größter Achtung von der Wiederentdeckung des Wortes Gottes spricht. Was Gottes Wort sagte, das wurde der alles andere überbietende Maßstab für Lutheraner, Calvinisten und die Täufer. Ob das Schleitheimer Bekenntnis vom 24. Februar 1527 darauf bestand, dass die Christen «gewappnet sind mit dem Wort Gottes» (Art. 6), ob die Confessio Augustana die Kirche als den Ort definierte, an dem das Evangelium rein gepredigt wird (Art. 7), ob das Zweite Helvetische Bekenntnis von 1566 das erste Kapitel sogar mit den Aussagen über die Heilige Schrift als «das wahre Wort Gottes» begann – überall, wo wir es mit der Reformation zu tun bekommen, gibt es keinen Zweifel daran, dass das biblische Wort Gottes die höchste Instanz darstellt. Eindrücklich ist aber nicht nur dessen Bekenntnisrang, sondern auch die unmittelbar damit wachsende Liebe zu Jesus Christus. Weil gleichzeitig Heiligenverehrung und die Notwendigkeit einer Heilsvermittlung durch die Kirche entfielen, entstand ein neues, unmittelbares Verhältnis zu Jesus. Im Solus Christus fassen sich ebenso wie im Sola fide, Sola gratia und Sola scriptura Hauptanliegen der Reformation zusammen. Noch einmal sei unterstrichen: Bis heute erscheint das unmittelbare, persönliche Jesus-Verhältnis als eine Besonderheit der Reformationskirchen. Kind Gottes zu sein, wie es Röm 8 beschreibt, ein Nachfolger Jesu wie die Apostel zu werden, all das hat die Reformation neu erschlossen. Insofern sie dieses persönliche Jesus-Verhältnis, gegründet auf sein Wort, eröffnen, sind auch die Pfingstkirchen reformatorische Kirchen.

In einer langsamen, allmählichen Entwicklung hat aber das Wort Gottes mehr und mehr die Stellung einer «Königin» eingebüßt, die ihm Luther so entschieden einräumen wollte.17 Es geriet nicht nur unter die Schatten des Zweifels, sondern der Theologiestudent sollte gezielt lernen, dass der Ausgangspunkt der neutestamentlichen Forschung «der wissenschaftliche Zweifel» sei.18 Die protestantischen Kirchen im nordatlantischen Raum stehen deshalb in einem ununterbrochenen Ringen um die Schriftfrage. Die Alternative lautet: Ist die Bibel Gottes Wort oder enthält sie es nur? Soweit ich es beurteilen kann, vertritt eine breite Mehrheit bis in die evangelikale Bewegung hinein die These, dass die Bibel lediglich Gottes Wort enthält. Die unmittelbar daraus folgende Aufgabe, festzustellen, wo dann in der Bibel dieses Wort Gottes vorliegt, ist kirchlich nicht mehr beantwortbar. Sie mündet in einen Subjektivismus, der ein Kirche-Sein ernsthaft in Frage stellt. Ich mache mir das an drei Generationen theologischer Lehrer klar: Für Rudolf Bultmann war die traditionelle Sühnetheologie unsittlich, weil jeder für seine eigene Schuld einstehen muss. Für seinen Schüler Ernst Käsemann dagegen war die Sühnetheologie unbestreitbar ein Teil des Neuen Testaments, allerdings nur eine Rand-Überlieferung. Für dessen Schüler Peter Stuhlmacher wiederum war die Sühnetheologie ein Kernstück des Neuen Testaments. Die Folgen solcher Entwicklungen lassen sich zunächst daran aufzeigen, dass mehr und mehr die theologischen Kategorien durch anthropologische ersetzt werden. Die Bibel wird in deren Sichtweise als ein Niederschlag menschlicher Erfahrungen behandelt. Altes und Neues Testament leben aber von der Aussage «Und Gott sprach». Versteht man dies nur noch als Ausdruck menschlicher Erfahrung, dann verschwindet der Gott, der in Raum und Zeit eingreift, aus der Geschichte. Es verschwindet aber auch auf lange Sicht jeder Unterschied der Religionen. Denn die religiöse Erfahrung, für sich betrachtet, teilen sich alle Menschen.

Unmittelbar zu beobachten sind die Folgen einer kritischen Bibelexegese sodann im Bereich der Inspirationslehre. Peter Stuhlmacher meinte schon vor vierzig Jahren, diese drohe zu «verkommen».19 In der Tat: Die Verbalinspiration, an der die Kirchenväter ebenso hingen wie die Väter der Reformation und des Pietismus, taucht heute meist nur noch in höhnischen oder schulmeisterlichen Bemerkungen auf. Die bloße Realinspiration scheiterte an ihren eigenen Problemen. Geblieben sind die Restbestände der Personalinspiration wie das «religiöse Genie» oder ein Faszinosum oder Tremendum. Aber der ursprüngliche Kern der Inspirationslehre, dass nämlich ein persönlicher Gott seine Botschaften bestimmten Menschen eigegeben habe, ging weithin verloren. Meines Erachtens wird uns dieser Verlust erst dann voll bewusst werden, wenn es im Gespräch zwischen Christen und Muslimen, zwischen Bibel und Koran, nicht mehr nur um freundliche Grußbotschaften, sondern um die Wahrheit geht.

Eine dritte Folge kritischer Schriftauslegung lässt sich an einem Phänomen beobachten, das Martin Kähler einst den «Gelehrtenpapat» genannt hat. Im Verlauf der skizzierten Entwicklung konnte und durfte nämlich nur die wissenschaftliche Exegese feststellen, was Jesus wirklich gesagt haben könnte, welcher Evangelist irgendwelchen Tendenzen bis hin zu Polemik und Geschichtsverbiegung gefolgt sein soll, oder was die Aussagerichtung der biblischen Texte sei. Der evangelischen Gemeinde, die in der Reformation mit der Bibel beschenkt wurde, die gerade dadurch ihre Mündigkeit erlangt hatte, wurde auf diese Weise die Bibel wieder entzogen. Ein Kontinuum der Reformationsgeschichte ist damit zerbrochen.20 Verse wie diejenigen, die Nikolaus Ludwig von Zinzendorf 1725 dichtete: «Herr, dein Wort, die edle Gabe, diesen Schatz erhalte mir, denn ich zieh es aller Habe und dem größten Reichtum für. Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten, worauf soll der Glaube ruhn? Mir ists nicht um tausend Welten, aber um dein Wort zu tun»21 haben damit die Bodenhaftung verloren. Ist es nicht so, dass unsere Andachten mehr und mehr von unseren klugen Gedanken leben, aber immer weniger vom Schwarzbrot der Bibel?

Welche Antworten wird das 500-jährige Jubiläum auf solche Herausforderungen geben? Sicher: Ein Jubiläum ist kein Konzil. Aber eine Richtung, eine Wahrnehmung, eine Strategie sollte doch erkennbar sein. Das Gedenken an die Reformatoren genügt nicht, auch wenn sie von Gott gesegnete Menschen gewesen sind. Mein Wunsch lautet: Gebt den Protestanten das Bibelvertrauen zurück! In der ältesten uns erhaltenen christlichen Apologie, der des Aristides um 140 n. Chr., findet sich die Aussage: «Die Christen sind herumgezogen und haben gesucht, und die Wahrheit gefunden».22 Dankbare Finder der Wahrheit zu sein, das würde uns Heutige mit den Reformatoren aufs engste verbinden.

Festvortrag von Landesbischof i. R. Prof. Dr. Gerhard Maier am Dies academicus der STH Basel am 24. September 2016

Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.
__________________

1 Chrismon, 06.2016, S. 48–49.

2 A.a.O, S.  49.

3 Mündliche Mitteilung.

4 Dort 2. Aufl., Freiburg/ München, 1970, S. 16ff.

5 Das christliche Dogma, 2. Aufl., Stuttgart, 1923, S. 96.

6 In: Ich gedenke der vorigen Zeiten, 4. Aufl., Wuppertal, 1980, S. 177 und 186.

7 Heft 8/2016, S. 432 ff.

7a A. a. O., S. 435.

8 Nach E. Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 4. Aufl., Berlin, 1964, S. 85.

9 Vgl. «Die Johannesoffenbarung und die Kirche», WUNT, 25, 1981, S. 206.

9a WA 25, 120, 41 nach K. Aland, Lutherlexikon, 4. Aufl., Göttingen, 1983, S. 62.

10 G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1777, § 81.

11 Unter dem Titel «Glaubensbekenntnisse für unsere Zeit», Gütersloh, 1971.

12 Vgl. dazu G. Maier, Die Johannesoffenbarung und die Kirche, WUNT, 25, 1981, S. 205.

13 Vgl. a. a. O.

14 Der Brief des Jakobus, in: Schlatters Erläuterung zum Neuen Testament, 9. Teil, Stuttgart, 1928, S. 182.

15 Dt. Pf. Bl., Heft 7/2016, 116. Jahrgang, S. 383 ff.

16 A. a. O., S. 384

17 Vgl. Anm. S. 8.

18 So H. Conzelmann/A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 3. Aufl., Tübingen, 1977, S. 37.

19 Vom Verstehen des Neuen Testaments, NTD, Ergänzungsreihe, 6, Göttingen, 1979, S. 50.

20 Vgl. P. Stuhlmacher in ThB, 47, 2016, S. 224.

21 EG 198, S. 1.

22 Vgl. dazu G. Maier, Hermeneutik, 10. Aufl., Witten, 2015, S. 358.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 14. März 2017 um 11:53 und abgelegt unter Kirche, Theologie.