Die EKD und das neue Mittelalter – über die Widersprüche im kirchlichen Reformationsgedenken
Mittwoch 27. Juli 2016 von Pfr. Dr. Karl Richard Ziegert
Protestantische Kirchen nennen sich ganz selbstverständlich „Kirche der Reformation“. Dass sich in ihnen „seit dem 16. Jahrhundert fundamentale Umformungen vollzogen“ haben, wird kaum problematisiert. Die EKD richtet sich anfechtungslos auf ihr Reformationsjubiläum 2017 ein und sucht die „fröhliche“ Zustimmung zu ihrer Kirchenpolitik. Doch: „Ehe man andere zur Teilnahme am Jubelfest bittet, sollte man über sein eigenes Verhältnis zum Anlass des Festes nachdenken“[1]. Dieses Nachdenken führt uns dann die „Dinge vor Augen, die zukunftsrelevant sind, weil sie das Verhalten in der Gegenwart beeinflussen“[2]: die Wirklichkeit des „neuen Mittelalters“.
1. Die „reformatorische“ Neuformatierung von Kirche und Gesellschaft
In allem differenten Gebrauch des Reformationsbegriffs ist festzuhalten, dass der Auslöser der Reformation „der absichtslose Reformator“ (E. Iserloh) Martin Luther war. Diese Erinnerung hat nichts mit „Lutherismus“ zu tun, unvermeidlich aber mit Luther selbst und dem Anfang der Sache in seiner Disputation vom September 1517, die er unter den Leitsatz stellt: „Gottes Gnade hat keine Bedingungen, sie setzt nicht gute Werke des Menschen voraus, sondern bewirkt sie erst“. Das war ein Nein zur herrschenden Kirchenlehre, aber keine Häresie. Luther konnte sich dafür noch auf Augustin berufen[3].
Dann kam der Ablaßstreit. Der Sturm bricht los, als Luther seine „95 Thesen“ am 31. Oktober 1517 öffentlich macht. Er stellt darin die Systemfrage, wozu Kirche da ist, und erhebt Forderungen, die mit dem Denken „der Papisten“ unvereinbar sind. Seine Lehre von der Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung des Gläubigen „ist ein Umsturz“[4], wie es Volker Leppin richtig erfasst: „Unmittelbar vor Gott zu treten, das ist ein Privileg, das den Christinnen und Christen durch Taufe und Glaube gegeben ist – sie haben eben jene Unmittelbarkeit erlangt, die im Mittelalter (nur) einem Stand vorbehalten war“[5] – dem Klerus. Martin Bucer wird 1539 in seiner Fassung der „Konfirmation“ die Worte der „Einsegnung“ der mit dem Katechismus des Glaubens vertraut gemachten Jugend der Weiheformel der Priesterweihe wörtlich nachbilden: „Nimm hin Heiligen Geist, Schutz und Schirm vor allem Argen, Stärke und Hilfe zu allem Guten von der gnädigen Hand Gottes, des Vaters, des Sohnes und Heiligen Geistes. Amen“. Das ist dann die Investitur in das „allgemeine Priestertum“: „der zentrale Gedanke, der überhaupt erst Reformation ermöglichte“[6]. Es gibt keine geistliche Stellvertretung (mehr). Der Einzelne muss sich stets selbst entscheiden: „Der Christ ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan, der Christ ist aber auch ein Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. In dieser Überzeugung erklärt Luther 1521 in Worms vor dem Kaiser: „Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort; widerrufen kann und will ich nichts, weil gegen das Gewissen zu handeln weder richtig noch sinnvoll wäre“[7]. Deshalb „(ist) der Tag von Worms eine der epochalen Stunden der Menschheitsgeschichte. Das Mittelalter ist zu Ende. Es ist an dem entscheidenden Punkt überwunden: Das Gewissen des Frommen hat sich von der Bevormundung durch die kirchliche Autorität befreit und weiß sich Gott allein verantwortlich“[8]. Dies ist nicht übertrieben: Es war ein „Weltereignis, das am 18. April 1521 in Worms geschehen“[9] ist. Denn: „Seitdem existiert erst das, was wir heute Gewissen nennen“[10]. Diese Achtung des „Gewissens“ strahlt auch auf die weltliche Ordnung aus, die zwischen „staatlich“ erzwingbarem Recht und allein dem Gewissen unterworfener Moral unterscheidet und damit letztlich überwiegend auf den Einzelnen ausgerichtet wird[11], wie es Hegel 1809 expliziert: Jede Person hat „das Recht auf eine substantielle Innerlichkeit, welche die Mutter von Fassung, von Besonnenheit, von Gegenwart und Wachen des Geistes ist“[12].
Dramatisch sind die Folgen der Lehre von der Gewissensfreiheit zuerst für die Kirche selbst: Die Macht über die Seelen, die Herrschaft der Priester ist dahin. Aber auch die allgemeine Kultur ist betroffen. Wenn Luther in Worms sagt: „Ich kann und will nicht widerrufen … es sei denn, dass ich überwunden werde entweder durch Worte der Heiligen Schrift oder helle und klare Gründe“ („aut ratione evidente“), dann ist ein solcher Satz ein geistiger Typenzwang auch für die weltlichen Ordnungen. Wenn Vernunft „für die christliche Wahrheitsbegründung unentbehrlich (ist)“, weil „der Glaube … auf vernünftige Begründungen nicht verzichten (kann)“[13], dann ist Vernunft auch das „optimum instrumentum“[14] für weltliches Handeln. Wenn die gewohnte Unfreiheit des Menschen nun nicht mehr ohne Freiheit ist, dann ist auch in der öffentlichen Ordnung der Mensch nicht mehr nur „Untertan“.
Man kann das Splitting des Sprechens über die Wahrheit in Bibelauslegung und Vernunft-Argumentation den vermutlich genialsten Gedanken Luthers nennen. Diese neue kulturelle Norm der „zweipoligen Strukturierung“[15] des Denkens hat die typisch reformatorische Prägung auch des politischen Raums mit dem Geist der Gewaltenteilung und Freiheit erzeugt. Damit wird nicht nur innerhalb der Kirche, was hier immer besonders schwer ist, ein Klima der Toleranz am Leben gehalten, sondern es werden Willkür und totalitäre Denkweisen generell kulturell disqualifiziert: Es zersetzt den Machiavellismus der Adelseliten, wenn ihr bis dato nie angefochtenes Machthandeln nun von der „Demokratie der Vernunft“ relativiert wird. Diese Investitur der Vernunft zum Supervisor der Macht-Kultur des Mittelalters wird nun die eigentliche „Erfolgsstory“ der Reformation. Ihre geistige Grundlage ist das doppelte „Satis est“, das die beiden Haupt-Lehren aus den Übeln der Zeit auf den Begriff bringt. Das erste „Satis est“ (von 1528) heißt: „Die Führung des Staates muss nicht heilig sein, auch seine Regierung braucht keine christliche zu sein. Es genügt völlig, dass im Staat die Vernunft herrscht“[16]. Das zweite „Satis est“ findet sich im Artikel VII der CA in beiden Fassungen 1530/1540. Für das Begreifen des religiösen Auftrags der Kirche „genügt es völlig, dass in der (sonntäglichen) Versammlung der Gläubigen das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden“[17]. Mit dieser Beschränkung einerseits der Kirche auf den Gottesdienst und die Weckung der Gewissen vor Gott, andererseits des „weltlichen Regiments“ und seiner Gesetze auf die vernünftige Regelung des Irdischen und der „weltlichen Sachen“, hat Luther das mittelalterliche Amalgam von Kirche und Obrigkeit in einer systembildenden Weise getrennt, was künftig „die christliche Theologie vor allen Überheblichkeiten (schützt)“[18] – so war einmal gedacht.
2. Die Abkehr von den Grundauffassungen der Reformation
Der Historiker Oliver Janz beschreibt eindrücklich, wie sich dann im 19. Jahrhundert der Gedanke des „allgemeinen Priestertums“ in einem neuen protestantischen Klerikalismus verliert[19]. Zug um Zug schwächt sich im Laufe des 20. Jahrhunderts der Einfluss der wissenschaftlichen Theologie ab, „der Kirche zu jener Selbstbegrenzung zu verhelfen, die der Allgemeinheit ihres Verkündigungsauftrages entspricht“, und auch in ihr „das Wissen so präsent (zu halten), dass kein Wahrheitsanspruch mit der Wahrheit selbst differenzlos identisch ist“[20]. Die Universitätstheologie selbst sorgt dafür, dass die kirchliche Arbeit neue „Werttreiber“ erhält: Politisierung, Zentralisierung und die Unterwerfung unter das Profitdenken machen die Religionsfragen zu Fragen weltlicher Lebensqualität. Was als Protestantismus einmal eine Glaubensgemeinschaft war, präsentiert sich nun durchgängig als von der „moralischen Avantgarde“ geführte ethisch-politische Gefühlsgemeinschaft.
Die einstmals typisch protestantische Anstrengung, als evangelische Kirche und Religion intellektuell auf der Höhe der allgemeinen Geisteskultur zu agieren und damit Kultur und Gegenkultur in einem sein zu können, all dies verliert sich im Aufkommen von Effizienzstreben, Marktorientierung und Käuflichkeit auch der Wissenschaft. Natürlich gilt auch innerhalb der Kirche, dass das eingesammelte Geld sinnvoll und nützlich verwendet wird. Doch muss von vornherein Klarheit herrschen, worin Sinn und Nutzen der Arbeit der Kirche bestehen soll. Wer sich noch einmal in den eigentümlichen Charakter des „Reformatorischen“ versetzen will, lese Ina Seidels Roman „Lennacker“ von 1938. Ihre Kette von 14 exemplarischen Pfarrer-Biographien erzählen die Mühen wie die Notwendigkeit, den Gott des Glaubens und die „Götter der Gesellschaft“ stets in symbolischer Klarheit unterscheidbar zu halten. Doch diese Unterscheidung gibt es nicht mehr. Die EKD-Kirchenwelt arbeitet heute primär „für die Gesellschaft“. Sie nennt ihr Reden „öffentliche Theologie“ und versteht darunter genau betrachtet eine „Moral mit Annahmezwang“[21], wie es Wolfgang Huber entlarvend klarstellte: „Kirche ist die Fortsetzung des Staates mit religiösen Mitteln“[22]. Und so richtet sich die EKD-Elite denn auch darauf ein, 2017 die Kirchenorganisation wieder feierlich in die „Koordination“ mit der politischen Kultur zu stellen, wie sie in ihrem „Grundlagentext“ für 2017 ja auch vollkommen anfechtungslos erklären: „Auch solchen zivilreligiösen Zwecken darf ein Reformationsjubiläum dienen“[23]. Diese Selbst-Investitur der Kirchenelite in die Rolle der ersten Moralagentur der Gesellschaft, die gegen den innerkirchlichen Meinungspluralismus sogar Regierung und Parlament vorschreiben will, was für alle gelten soll[24], demonstriert noch einmal eindrücklich das Statement des Kirchenpräsidenten und UEK-Vorsitzenden Christian Schad im November 2014: „Es ist unser ureigenster Auftrag, uns in diese Welt einzumischen und ethische Richtungsanzeigen vorzunehmen“[25]. Dieses, von Schad als „die Überlebensfrage der Kirche“ noch einmal hochgestellte Statement zeigt in typischer Weise jene Abwendung von den Grundlagen der Reformation, die schon Adolf von Harnack im Jahre 1896 in seiner Schrift „Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus“ beklagt.
Die wichtigste Abweichung sieht Harnack in der Tendenz zur „Sakralisierung der Bibel“ (wir würden heute sagen: zur Koranisierung der Bibel), die alle vernünftige Erörterung der religiösen Fragen verhindert und den Theologen ein übersteigertes Geltungsbewusstsein erlaubt: „Alles Heilige wird noch ausschließlicher, als es im Katholizismus geschehen war, in die Urkunde geschoben“. Die Berufung Luthers auf das Gewissen gilt nicht mehr: „Das Gewissen wird ersetzt durch das Buch, in dem alles ‚geschrieben‘ steht, ja geschrieben stehen muss auch für die neuesten Zeitfragen“[26]. Deshalb ist die Bibel „Das Buch Gottes“, wie es die Arnoldshainer Konferenz im Jahre 1992 erklärt[27], an Hand der die „höchsten Personen“ der EKD die politischen Dinge beurteilen und sich so zu idealtypischen „Ajatollahs“ machen, zu Kontrolleuren der Politik, wie sie es schon 1934/35 im mittelalterlichen Stil fordern: „Die Entscheidungen auch über die politischen und sozialen Fragen fallen in der höheren Ebene des Glaubens… Wir in der Kirche sind schuld, dass es in der Welt so aussieht“[28]. Dieses übersteigerte Kompetenz-Bewusstsein ist schon ebenso totalitär wie der totale Staat. Denn es erhebt genau „die mittelalterliche … Forderung, dass jede politische Hierarchie sich der geistlich-priesterlichen zu unterwerfen hat“[29], wie es 1935 der „Die Entschließung von Barmen“ nun anwendende „Arbeitsplan“ der BK „für die praktische Ausgestaltung des Öffentlichkeitsauftrags“ vorführt. Als Ausweis der göttlichen Autorisierung werden einfach „Bibelstellen eingemischt“[30]. Wilhelm Mühlmann bezeichnet dieses schon in der „Entschließung von Barmen“ von 1934 enthaltene Denken[31] zutreffend als „Integralismus“: „Integralismus bedeutet restlose, völlige Aufeinander-Abgestimmtheit aller gesellschaftlichen Bauelemente… Eine solche völlige Abgestimmtheit oder Einstimmigkeit ist theoretisch leicht vorzustellen. Eine andere Frage ist, wie sie praktisch hergestellt werden kann: Doch wohl nur so, dass man alle Stimmen, die in den Chor nicht einstimmen, zum Schweigen bringt. Mit anderen Worten: wo der Integralismus praktisch wird, wo er politisch wird, wird er totalitär“[32]. Helmut Schelsky sagt es ähnlich: „Geschichtlich gesehen findet mit diesem neuen Herrschaftsanspruch und dieser neuen Klassenbildung ein rückläufiger Prozess, eine ‚Reprimitivisierung‘ gegenüber der zumindest seit der Aufklärung (richtiger: seit der Reformation, KRZ) vor sich gehenden Entmachtung religiös-klerikaler Herrschaftspositionen statt“[33]. Klerikalismus ist wieder „in“ und prägt kategorial Politik und Kultur: Die öffentliche Meinung, die seit der Aufklärung „als eine Kontrolle der Herrschaft zugunsten der Beherrschten verstanden worden war, wird jetzt zum Instrument der Herrschaft selbst“[34]. In einem Wort: „Das neue Mittelalter fängt im Westen an“[35].
Der Ursprung dieser These ist ein Aufsatz von Nikolai Berdiajew im Jahre 1923, der die Tatsache, dass „eine Macht sich nicht mehr legitimieren muss“, als Marker der gesellschaftlichen „Barbarisierung“[36] versteht, eben als „neues Mittelalter“, in dem Unfreiheit und die ganze Skala von Leibeigenschaft wieder zur Normalität werden. 1934 übernimmt Paul Tillich Berdiajews These: „Ein neues Mittelalter (ist) im Aufgang“[37]. Man kann sich nur darüber wundern, dass die zahlreichen Bezugnahmen auf diese These in den Jahrzehnten danach keine größere Resonanz erzeugt haben: man verdrängte es. Doch das, was damit immer wieder warnend beschrieben wurde – man denke nur an die mehr als deutliche Warnung des Staatsrechtslehrers Helmut Quaritsch an die Adresse der EKD von 1962 (!) – wenn man die Äußerungslage der EKD ernst nimmt, so führt dies geradewegs in ein neues Mittelalter – ist eben da. Und es prägt, wie Stefan Dietrich im Leitartikel der FAZ vom 11. Mai 2006 das „neue Mittelalter“ durchmustert, nun machtvoll ein Gesellschaftsformat, „in dem nicht der Mensch als Individuum, sondern die harmonische Ordnung der Gruppen untereinander das Leitbild ist“.
Dass die kirchliche Nomenklatura diese Kollektivität der Gesellschaft aus eigennützigen Gründen sakralisiert, ist nicht zu leugnen. Sie schützt damit ihren politischen Geltungsanspruch, wie ihn der Loccumer Akademiedirektor Hans Bolewski idealtypisch vorführt: „Die Reflexion, die die verantwortliche Entscheidung sucht, bedarf daher der Instanz, vor der sie sich rechtfertigt“[38]. Und diese Instanz ist nicht mehr das Gewissen, sondern „die Bibel“. „Sie ist die einzige Instanz, die sich der Auflösung durch kritische Reflexion widersetzt. Sie erweist sich gerade in der Konfrontation mit den Einrichtungen und Planungen des politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und beruflichen Lebens diesem gegenüber als kritische, richtungsweisende Instanz, die angibt, was der Mensch ist und was er für die anderen um Gottes willen sein sollte“[39]. Bolewski verleugnet damit den Kern des „Reformatorischen“: Luthers Lehre vom „deus absconditus“, den Vorrang des „ratione evidente“ im öffentlichen Leben und das Recht der Gewissensentscheidung des Einzelnen sowieso.
Schon Harnack sah 1896 diese Sakralisierung der Bibel „im Zusammenhang mit der fortschreitende(n) Katholisierung unserer protestantischen Landeskirchen. Der evangelische Kirchenbegriff ist nahezu verschwunden“[40]. „Immer heißt es: Die Kirche spricht, die Kirche verlangt, – diese Wendungen werden wie dem Staate, so Andersdenkenden gegenüber gebraucht, als handle es sich um die Stimme Gottes gegenüber der Welt“. „Dass wir Evangelische mit diesem katholischen Kirchenbegriff, der die Kirche des Glaubens und die empirische Kirche identifiziert, allmählich auch die Folgen des katholischen Kirchenbegriffs mit bekommen – den Fanatismus, die Herrschsucht, die Ungeduld, die Verfolgungssucht, die kirchliche Uniform, die kirchliche Polizei, liegt auf der Hand und kündigt sich schon an“. „Gehorsam“, sagt Harnack, wird künftig das Hauptwort sein[41], in Bolewskis Sprache: die „Pflicht zur Loyalität“ gegenüber der Kirchenleitung, besonders wenn diese politisch redet und handelt: Wenn Johannes Wallmann beklagt, der Ratsvorsitzende der EKD habe der katholischen Seite den „schwerverständlichen Vorschlag“ gemacht, „am 14. September 2017 und damit kurz vor dem Reformationstag einen ökumenischen Gottesdienst anlässlich des Festes der Kreuzerhöhung zu feiern“, dann „mangelt“ es der EKD gewiss nicht „an kompetenter historisch-theologischer Beratung“, wie Wallmann meint. Seine empörte Erinnerung, dass Luther „den Feiertag der Kreuzeserhöhung mit dem nach der konstantinischen Wende eingerissenen Missbrauch des Kreuzes als politisch-militärischem Siegeszeichen scharf verurteilt (hat) wie ähnlich die Kreuzzüge“ [42], übersieht die perfekte politische Passung dieses Festes der „Kreuzeserhöhung“. Es ermöglicht der EKD, katholisch verstärkt in einem Akt kultureller Selbsterhöhung all das Dunkle zuzudecken, an das Jan Fleischhauer hartnäckig erinnert: „Maßnahmen werden nun auch im kirchlichen Feld immer erfolgreicher eingesetzt für die Kontrolle der Menschen, für die Einebnung des Verstandes, die Vergöttlichung der Massen und die Abschaffung der Individuen“, in ihnen herrscht „derselbe zentralistische Geist, dieselbe Zwangsvorstellung eines einheitlichen Blocks … derselbe Sinn für symbolische Feste zur ‚Erziehung‘ des Menschen; derselbe Argwohn gegen ‚Individuen‘ und gegen jegliches ‚Privatinteresse‘. Diese Parallelität oder besser diese Gleichheit der Einstellungen betrifft nicht nur die Politik: in beiden Fällen ist man totalitär“[43].
Man kann an der Tatsache nicht vorbei, dass schon der Neustart der EKD am 22. August 1945 in Treysa mit dem Leitsatz: „Verkündigung heute ist eine politische Aufgabe“ den geistigen Bruch mit der Reformation vollzogen hat. Die „höchsten Personen“ der EKD, wie sie sich damals selbst nennen, steigen 1945 in einen kirchlichen Jakobinismus ein, der den Rat der EKD zum „Wohlfahrtsausschuss“ der Gesellschaft macht, der „die neuartige Forderung nach der politisch richtigen Gesinnung“ zur Voraussetzung der menschlich-bürgerlichen Anerkennung macht[44]. Unaufhaltsam zeigen die 1950er Jahre dann das „Hinübergleiten der Kirche in die politische Sphäre“[45]: „Religion soll plötzlich nicht mehr in erster Linie gepredigt, sondern es soll damit operiert, politisch operiert werden“[46]. Die neue klerikale Militanz der EKD trägt mit vielen Akten zur progressiven Schwächung der Legitimität des Staatshandelns bei. Der Vorwurf von Walter Schmitt Glaeser[47], die EKD-Demokratiedenkschrift von 1985 lässt „eine prinzipielle Missachtung der Grundwerte unseres freiheitlichen Gemeinwesens erkennen“, hat die Sache genau getroffen, wie Trutz Rendtorffs Warnung an die EKD, „ethisch-politische Forderungen zum Ersatz der Rechtlichkeit zu machen“[48], dann noch einmal bestätigt. Doch die Strategen der EKD rührt dies nicht. Sie betrachten die Pfarrerschaft längst „eher als Filialleiter, denn als ordinierte Wortverkündiger“[49]. Der Finanzchef der EKD, OKR Thomas Begrich, rechtfertigt dieses Verständnis am 16. Mai 2014 in Bochum beim „Zukunftsforum“ der EKD: „Kirchliche Verwaltungen haben sich in den letzten Jahren erkennbar weiterentwickelt. Es geht darum, nicht mehr nur zu verwalten, sondern auch inhaltlich zu steuern“.[50] Solche Ansage ist deutlich: Die Pfarrerschaft ist das „Akteurssegment“ zur moralpolitischen Lenkung der Bevölkerung, so wie es im Herbst 2014 die Pfälzische Kirchensynode nun völlig anfechtungslos auf den Begriff bringt[51].
3. Auf dem Weg in das „Neue Mittelalter“
Es ist keine Überraschung, dass der schon um 1900 ausufernde protestantische Klerikalismus sich in den 1930er Jahren problemlos mit dem Konzept des „totalen Staates“ arrangiert und sich nach 1945 in seinem klerikalen Anspruch fortwährend höherschraubt. Hanns Rückert bilanziert im Jahre 1960: Dieser Klerikalismus hat erreicht, „die Autorität des geistlichen Amtes noch höher über die Gemeinde hinauszuheben, als sie bei uns schon sowieso gerutscht ist“[52]. Was das bedeutet, erklärt 25 Jahre später Kurt Nowak: „Der Andersdenkende ist nicht mehr Partner in einem Diskurs, sondern Feind, weil Kompromiss und Diskurs als Bedrohung der eigenen Identität erlebt werden“[53]. Nowak beleuchtet damit die Folgen der Machtergreifung der „Moralischen“ in der EKD, die heute in praktisch jeder Ausgabe der „Chrismon“-Beilage in den großen Zeitungen (fürs Volk) oder den „Zeitzeichen“ (für die kirchlichen Aktionssegmente) in Hochglanzfassung als Musterchrist präsentiert werden: „So geht evangelisch!“. Die bis 1967 in der Zeitschrift „Radius“ noch präsentierte offene Diskurskultur, die kein „So!“ und keine „Meinung der Kirche“ propagierte, sondern das gleichgewichtig gemachte Pro und Contra in allen gesellschaftlichen Fragen zu entscheiden dem Einzelnen überließ, existiert nicht mehr. Die EKD befeuert selbst die Ideologisierung des öffentlichen Gesprächs, weil sie immer noch von der kulturellen Dominanz in der Gesellschaft träumt: „dass sie gemeinsame Themen und Positionen vorgibt, die in die Gesellschaft hineingezogen und vertreten werden“[54]. Die Qualität dieses mittelalterlichen Kirchenbewusstseins zeigt wie im Gegenlicht die Weigerung des badischen Landesbischofs Julius Bender im Jahre 1954 einem drängenden Journalisten gegenüber, doch bitte „die Meinung der Kirche“ (hier zur Wiederbewaffnung) zu erklären: Landesbischof Bender erklärte, dies sei unmöglich. Jeder einzelne Christ ist hier in seinem Gewissen persönlich gefragt und deshalb kann es gar keine „Meinung der Kirche“ dazu geben. Die Aufgabe der Kirche ist „die Sorge um den Menschen und um das Menschliche selbst“, wie Landesbischof Bender in einem Vortrag vor der Evangelischen Akademie Baden 1957 entfaltet. Die Kirche steht für die Gewissens-Bildung. Und diese Weckung des Gewissens ist dann die vollkommen ausreichende Grundlage für all das, was dann auch die „Verantwortung im Leben des Staates“ heißt[55].
Längst hat aber innerhalb der EKD der „Abschied vom Gewissen“ stattgefunden, wie der Tübinger Philosoph Rolf Denker in einer eindrücklichen Darstellung aus dem Jahre 2002 zusammengetragen hat: Nicht nur die Kirche versucht, allgemein verbindliche „ethische Orientierungen“ zu geben, auch in den Feuilletons „korrespondiert dem derzeit überbordenden Ethik- und Wertediskurs eine schleichende Entmündigung des individuellen Gewissens“[56]. Hart geht Denker (S. 115-131) mit der EKD ins Gericht: Er zeigt, wie in der „Gewissensschrift“ der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD vom Juni 1997[57] „zwar jedem geraten wird, nicht gegen sein eigenes Gewissen zu entscheiden bzw. zu handeln, aber sofort bemerkenswert eindringlich aufgefordert wird, genauestens zu prüfen, ob und wann überhaupt eine Gewissensentscheidung vorliegt … Kurz und gut: Das Gewissen soll nur höchst sparsam bemüht werden, am besten gar nicht… Dem Gewissen wird damit letztlich die besondere Dignität abgesprochen“[58]. Denkers Summe ist traurig: Diese „Kirche der Reformation“ betreibt „Gewissensverdrängung“. Aber sie ist wahr: „Einerseits wird recht lutherisch dem Einzelnen die ganz persönliche Zwiesprache mit Gott bestätigt, andererseits aber (dieser Zwiesprache mit Gott) zugleich misstraut, denn er könne die vernommene Stimme Gottes im inneren Dialog womöglich falsch verstehen“[59]. Denker hat diese Unterdrückung der geistigen Selbständigkeit genau erkannt: „Sowohl in den Grundrechtsartikeln unserer staatlichen Verfassung als auch in den Grundsatzäußerungen der Kirche wird also dem Gewissen jedes Einzelnen höchster Rang und größte Würde zugesprochen, ihm aber eigentlich alles Terrain des gewissenhaften Handelns entzogen“. Max Horkheimer hat diese Tendenz schon 1962 begriffen: „dass das Gewissen an gesellschaftlicher Bedeutung verloren habe und anfange, sich zurückzubilden: ‚Der Mensch in der verwalteten Welt hat mehr auf Zeichen als auf innere Postulate zu reagieren. Sie werden durch unausweichliche äußere Konstellationen ersetzt. Die Kontrolle der Macht geht mehr und mehr an andere Instanzen über. Je ohnmächtiger der Einzelne, desto weniger bleibt dem Gewissen überlassen. Es geht zurück‘“[60].
Brutal, der Ausdruck ist hier angemessen, bringt die EKD den Abschied vom religiösen Gewissen in ihrer zweiten Denkschrift zur Verteidigung ihres politischen Anspruchs von 2008[61] zum Ausdruck. Der für die „Denkschriften, die sozusagen ‚in Stein gemeißelt sind‘“[62], nun frontal artikulierte Meinungszwang wird mit der Behauptung gerechtfertigt, dass die EKD grundsätzlich „im Interesse des Gemeinwesens“ spricht. Das soll man dann einfach glauben[63]. Ein aufgeklärtes Bewusstsein hat freilich schon immer gewusst, dass der Anspruch der Kirchenführer, „die moralische und spirituelle Avantgarde der Gesellschaft“[64] (sic!) zu sein, sich nur ins Lächerliche wenden kann. Doch die EKD stört dies nicht: Ihre Aufführung erzeugt das, was Karl Heinz Bohrer so treffend „die Hysterie der sozialen Konformität“[65] nennt, und hat damit zumindest kircheninterne Wirkungen.
Die konstante Selbstüberschätzung der kirchlichen Worte-Produktion beschreibt im Jahre 2014 auch Hartmut Kreß in seiner Durchmusterung der aktuellen Erklärungen, Studien und Denkschriften der EKD. Seine Summe überrascht nicht: Die „ethischen Orientierungen“ der EKD sind in ihren Urteilslagen überzogen und in ihren Argumentationen durchgehend unklar. Am Beispiel der Denkschrift zum Gesundheitssystem protokolliert Kreß die darin erkennbare „wenig glückliche Hand der EKD“. Ihre propagandistischen Forderungen sind in der Regel realitätsfern und im Fortschrittsversprechen auch absolut unehrlich, wie Kreß am Beispiel des am 28. Februar 2014 vom EKD-Ratsvorsitzenden und dem Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz vorgestellten neuen Sozialwort der Kirchen „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ illustriert: „Die Leiharbeit, die von den Kirchen beklagt wird, ist von ihnen selbst praktiziert worden. Dies hat sogar die EKD-Synode eingeräumt“. Kreß demonstriert an diesem „Sozialwort“ das vollkommene Misslingen des erhabenen Auftritts der Kirchenelite, der als „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ startet, um eine im eigenen kirchlichen Feld ja schon gar nicht erst ansatzweise versuchte „grundlegende gesellschaftliche Transformation“ (sic!) auf den Weg zu bringen. Kreß fasst die Summe der theologischen Schlampereien, sachlichen Ungenauigkeiten, informationellen Irrtümer und intellektuellen Peinlichkeiten in eigentlich allen letzten „Worten“ der EKD in die Mahnung: „Die kirchlichen Verlautbarungen sind in eine Sackgasse geraten“[66]. Aus einer Sackgasse kommt man aber nur rückwärts heraus. Doch es ist nichts am Horizont, dass das EKD-Establishment damit aufhören würde, „autoritative Äußerungen“[67] in die Welt zu setzen.
Unausweichlich wird die auf Koordination mit der politischen Klasse eingestellte Kirche religiös stumm. Sie betrügt die Kirchensteuerzahler zwar nicht mit dem Ablass, aber mit einem dem mittelalterlichen Abgabendruck strukturell vergleichbaren Betrug der Kirchensteuerzahler. Die Behauptung, dass „80 % aller kirchlichen Ressourcen nach wie vor in die Kirchengemeinden fließen“[68], ist Zweckpropaganda, die das ausufernde Eigenleben der Kirchenorganisation zudecken soll: Tatsächlich verbraucht der kirchliche Apparat für seinen institutionellen Habitus und seine gesellschaftspolitische Aufstellung, die konzeptionslos ausgeuferte Diakonie eingeschlossen, etwa selbst diese „80% aller kirchlichen Ressourcen“. In Zahlen: Die Kirchensteuer erbringt im Durchschnitt der Landeskirchen etwa zwei Drittel der kirchlichen Einnahmen, also im EKD-Durchschnitt pro Kirchenmitglied auf das Jahr 2012 bezogen rund 200 € (2014 dann 220 €), dazu an Zuschüssen, Ersatzleistungen, Staatsleistungen und Erträgen aus Vermögen rund 100 € pro Kirchenmitglied. Die Gemeinden erhalten in der für den EKD-Durchschnitt repräsentativen Pfälzischen Landeskirche aber nur rund 5 % der „kirchlichen Ressourcen“ oder 7,5 % der Kirchensteuer. Dies heißt: Eine im Jahr 2012 rd. eine Million Euro an Kirchensteuern aufbringende 5.000 Mitglieder-Gemeinde erhält nur 75.000 € Schlüsselzuweisung für ihren gemeindlichen Bedarf (Unterhalt von 2 Kirchen, 1 kl. und 1 gr. Gemeindehaus, 2 Pfarrhäuser/Pfarrämter). Ihre beiden Pfarrergehälter kosten rund 180.000 € incl. Pensionsrücklage. Spitz berechnet erhalten die Kirchengemeinden netto also nicht einmal 20 % der kirchlichen Finanzressourcen (das wären 300.000 €), sondern nur rd. 25 % der von ihren Mitgliedern aufgebrachten Kirchensteuer – viel zu wenig, um Kirchlichkeit erhalten zu können. Die angeblich „transparenten“ Kirchen-Haushalte bilden diese Wirklichkeit nicht ab. Wie die Erkundung der genauen Rückflüsse an die Gemeinden vor Ort zeigt: „die Gemeinde“ ist nicht „das Herz der Kirche“. Das Geld der Kirche fließt in die echten Prioritäten der Kirchenleitungen: in den Erhalt und Ausbau des Apparats und sie zeigen die zynische Verachtung der immer tiefer in die institutionelle Knechtschaft geführten Pfarrerschaft durch eine Kirchenelite, die das System der Kirche so einsetzt und fortwährend weiter umbaut, dass es nur noch für sie und nicht mehr gegen sie arbeiten kann. Und diese Kirchenelite arbeitet schon sehr lange so: Schon 1970 wird mit der „Denkschriften-Denkschrift“[69] der EKD der innerkirchliche Pluralismus erstickt. Die protestantische Diskurskultur, die schon 1967 bei den Kirchenzeitungen zu Ende war, verschwindet nun auch in den Kirchengremien: Die EKD erklärt zwar noch, dass man ihre Denkschriften „als ein Reden mit den Menschen für den Menschen bezeichnen (kann), das den in seiner Eigenverantwortung respektierten Angesprochenen zu freiwilliger Anerkennung einladen will“. Doch sie zieht diese „Freiwilligkeit“ selbst sofort wieder ein: „Jedoch werden auch solche Ratschläge aus christlicher Verantwortung nicht unverbindlich in das freie Belieben des Angesprochenen gestellt“[70]. Die gegebene „ethische Orientierung“ der Kirche soll man zwar „freiwillig“ annehmen, aber der Gehorsam ist absolut zwingend: Es ist unmöglich, gegen die Meinung der, wie sich die EKD-Führung schon im Jahr 1946 selbst tituliert, „höchsten Personen“ der EKD[71] innerkirchlich noch irgendeine noch so begründete persönliche Meinung geltend zu machen, auch nicht die Stimme des Gewissens.
Das Hauptkennzeichen des im 20. Jahrhundert unaufhaltsam Land gewinnenden „neuen Mittelalters“ ist die Moralisierung und Monopolisierung des öffentlichen Gesprächs. Die EKD kann sich dabei auf ihre „eingebetteten“ Theologen verlassen, die nicht mehr die Grenzen des politischen Engagements lehren, sondern den „Glauben an die Gesellschaft“ und die kirchliche Vollmacht zur Gestaltung der Welt, also den neuen Ordo, der „das subjektiv unvermittelte Verhältnis des einzelnen zum sozialen Ganzen“[72] zur kirchlichen Leitlinie erhebt. Sie machen damit die EKD zur Vorhut einer Gleichschaltung des Denkens, die eine „mittelalterliche“ Gesinnungsorthodoxie aufbaut und damit der laufenden Refeudalisierung des Politikbetriebs wie der gesamten Gesellschaft nun sogar religiöse Legitimität besorgt. Auf ein im Glauben gebundenes Gewissen oder auf Vernunftgründe kann sich, wie die zweite „Denkschriften-Denkschrift“ 2008 bekräftigt, kein Protestant mehr berufen. Denn die Ansagen der Kirchenelite werden ja „im Namen Gottes“ erlassen, wie es geradezu klassisch im Jahre 1966 der EKD-Ratsvorsitzende Kurt Scharf erklärt: „Wir sprechen nicht im Namen der Christen. Wir reden viel anspruchsvoller: wir reden im Namen Gottes“[73]. Und man kann diese Hybris nicht relativieren. Denn 37 Jahre später sagt der andere EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber praktisch dasselbe, um wie Kurt Scharf die unübersteigbare Legitimation seines öffentlichen Sprechens auszudrücken: „Die Kirche ist nicht ein politischer Akteur unter anderen, sondern mischt sich um Gottes willen politisch ein“.[74] Man muss solche Äußerungen scharf bewerten: „Das bedeutet doch, dass die Kirche ihre politischen Ansichten nicht auf dem Forum der politischen Streitigkeiten zur Diskussion stellen will, sondern ihre Meinungen höheren Orts, nämlich von Gott, in dessen Namen sie zu sprechen vorgibt, verbürgt sieht“, obwohl „die Kirche keine anderen Erkenntnisquellen und keine anderen Argumente zur Verfügung (hat), als sie die anderen politischen Akteure auch haben können, nämlich möglichst vernünftige und der politischen Situation angepasste“[75]. Doch genau das wird nicht mehr zugegeben. Auch Luther wäre in Worms 1521 an diesem den Gehorsam „freiwillig“ erzwingenden Habitus der EKD gescheitert – und als Ketzer verbrannt worden.
Das derzeit in die Zielgerade laufende Reformationsjubiläum der EKD hat mit Luthers Verständnis von der Freiheit eines Christenmenschen und einem daraus folgenden Vorrang des eigenen Gewissens nicht mehr viel zu tun. Längst sind die geistlichen Errungenschaften der Reformation in einer ängstlichen Passivität und Resignation der Pfarrerschaft versunken, die schon intern nicht mehr wagt, die Systemfrage zu stellen: Die politischen und ideologischen Zwänge und die unaufhaltsame Erosion von Rechtlichkeit und Staatlichkeit machen auch innerhalb der Kirche immer mehr Bürger ganz „mittelalterlich“ zu Untertanen eines „neuen Adels, der durch die brutale Unterdrückung der übrigen“[76] entsteht: Auch die EKD-Nomenklatura versucht, in der Oligarchen-Rolle für bestimmte Bereiche der Gesellschaftsmoral (und Minderheiten) einen legitimatorischen Primat durchzusetzen, der keine vernünftige Begründung hat. Schon zu lange ist hier vergessen, dass die entscheidende Frage der Kirche keine Frage der Gesellschaft ist, sondern die Frage, wie die Kirche in den Menschen die Besinnung auf Gott und auf sich selbst, d.h. auf die eigene Seelenverfassung, auslösen kann. „Erst wer diese Besinnung mit vollzieht, kann sich selbst als aus der Beziehung zu Gott lebend verstehen. Und zu dieser Besinnung anzuregen, das ist der Sinn religiöser Verkündigung, der die Rede von Gott eigentümlich ist“[77].
Es ist höchste Zeit, in der Vorbereitung für das Jubiläum 2017 den schon hochtourig laufenden Selbstbetrug zu beenden, denn es gehört „zur Würde des vernünftigen Menschen, dass er sich eingesteht, was geschehen ist und was getan ist“[78]: dass es in dieser EKD nicht mehr opportun ist, die Gewissensfreiheit und Unvertretbarkeit des persönlichen Glaubens zu leben. Das kommende Reformationsgedenken hat deshalb die gleiche Aufgabe wie vor 500 Jahren: Diese EKD-Kirchenwelt ist „radikal zu entpolitisieren und der Ordnung des Politischen, die ohne Gewalt nicht denkbar ist, eine andere Ordnung gegenüber zu stellen, deren Macht auf Gewaltlosigkeit beruht“[79]. Harnack hat es schon 1900 gesagt: „Das Blut der Märtyrer ist geflossen, damit eine unverrückbare Grenze entstände zwischen der Religion und der Politik, zwischen Gott und dem Kaiser“[80]. Nichts anderes ist jetzt vor allem anderen zu tun: diese Grenze zwischen Religion und Politik ist in der Kirche wiederherzustellen. Danach kann und wird auch vieles andere wieder heil werden können.
Karl Richard Ziegert
Quelle: Deutsches Pfarrerblatt, 7/2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.
Karl Richard Ziegert: Jahrgang 1946, Studium in Bethel, Heidelberg und Mainz, ab 1972 Pfarrer an der Pauluskirche in Ludwigshafen am Rhein, 1975 Theolog. Promotion in Heidelberg, 1987-1994 Direktor der Evang. Akademie Speyer, 1995-2011 Landeskirchl. Beauftragter für Weltanschauungsfragen. Seitdem i.R. in Ludwigshafen/Rhein. Letzte Buch-Veröffentlichung: „Die Verkäufer des perfect life. Über die Amerikanisierung der Religion und den Untergang der EKD-Kirchenwelt in Deutschland“, Münster 2015.
[1] Bei Kaufmann, Thomas: Das schwierige Erbe der Reformation, in: FAZ 14.11.2011, 7.
[2] Fritsch, Bruno: Ansprache zur Eröffnung der Tagung „Zukunftsbilder Schweiz“ 25. November 1995, in: Zukunftsforschung, 24. 1995, Nr. 4, 3.
[3] Pesch, O.H.: Luther und die Reformation – katholisch gesehenen, in: Christ in der Gegenwart, Heft 45/1980, 1.
[4] Leppin, Volker: Martin Luther, 2. Aufl. Darmstadt 2010, 156.
[5] Leppin, Volker: Spätmittelalterliche Wege der Immediatisierung und ihre Bedeutung für die reformatorische Entwicklung Martin Luthers, in: Johanna Haberer und Berndt Hamm (Hg.): Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz, Tübingen 2012, 307-337, 337.
[6] Leppin, aaO..
[7] „Cum contra conscientiam agere neque tutum neque integrum sit” E.A. VI, 13; WA VII, 838.
[8] Loewenich, Walter von: Luther und der Neuprotestantismus, Witten 1963, 320.
[9] Rade, Martin: Das Gewissen des Theologen, in ZThK 22. 1912, 273-292, 276.
[10] Rade, aaO. 280.
[11] Roellecke, Gerd: Menschenwürde auf Sendung, FAZ 29.11.2004, 37.
[12] Hegel: Rede zum Schulabschlussjahr am 29.09.1809, Nürnberg (Werke in 20 Bänden, Bd. 4, Frankfurt/M. 1970, 319).
[13] Loewenich: Luther und der Neuprotestantismus, 388.
[14] Luther: Tischreden WA/TR Bd. 3, Nr. 2938b.
[15] Rückert, Hanns: Kirche und Amt in der evangelischen Theologie, in: Leonhard Reinisch (Hg.): Theologie heute, 4. Aufl. München 1968, 103-114, 110.
[16] Martin Luther 1528, WA 27, 418, 3-4: „Non opus ut sanctus sit Cesar, non indiget ad regimen suum, ut sit Christianus. Satis est ad Cesarem, ut habeat rationem“.
[17] Die Bekenntnisschriften der evang.-luth. Kirche, 6. Aufl. 1967, 61: „Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta. Et ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum“.
[18] „Gott bleibt bei Luther immer auch ein Rätsel“. Interview mit Ulrich Barth, in: FAZ 31.10.2014, 4.
[19] Janz, Oliver: Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850-1914, vornehmlich in Westfalen. Diss. Theol. FU Berlin, 1990.
[20] Bei Graf, Friedrich Wilhelm: Vom Munus Propheticum Christi zum Prophetischen Wächteramt der Kirche?, in: ZEE 32. 1988, 88-106, 100 (beide Zitate).
[21] Feige, Andreas: Öffentlichkeit und öffentliche Meinung, StdZ 212. 1994, 316-324, 321.
[22] Bischof Wolfgang Huber, zit. bei M. Drobinski: Das offene Fenster, SZ 8. Dezember 2005.
[23] Rechtfertigung und Freiheit, 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2014, 108.
[24] So die Stellungnahme des Rates der EKD zur Präimplantationsdiagnostik vom 15.2.2011, epd-Dok. Nr. 9-2011, 5-7. Vgl. dazu Kreß: Pluralismus, in: ZEE 58. 2014, 213ff.
[25] Schad, Christian: „Überlebensfrage für unsere Kirche“, Interview in der „Rheinpfalz“ 21.11.2014.
26 Harnack: Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Beiheft zur „Christlichen Welt“ Nr. 25, 1896, 7.
27 Das Buch Gottes. Elf Zugänge zur Bibel. Ein Votum d. Theolog. Ausschusses d. Arnoldshainer Konferenz, 1992.
[28] Im „Arbeitsplan der Bekennenden Kirche“ vom 19. Juli 1935 findet sich erstmals ein ausgeführter „Öffentlichkeitsanspruch“ der Kirche, der den Einzelnen primär „als Glied in einem öffentlichen Bereich“ anspricht und dem völkischen Kollektiv verpflichtet sieht. Der „Arbeitsplan“ samt dem erhellenden Protokoll im Bestand des EZA Berlin Nr. 50/450, beide Zitate auf Protokollseite 3.
[29] Tillich: „Der totale Staat und der Anspruch der Kirchen“ (1934), in: Ges. Werke Bd. X, Stuttgart 1968, 121-145, 136.
[30] Asmussen: Anschreiben zur Versendung des Arbeitsplans samt Protokoll vom 2. August 1935, aaO..
[31] Zu dieser Deutung von „Barmen“ bei Ziegert, Karl Richard: Zivilreligion – der protestantische Verrat an Luther, München 2013, 141-153.
[32] Mühlmann, Wilhelm: Chiliasmus und Nativismus, Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen, Berlin 1961, 281.
[33] Schelsky, Helmut: Die Arbeit tun die anderen, Opladen 1975, 15f.
[34] Schelsky aaO. 37.
[35] Schelsky aaO. 134.
[36] Vgl. Berdiajew, Nikolai, Das neue Mittelalter, Tübingen 1950. Ein Überblick über den modernen Gebrauch dieser Formel bei Weißmann, Karlheinz: Neues Mittelalter, in: Sezession 21, Dezember 2007, 22-26.
[38] Bolewski, Hans: Die Evangelischen Akademien – Begriff und Wirklichkeit, in: Die Evangelischen Akademien in Deutschland, hg. vom Leiterkreis der Evangelischen Akademien in Deutschland o.O. und o.J. (1963), 22.
[39] Bolewski aaO. 22f.
[42] Wallmann, Johannes: Mangel an theologischer Beratung, in: FAZ 15.07.2015, 8 (alle Zitate).
[43] Fleischhauer, Jan: Unter Linken, 4. Aufl. Hamburg 2009, 295.
[44] Vgl. bei Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt, München 1999, 3. durchgesehene Aufl. 2002, 414. Genau hieß dieser 1793/94 die Diktatur ausübende Ausschuss „Gemeinwohlausschuß“, frz. Comité du salut publique.
[45] Buchna, Kristian: Ein klerikales Jahrzehnt? Kirche, Konfession und Politik in der BRD während der 1950er Jahre, Baden-Baden 2015, 300.
[46] So die exemplarische Äußerung des Chefredakteurs der „Lübecker Nachrichten“ Hans Schrem am 14.3.1954 bei Buchna, aaO. 456.
[47] Schmitt Glaeser, Walter: Private Gewalt im politischen Meinungskampf. Zugleich ein Beitrag zur Legitimität des Staates, 2. erg. Aufl. Berlin 1992, 121-124.
[48] Rendtorff, Trutz: Die Autorität der Freiheit. Zur Stellung des Protestantismus zu Staat und Demokratie (1987), in: Vielspältiges. Protestantische Beiträge zur ethischen Kultur, Stuttgart 1991, 81-100.
[49] Karle, Isolde: Wozu Pfarrerinnen und Pfarrer, wenn doch alle Priester sind?, in: Dt. Pfarrerblatt 2009, 5.
[50] Evangelische Kirche in Deutschland: Informieren, transformieren, reformieren. Zukunftsforum vom 15.-17. Mai 2014 im Ruhrgebiet, Programm, 80. Vgl. dazu Bingener, Reinhard: Endlich Luther bei die Fische?, FAZ 19.05.2014, 4.
[51] Synodalprotokoll Speyer, Herbst 2014, Bd. 2, 292.
[52] Rückert Hanns: Kirche und Amt in der evangelischen Theologie, 114.
[53] Nowak, Kurt: Die „antihistoristische Revolution“. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Horst Renz (Hg.): Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, 133-171, 167.
[54] Kirche der Freiheit, 85.
[55] Bender, Julius: Von der Aufgabe der Evangelischen Akademie, in: der Horizont, Bd. 2, Karlsruhe 1957, 1-7.
[56] Denker, Rolf: Abschied vom Gewissen, hg. Von Stephan Becker und Uwe Bernhardt, Gießen 2002.
[57] Gewissensentscheidung und Rechtsordnung. Eine Thesenreihe der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, Hannover 1997.
[58] Denker: Abschied vom Gewissen, 117.
[59] Denker: Abschied vom Gewissen, 170 (Anm. 6).
[60] Denker: Abschied vom Gewissen, 119.
[61] „Das rechte Wort zur rechten Zeit. Eine Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Gütersloh und Hannover 2008.
[62] Das rechte Wort zur rechten Zeit, 54.
[63] Das rechte Wort zur rechten Zeit, 41.
[64] Bingener, Reinhard: Endlich Luther bei die Fische? „Spirituelle und moralische Avantgarde“: Die evangelische Kirche denkt über die Zukunft nach, in: FAZ 19. Mai 2014, 4.
[65] Bohrer, Karl-Heinz: Am Ende des Erhabenen. Niedergang und Renaissance einer Kategorie, in: Merkur 487/488, 1989, 736-750, 741f.
[66] Kreß, Hartmut: Das neue Sozialwort der Kirchen. in: MD Bensheim, Heft 2 2014, 21f (alle Zitate).
[67] Surall, Frank: Dekret oder Diskurs? Die implizite Ekklesiologie evang. Denkschriften, in: ZEE 54. 2010, 249-262, 255.
[68] Wegner, Gerhard: Religiöse Kommunikation und Kirchenbindung – Ende des liberalen Paradigmas?, Leipzig 2014, 129.
[69] Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen. 4. Aufl. Gütersloh 1971
[70] Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen, 11.
[71] Bei Hammelsbeck, Oskar: Die kulturpolitische Verantwortung der Kirche, 1946, 9.
[72] Schelsky aaO. 148.
[73] Scharf, Kurt: Diskussion mit Berliner Schülern über die EKD-Ost-Denkschrift; ausgestrahlt vom Sender RIAS Berlin am 5.8.1966, Text bei Jach, Michael: Der politische Weg der Evangelischen Kirche seit 1945, in: Jens Motschmann und Helmut Matthies (Hg.): Rotbuch Kirche, 4. Aufl. Stuttgart 1976, 23-48, 37f.
[74] Bei Bormann, Claus von: Höchste Legitimation?, in: FAZ 08.12.2003, 34.
[75] Bormann, aaO.
[76] Weißmann, aaO. 26.
[77] Korsch, Dietrich: Vom Ende der Pflicht. Gedanken über Autonomie und Unsterblichkeit, in: ThLZ 140. 2015, 322-335, 333.
[78] Jaspers, Karl: Freiheit und Wiedervereinigung, München 1960, 184.
[79] Assmann, Jan: Gesetz, Gewalt und Monotheismus, ThZ 62. 2006, 475-486, 486.
[80] Harnack: Das Wesen des Christentums, 1900, Ausgabe Hamburg 1964, 120.
Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 27. Juli 2016 um 10:37 und abgelegt unter Kirche, Theologie.