Theologen des Kreuzes und der Herrlichkeit
Dienstag 24. November 2015 von Holger Lahayne
Die Gute Nachricht des Christentums: Es ist keine Religion der Selbsterlösung, in der Gott sagt: Schauen wir mal, ob es dem Menschen gelingt, mir zu entsprechen und möglichst so zu werden, dass er wirklich liebenswert wird. Nein, Gott macht uns, ganz ohne unser Verdienst, zu Geliebten und Liebenswerten. Wann begann die Reformation â in theologischer Hinsicht? Gewöhnlich setzt man den Beginn der Erneuerungsbewegung mit Luthers 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 an. Darin hatte der Wittenberger Theologieprofessor sicher den Nerv der Zeit getroffen, und das Neue des evangelischen Glaubens war auch schon aufgeblitzt. Dennoch blieb der Luther der Thesen inhaltlich noch weitgehend im Rahmen der damaligen Theologie. Die Kirche Roms hĂ€tte die Kritik der Thesen durchaus aufnehmen können ohne sich dabei dogmatisch grundsĂ€tzlich zu verĂ€ndern.
Ein halbes Jahr spĂ€ter begegnen wir zum ersten Mal dem Reformator Luther in der Ăffentlichkeit. Luther gehörte dem Mönchsorden der Augustiner an, und seine Ordensleitung rief ihn zu einer öffentlichen Disputation in der UniversitĂ€t Heidelberg auf. Am 26. April 1518 legte Luther seine Lehre in 40 Thesen und ihren ErlĂ€uterungen dar (28 theologische, die wir hier betrachten, und 12 philosophische). Die Disputation und die Thesen sind vor allem deswegen so bedeutsam, weil Luther darin nun einen wirklich erneuerten Glauben vertritt. Auch in der Schrift Zur Erforschung der Wahrheit und zur Tröstung der geĂ€ngstigten Gewissen vom Juni 1518 begegnet uns dann ein âneuerâ Luther.
In der Disputation, an der auch viele aus der UniversitĂ€t teilnahmen, ging Luther nicht mehr auf die Problematik des Ablasses ein, die noch vor kurzem so im Mittelpunkt stand. Vielmehr behandelte er Kernthemen der Erlösungslehre: Gesetz, Werke, Glaube und Gotteserkenntnis und vor allem das Kreuz. Die Begriffe theologia crucis, die Theologie des Kreuzes, und im Gegensatz dazu theologia gloriae, der Theologie der Herrlichkeit, fallen in den Thesen direkt zwar nicht (Luther spricht immer von den âTheologen des Kreuzesâ bzw. der Herrlichkeit). Aber natĂŒrlich gilt das Dokument als Hauptquelle der lutherischen Kreuzestheologie.
Einige Theologieprofessoren reagierten kritisch auf Luthers Vortrag, vor allem junge Mitglieder der ArtistenfakultĂ€t sowie Studenten zeigten dagegen begeisterte Zustimmung und wurden so fĂŒr den evangelischen Glauben gewonnen. Mehrere spĂ€tere Reformatoren nahmen teil wie Johannes Brenz und Martin Bucer, der in einem Brief ausfĂŒhrlich schilderte, wie sehr ihn das Erlebnis beeindruckt hatte. Diese in Heidelberg gewonnenen AnhĂ€nger Luthers entfalteten ihre Wirkung vorwiegend im sĂŒdwestdeutschen Raum, vor allem in den ReichsstĂ€dten. Unter ihrem Einfluss wurde hier die Reformation verhĂ€ltnismĂ€Ăig fruÌh eingefuÌhrt.
Die Thesen der Heidelberger Disputation gehören zu den wichtigsten Schriften Luthers, finden heute jedoch leider viel zu wenig Beachtung. Sie haben zwar keinen Bekenntnisstatus gewonnen, sind aber immer noch eine theologische Schatzkiste, die es allerdings zu knacken gilt. Ihr Studium ist fĂŒr protestantische Theologen und Geistliche bis heute unerlĂ€sslich. Hier nur ein einfĂŒhrender Ăberblick.
âDas Gesetz Gottes⊠kann den Menschen nicht zur Gerechtigkeit bringenâ
Die Thesen lassen sich in vier Teile gliedern. 1â12 behandeln die guten Werke. Hier hĂ€lt Luther gleich eingangs fest: âDas Gesetz Gottes, die heilsamste Lehre des Lebens, kann den Menschen nicht zur Gerechtigkeit bringen.â (1) Das Gesetz ist gut und von Gott gewollt, aber es ist nicht das Evangelium. Auch die Werke des Menschen bringen uns nicht zur Gerechtigkeit, so These 2. In der folgenden setzt Luther noch einen drauf: âDie Werke der Menschen, wenn sie auch noch so sehr in die Augen fallen und gut zu sein scheinen, mĂŒssen doch als TodsĂŒnden gelten. Die Werke der Menschen glĂ€nzen nach auĂen, aber innen sind sie verdorbenâ, weil sie aus Unglauben kommen. âNicht in dem Sinne sind die Werke der Menschen TodsĂŒndenâŠ, daĂ sie Verbrechen wĂ€renâ (5), rĂ€umt Luther ein. Er betont, dass âdie Werke der Menschen TodsĂŒndenâ sind, âwenn sie ohne Furcht in unverfĂ€lschter und böser Selbstsicherheit getan werden⊠Denn wo keine Furcht ist, da ist keine Demut; wo keine Demut ist, da ist Hochmut und da sind Zorn und Gericht Gottesâ (8). Was also nach AuĂen gut und moralisch aussieht, kann dennoch SĂŒnde sein, weil ohne Glauben und Gottesfurcht getan. Im groĂen Kontrast dazu sind die Werke Gottes diejenigen, die ânicht in die Augen fallen und schlecht zu seinâ scheinen (4). Im Kommentar zur vierten These:
âDer Herr demĂŒtigt und erschreckt uns durch das Gesetz und den Anblick unserer SĂŒnde, daĂ wir uns vor den Menschen und vor uns selbst wie nichts, wie ganz ohne Ansehen vorkommen, ja es wirklich sind. Wenn wir das erkennen und uns dazu bekennen, so haben wir âkeine Gestalt noch Schöneâ, leben⊠in bloĂem Vertrauen auf seine Barmherzigkeit und können uns in uns selbst auf nichts berufen als auf SĂŒnde, Torheit, Tod und Hölle⊠er demĂŒtigt uns in uns selbst und lĂ€Ăt uns verzweifeln, um uns in seiner Barmherzigkeit zu erheben und uns zu Hoffenden zu machen⊠Ein solcher Mensch miĂfĂ€llt sich also in allen seinen Werken, sieht an sich keine Schönheit, sondern nur seine Unansehnlichkeitâ.
âDer freie Wille⊠hat nur Macht zum SĂŒndigenâ
In den Thesen 13â18 geht es um den freien Willen; stand zuvor die objektive Seite der Taten im Mittelpunkt, ist es hier nun die subjektive Seite, unsere Motivation. Haben wir Anteil am Heil durch unsere Willensentscheidung? Hier wird inhaltlich schon der Streit mit Erasmus von Rotterdam 1525 vorweggenommen.
Der Wille âist ein Gefangener und ein Sklave der SĂŒnde. Nicht, daĂ er nichts ist, sondern daĂ er nur frei ist zum Bösen!â (13) Luther zitiert Augustinus: âDer freie Wille ohne die Gnade hat nur Macht zum SĂŒndigenâ. Der Wille wird nicht zu etwas gezwungen, was seiner Natur widerspricht; der Wille ist eben im Bösen gefangen. Wenn der Mensch nun âtut, soviel ihm möglich istâ, sein Bestes gibt und wenigstens versucht, dadurch Gerechtigkeit zu erlangen, produziert er am Ende doch nur âTodsĂŒndeâ. âDer Mensch, der da meint, er wolle dadurch zur Gnade gelangen, daĂ er tut, soviel ihm möglich ist, hĂ€uft SĂŒnde auf SĂŒndeâ (16). Luther widerspricht hier der damaligen Theologen direkt, und nicht zufĂ€llig wurde gerade diese These auch in der Bannbulle Exsurge Domine verdammt! Im Kommentar zur 16. wird dann das erste Mal eine positive Note angeschlagen und Christus erwĂ€hnt:
âWas sollen wir denn tun? Sollen wir mĂŒĂiggehen, weil wir nichts als SĂŒnde tun können? Ich antworte: Nein, sondern höre auf diese Worte und dann falle nieder und bitte um Gnade und setze deine ganze Hoffnung auf Christus; in ihm ist unser Heil und Leben und unsere Auferstehung. Denn darum werden wir so belehrt, darum macht uns das Gesetz mit der SĂŒnde bekannt, damit wir unsere SĂŒnde erkennen und dann Gnade erbitten und erlangen⊠Das Gesetz erniedrigt, die Gnade erhöht. Das Gesetz schafft Furcht und Zorn, die Gnade Hoffnung und Erbarmen. Durch das Gesetz nĂ€mlich erhĂ€lt man SĂŒndenerkenntnis, durch Erkenntnis der SĂŒnde aber erlangt man Demut, und durch die Demut Gnade. So fĂŒhrt Gottes fremdes Werk (opus alienum dei) schlieĂlich sein eigentliches Werk (opus proprium) herbei, indem er den Menschen zum SĂŒnder macht, um ihn gerecht zu machen.â
In These 17 greift Luther nun einen Einwand auf: âSo reden, das heiĂt nicht, dem Menschen AnlaĂ zur Verzweiflung geben, sondern ihn zur Demut rufen, damit er die Gnade Christi suche. Weiter in der ErlĂ€uterung:
âDemĂŒtig können aber nicht die sein, die nicht einsehen, daĂ sie verdammungswĂŒrdige SĂŒnder sind mit SĂŒnden, die zum Himmel schreien. SĂŒnde aber wird nicht erkannt auĂer durch das Gesetz⊠Solche Predigt der SĂŒnde oder vielmehr die Erkenntnis der SĂŒnde und der Glaube an solche Predigt ist Bereitung zur Gnade. Dann nĂ€mlich beginnt das Verlangen nach Gnade, wenn die SĂŒndenerkenntnis da ist. Dann erst, wenn er das Ăbel seiner Krankheit begreift, verlangt der Kranke nach Medikamenten.â
Die letzte These in diesem Abschnitt fasst dann zusammen: âGanz gewiĂ muĂ ein Mensch an sich selbst verzweifeln, um fĂŒr den Empfang der Gnade Christi bereitet zu werden.â (18)
âGott in der Niedrigkeit und Schmach seines Kreuzes erkennenâ
In 16â24 geht Luther nun auf dem bisherigen aufbauend zum âTheologen der Herrlichkeitâ und zum âTheologen des Kreuzesâ ĂŒber (es ist sicher kein Zufall, dass Luther immer nur von Theologen, nicht von Theologie spricht; âTheologie der Herrlichkeitâ bzw. der Gnade ist daher eine Ableitung). Die Thesen 19â21 behandeln die Weise, wie der Theologe arbeitet, 22â24 den falschen und richtigen Gebrauch von Weisheit und Gesetz.
âDer ist es nicht wert, ein Theologe genannt zu werden, der Gottes âunsichtbaresâ Wesen âdurch seine Werke erkennt und verstehtâ (Röm 1,20).â (19) Dies Wesen ist âseine Kraft, seine Gottheit, seine Weisheit, Gerechtigkeit, GĂŒteâ; all das wird in der allgemeinen Offenbarung tatsĂ€chlich erkannt. Doch âdie Erkenntnis alles dessen macht nicht wĂŒrdig und weise.â Derjenige ist ein rechter Theologe â und damit meint er jeden Menschen als einen, der eine Vorstellung von Gott hat â, âder das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in Leiden und Kreuz sichtbar gemacht begreift.â (20) Luther erlĂ€utert:
âDas uns zugewandte, sichtbare Wesen Gottes â d.h. seine Menschlichkeit, Schwachheit, Torheit â ist dem unsichtbaren entgegengesetzt,⊠Weil die Menschen nĂ€mlich die Erkenntnis Gottes aufgrund seiner Werke miĂbrauchten, wollte nun Gott aus dem Leiden erkannt werden. Er wollte solche âWeisheit des Unsichtbarenâ durch eine âWeisheit des Sichtbarenâ verwerfen, damit die, die Gott nicht verehrten, wie er in seinen Werken offenbar wird, ihn verehren als den, der in den Leiden verborgen ist⊠So reicht es fĂŒr niemand aus, Gott in seiner Herrlichkeit und MajestĂ€t zu erkennen, wenn er ihn nicht in der Niedrigkeit und Schmach seines Kreuzes erkennt.â
Luther warnt davor, in die verborgenen Dinge Gottes einzudringen; wir sollen uns an das Offenbarte halten, und dessen Höhepunkt ist eben das Kreuz. Darin ist Gott zwar âin den Leiden verborgenâ, aber dennoch sichtbar und zugewandt. Wir sollen nicht ĂŒber sein Wesen jenseits der Offenbarung spekulieren, sondern ihn dort erkennen.
Der âTheologe der Herrlichkeitâ kennt das Leiden Christi nicht, so in der ErlĂ€uterung zu These 21. Weiter:
âDaher zieht er die Werke dem Leiden, die Herrlichkeit dem Kreuze, die Kraft der Schwachheit, die Weisheit der Torheit und ĂŒberhaupt das Gute dem Schlechten vor. Das sind die, die der Apostel âFeinde des Kreuzes Christiâ (Phil 3,18) nennt. Jedenfalls hassen sie das Kreuz und die Leiden. Sie lieben aber die Werke und ihren Ruhm, und so nennen sie das Gute des Kreuzes schlecht und das SchĂ€dliche des Werkes gut.â
âWer durch Kreuz und Leiden noch nicht zu einem Nichts gemacht istâ
Wer Gott abgesehen vom Kreuz erkannt zu haben meint, dessen âWeisheitâ âblĂ€ht auf, macht blind und verstockt.â (22) âDenn weil sie das Kreuz nicht kennen und es hassen, mĂŒssen sie notwendig das Gegenteil lieben, d.h. Weisheit, Ruhm, Macht u.Ă€. So werden sie durch solche Liebe noch mehr verblendet und verstockt.â In These 24: âNun ist wohl jene Weisheit nicht an sich schlecht, und das Gesetz ist nicht zu fliehen; aber der Mensch miĂbraucht ohne die Theologie des Kreuzes das Beste zum Schlimmsten.â Hier ist wieder an das Gesetz und die Werke zu denken, die miĂbraucht werden, um sich zu Gott hochzuarbeiten. In der ErlĂ€uterung:
âwer noch nicht erniedrigt und durch Kreuz und Leiden zu einem Nichts gemacht ist, der schreibt Werke und Weisheit sich zu, nicht aber Gott und miĂbraucht so die Gaben Gottes und besudelt sie. Wer aber durch Leiden von seinem ichsĂŒchtigen Selbst befreit wurde, der schafft nicht mehr selber, sondern weiĂ, daĂ Gott in ihm alles wirkt und schafft.â
Mit These 25 geht Luther zum Abschluss ĂŒber und fasst sehr gut zusammen, was all das Gesagte fĂŒr uns bedeutet: âNicht der ist gerecht, der viel Werke tut, sondern wer ohne Werke viel an Christus glaubt.â Die Gerechtigkeit Gottes wird sich nicht erarbeitet, sondern âdurch den Glauben geschenktâ; er zitiert Röm 1,7 und 10,10. âNicht daĂ der Gerechte nichts wirke, sondern daĂ seine Werke ihm keine Gerechtigkeit verschaffen. Vielmehr schafft seine Gerechtigkeit Werke.â
Auch These 26 ist eine sehr gute Zusammenfassung: âDas Gesetz sagt: âTue das!â, und es geschieht niemals. Die Gnade spricht: âAn den sollst du glauben!â, und alles ist schon getan.â In den ErlĂ€uterungen zu These 27:
âSobald Christus durch den Glauben in uns wohnt, bewegt er uns zu Werken durch jenen lebendigen Glauben an seine Werke. Die Werke nĂ€mlich, die er selbst tut, sind die ErfĂŒllung von Gottes Geboten und werden uns durch den Glauben geschenkt. Schauen wir sie an, so werden wir zur Nachfolge bewegt.â
Schlusspunkt ist These 28: âDie Liebe Gottes findet nicht vor, sondern schafft sich, was sie liebt. Die Liebe des Menschen entsteht nur an dem, was sie liebenswert findet.â Das ist ganz hervorragend gesagt und zeigt, worin die Gute Nachricht des Christentums besteht: Es ist keine Religion der Selbsterlösung, in der Gott sagt: Schauen wir mal, ob es dem Menschen gelingt, mir zu entsprechen und möglichst so zu werden, dass er wirklich liebenswert wird. Nein, Gott macht uns, ganz ohne unser Verdienst, zu Geliebten und Liebenswerten.
Holger Lahayne, 24.11.2015
Zuerst erschienen auf lahayne.lt
Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 24. November 2015 um 13:44 und abgelegt unter Kirche, Theologie.