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Das verratene Erbe der Reformation

Freitag 17. Oktober 2014 von Johann Hesse


Johann Hesse

Eine Stellungnahme zur EKD-Schrift „Rechtfertigung und Freiheit“

Im Mai dieses Jahres veröffentlichte die EKD die Schrift „Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)“. Darin sollten, so der Ratsvorsitzende der EKD Nikolaus Schneider bei der Vorstellung des Textes in Berlin, „wesentliche theologische Einsichten der Reformationszeit im aktuellen Kontext“ erläutert werden. Doch im Zuge der Übertragung in unsere Zeit verändern und verfälschen die Verfasser unter der Leitung von Prof. Dr. Christoph Markschies die Inhalte. Was bleibt, ist ein Lippenbekenntnis. Die Leitung der EKD beweist damit einmal mehr, dass sie das Erbe der Reformatoren längst verraten hat.

1.   Die Abkehr vom reformatorischen Schriftverständnis

Das „sola scriptura“ war einer der Grundpfeiler der Reformation. Die Heilige Schrift galt den Reformatoren als „einzige Regel und Richtschnur, nach der in gleicher Weise alle Lehren und Lehrer gerichtet und beurteilt werden sollen“.[1] Die Verfasser der Jubiläumsschrift würdigen zunächst dieses Schriftverständnis der Reformatoren, das es ihnen erlaubte, „den christlichen Glauben von den Einflüssen durch menschengemachte theologische Lehren und Frömmigkeitstraditionen“[2] zu befreien und „einen mit der Schrift in Konkurrenz tretenden Autoritätsanspruch der Kirche“[3] zurückzuweisen.

Auf diese Würdigung folgt dann die unmissverständliche Absage vom Schriftverständnis der Reformatoren: „Seit dem siebzehnten Jahrhundert werden die biblischen Texte historisch-kritisch erforscht. Deshalb können sie nicht mehr so wie zur Zeit der Reformatoren als Wort Gottes verstanden werden. Die Reformatoren waren ja grundsätzlich davon ausgegangen, dass die biblischen Texte wirklich von Gott gegeben waren. Angesichts von unterschiedlichen Versionen eines Textabschnittes oder der Entdeckung verschiedener Textschichten lässt sich diese Vorstellung so nicht mehr halten.“[4] Die Überzeugung der Reformatoren, dass Gott selbst der Urheber der Heiligen Schrift ist, der sein Wort von geisterfüllten Menschen aufschreiben ließ, wird von den heutigen Vertretern der EKD abgelehnt. Die Bibel enthalte stattdessen Texte, in denen „menschliche Erfahrungen mit Gott“ so verdichtet wurden, „dass andere Menschen sich und ihre Erfahrungen mit Gott darin wiederentdecken können“.[5]

Freilich möchte man die Bibel auch weiterhin als „Gottes Wort“ verstehen. Das könne man auch und zwar immer dann, wenn „Menschen in, mit und unter diesen Texten angesprochen und im Innersten berührt“ werden.[6] Die Bibel ist nach dieser Auffassung nicht mehr Gottes Wort im objektiven Sinne, unabhängig vom Urteil des Lesers oder irgend einer anderen Instanz, sondern immer nur dann, wenn der Leser im Innersten spürt, dass sie Wahrheit enthält. Gottes Wort ist demnach nur das, was mich persönlich anspricht. Tatsächlich können sich die Autoren hier auf einen Teilaspekt reformatorischer Theologie berufen. Auch Luther konnte sagen: „Das Evangelium wird nicht darum geglaubt, weil die Kirche es bestätigt, sondern weil man spürt, es sei Gottes Wort“.[7] Doch dieser Teilaspekt wird isoliert und verabsolutiert. Immer verbanden die Reformatoren das subjektive Verhältnis zum Wort Gottes auch mit der objektiven Autorität der Heiligen Schrift. So schreibt Luther: „Die Heilige Schrift ist die Königin – sie muss herrschen, und alle müssen ihr gehorchen und untergeben sein. Alle, wer es auch sei, dürfen nicht etwa Meister, Richter der Schriften sein, sondern nur schlichte Zeugen, Schüler, Bekenner.“[8] Löst man die subjektive Erkenntnis von der objektiven Autorität der Heiligen Schrift, kommt es zu einem Herrschaftswechsel. Nicht die Bibel, sondern der Ausleger bestimmt in letzter Instanz, was Gottes Wort ist und was nicht.

Da wundert es nicht, wenn der Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers Ralf Meister bei einer Veranstaltung im Geistlichen Rüstzentrum Krelingen dazu aufforderte, damit ernst zu machen, dass die Bibel ein „ganz normales Stück Literatur sei.“[9] Ganz im Sinne des in der Jubiläumsschrift dargelegten Bibelverständnisses meint Meister: „Heilig wird die Bibel für mich nur dann und insofern, wenn mich diese Offenbarung trifft.“[10] Bibelstellen, die den Leser nicht persönlich treffen, können insofern auch keine bleibende Gültigkeit beanspruchen oder zum verbindlichen Maßstab für die Kirche werden. Ralf Meister meint dann auch zur Beurteilung praktizierter Homosexualität: „Natürlich findet sich in der Bibel nicht eine Stelle, die homosexuelle Praktiken positiv oder nur neutral werten würde. Daraus folgt aber eben nicht automatisch, dass wir dem Urteil der biblischen Schriften hier folgen müssten.“[11] Darum wolle die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers „zukünftig den Weg zu öffentlichen Segnungsgottesdiensten für gleichgeschlechtliche Paare in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft öffnen.“ Hier zeigen sich die bösen Früchte einer Abkehr von der reformatorischen Bibelhaltung. Während die Reformatoren sich wie Luther beim Reichstag in Worms in ihrem Gewissen an die „angeführten Schriftworte“[12] gebunden wussten, wird die Autorität der Heiligen Schrift 500 Jahre später durch evangelische Bischöfe außer Kraft gesetzt.

Die Verfasser der Jubiläumsschrift der EKD führen den Leser in die Irre. Die Abkehr vom Schriftverständnis der Reformatoren wird dem Leser als segensreiches Endprodukt der „offenen Lerngeschichte“ der Reformation verkauft.[13] Der Leser erfährt dagegen nicht, dass die vermeintlichen Erben der Reformation den Grundpfeiler des „sola scriptura“ in Wirklichkeit längst zu Fall gebracht haben. Mit der Preisgabe des „sola scriptura“ hat die EKD die Stimme der Heiligen Schrift „als kritisches Gegenüber der Kirche“[14] zum Schweigen gebracht und ein zentrales Anliegen der Reformation verraten.

2.   Die Preisgabe des „Christus allein“

Die Reformatoren vertraten das „solus Christus“. Christus allein galt ihnen als „der Spiegel des väterlichen Herzens Gottes“[15]. Christus allein galt ihnen als der Weg zu Gott, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6), denn er allein hat durch sein Leiden und Sterben am Kreuz von Golgatha das Heil der Welt vollbracht. Er allein ist der Retter für alle Menschen aller Völker und aller Zeiten. So schrieb Luther: „Gott will nicht, dass man auf einem anderen Wege zu ihm gehe, ihn erkenne und liebe.“[16] Das Heil des Menschen hängt aus reformatorischer Sicht davon ab, ob er an Jesus Christus glaubt oder nicht. Zum zweiten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses heißt es im Großen Katechismus: „Auch steht das ganze Evangelium, das wir predigen, darauf, dass man diesen Artikel recht fasse, denn an ihm liegt all unser Heil und unsere Seligkeit und er ist so reich und weit, dass wir immer genug daran zu lernen haben.“[17] Folglich kann es aus Sicht der Reformatoren außerhalb von Christus kein Heil geben.

Es wäre nun Aufgabe der Jubiläumsschrift gewesen, die Eindeutigkeit und Ausschließlichkeit sowie die bleibende und universale Gültigkeit des „solus Christus“ dem Leser des 21. Jahrhunderts zu vermitteln. Es ist sicher legitim, dass die Verfasser die Zweifel und Bedenken unserer Zeit zur Sprache bringen: „Aber ist diese Exklusivität Jesu Christi nicht anmaßend? Wie kann man so auftreten und andere religiöse Gründe für ein heilvolles Leben bestreiten? Heute, in der Situation des religiösen Pluralismus, scheint eine derartige Position arrogant und ausgrenzend zu sein.“[18] Doch anstatt diese Fragen nun im Sinne der Reformation mit dem „solus Christus“ zu beantworten, eröffnen sich dem Leser unter der Hand plötzlich Wege an Christus vorbei. Der Christ möge zwar auch weiterhin in der Vielstimmigkeit einer „multireligiösen Gesellschaft“ sein Bekenntnis vertreten und seine „Eigentümlichkeiten“ nicht verbergen, aber er solle im interreligiösen Dialog den Glauben des anderen nicht abwerten oder für unwahr erklären.[19] Denn „so wie für den Christen das Gehören zu Christus der einzige Trost im Leben und im Sterben ist, so ja auch für den Anhänger der anderen Religion sein spezifischer Glaube.“[20]

Noch deutlicher hat es der Ratsvorsitzende der EKD Nikolaus Schneider auf dem Kirchentag in Dresden 2011 zum Ausdruck gebracht: „Die Religionen müssen sich von dem Gedanken verabschieden, die Wahrheit allein zu besitzen. Gott ist immer größer als unsere Wahrheitserkenntnis.” Offensichtlich vertritt die EKD 500 Jahre nach dem Thesenanschlag von 1517 die Ansicht, dass es neben Christus auch andere Wahrheiten geben könne, die dem Menschen „der einzige Trost im Leben und im Sterben“ sind. Damit hat man das „solus Christus“ entkernt. Geblieben ist ein Lippenbekenntnis. Dass eine solche Kirche keine missionarische Stoßkraft entwickeln kann, versteht sich von selbst. Es ist erschütternd, dass die evangelische Kirche in ihrer Schrift zum Reformationsjubiläum den Millionen von Muslimen und Anhängern anderer Religionen in unserem Land nicht mehr anzubieten hat als einen blutleeren interreligiösen Dialog.

Weiterhin fällt auf, dass wesentliche Aspekte des reformatorischen Bekenntnisses zu Jesus Christus gar nicht erwähnt werden. Die Reformatoren glaubten und lehrten in Artikel 3 des Augsburger Bekenntnisses, „dass Gott, der Sohn Mensch geworden ist, geboren aus der reinen Jungfrau Maria, und dass die zwei Naturen, die göttliche und die menschliche, also in Einer Person untrennbar vereinigt ist, ein Christus sind, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist.“[21] Das unfassbare Wunder, dass in Jesus Christus tatsächlich der einzigartige und präexistente Gottessohn, in dem die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig vorhanden ist, auf die Erde kommt und von einer Jungfrau geboren wird, wird ausgeklammert. Das Bekenntnis zur Jungfrauengeburt war für die Reformatoren eine Selbstverständlichkeit. Sie ist zudem ein wesentlicher Aspekt des „solus Christus“, denn allein von Christus kann gesagt werden, dass er ohne Sünde war, weil er eben nicht in der Linie Adams steht. Darum kann auch nur Christus der Erlöser sein, der eben nicht für die eigene, sondern für unsere Schuld am Kreuz stirbt. Dieser wesentliche Zusammenhang von göttlicher Natur, von Jungfrauengeburt und Erlösung wird heute nicht mehr vertreten. Stattdessen ist man in seinem Glauben einem naturalistischen Weltbild verhaftet: Weil Jungfrauen nicht schwanger werden können, kann auch Jesus nicht von einer Jungfrau geboren worden sein. Die Jubiläumsschrift schweigt dazu. Doch das Schweigen findet seine publikumswirksame Kommentierung durch die Botschafterin des Lutherjubiläums Margot Käßmann, Mitglied der ad-hoc-Kommission für die Jubiläumsschrift, wenn sie gegenüber dem Spiegel sagt: „Da bin ich ganz Theologin des 21. Jahrhunderts. Ich glaube, dass Maria eine junge Frau war, die Gott vollkommen vertraut hat. Aber dass sie im medizinischen Sinne Jungfrau war, das glaube ich nicht.“[22]

3.   Die Unterschlagung des Sühnopfers Christi

3.1   Was ist Sünde?

Sprechen wir vom Sühnetod Christi, dann muss geklärt werden, was Sünde ist. Die Verfasser der Jubiläumsschrift stellen fest, dass man heute nicht mehr gern über das Thema Sünde spricht. Sünde werde entweder verniedlicht oder es komme zu einer moralischen Engführung.[23] Die Pointe des reformatorischen Sündenbegriffs sei, dass alle Menschen in der gleichen Weise Sünder seien. In der Verkündigung müsse die Sünde als Grundstruktur des Menschen vermittelt werden: „Wenn der Mensch sich nicht lieben lässt, dreht er sich in einem fort um sich selbst. Er ist in sich selbst verkrümmt (incurvatus in se ipsum)“[24]. Es ist sicher richtig, dass die Reformatoren die Sündhaftigkeit aller Menschen in Folge der Erbsünde betonten. Allerdings beschränkte sich ihr Verständnis von Sünde nicht auf ein „Drehen um sich selbst“. Sehr viel klarer und schärfer sahen sie, dass der Mensch „von Mutterleib an voll böser Lust und Neigung“ und „ohne wahre Gottesfurcht und Glauben“ ist. Sie sahen nicht nur die Erbsünde aller Menschen, sondern auch die Tatsünden als willentliche Übertretung der Gebote und Ordnungen Gottes.[25] Die Jubiläumsschrift macht gar nicht erst den Versuch, dem Menschen von heute den Spiegel vorzuhalten und ihn ehrlich über seine abgründige Bosheit aufzuklären.

3.2   Was sind die Folgen der Sünde?

Positiv zu werten ist, dass die Verfasser der Jubiläumsschrift das Jüngste Gericht durchaus als zukünftige Realität wahrnehmen. Jeder Mensch müsse sich in diesem Gericht für sein „Tun und Lassen“ verantworten. Das dann folgende Zitat aus dem Heidelberger Katechismus lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: „Was tröstet dich die Wiederkunft Christi, zu richten die Lebenden und die Toten? In aller Trübsal und Verfolgung darf ich mit erhobenem Haupt aus dem Himmel eben den Richter erwarten, der sich zuvor für mich dem Gericht Gottes gestellt und alle Verurteilung von mir genommen hat. Er wird alle seine Feinde, die darum auch meine Feinde sind, in die ewige Verdammnis werfen, mich aber mit allen Auserwählten zu sich in die himmlische Freude und Herrlichkeit nehmen.“[26]

Und doch wird der Leser darüber im Unklaren gelassen, inwieweit die Verfasser tatsächlich die Ansicht der Reformatoren teilen. So liest man an anderer Stelle: „Uns ist auch das übersteigerte spätmittelalterliche und auch in der reformatorischen Bewegung meistens beibehaltene Bild von Gott als einem Gerichtsherrn, der wie ein absolutistischer Monarch unumschränkt herrscht, tief problematisch geworden.“[27] Diese Einseitigkeit entspreche nicht der Botschaft der Bibel. Aber ist denn der Vorwurf der Einseitigkeit überhaupt berechtigt? Natürlich verkündigten die Reformatoren Gott als strengen Gerichtsherrn, aber sie kannten denselben Gott auch als liebenden und barmherzigen Vater.

Die Reformatoren lehrten, dass der Mensch mit seiner Sünde zu Recht durch den „ewigen Gotteszorn verdammt“[28] wird, wenn er Christus ablehnt. Sie wussten, dass Jesus Christus wiederkommen wird, um „den Gläubigen und Auserwählten ewiges Leben und ewige Freude zu geben, die gottlosen Menschen aber und die Teufel in die Hölle und zur ewigen Strafe verdammen wird.“[29] Die Autoren der Jubiläumsschrift versäumen es, mit Nachdruck zu bestätigen, dass den Sünder, der nicht an Christus glaubt, ein schreckliches Gericht und ewige Verdammnis erwarten. Stattdessen wird die Hölle kurzerhand ihrer ewigen Dimension beraubt und ins Diesseits verlegt. Die Angst Luthers vor der Hölle und die Befreiung von dieser Angst durch die Rechtfertigungsbotschaft werden zwar erwähnt, aber in der Übertragung auf unsere Zeit grundlegend verändert: „Was kann das für Menschen des 21. Jahrhundert bedeuten, die nicht so sehr von Ängsten vor einer Hölle nach dem Tod geprägt sind, sondern eher die Hölle auf Erden fürchten, die Menschen füreinander sind.“[30] Hier zeigt sich, dass die Autoren in ihrem Bibelverständnis nicht den Reformatoren folgen, sondern der existentialen Interpretation Rudolf Bultmanns. Nach ihr sollen „die neutestamentlichen Aussagen in einer solchen Weise interpretiert werden, dass der mythische Rahmen wegfällt und nur der existentielle Inhalt als etwas Bleibendes festgehalten wird.“[31] Die Hölle wird nicht als tatsächlich existierender Strafort der Gottesferne verstanden, sondern existentiell als Chiffre für das Leid, das Menschen einander antun.

Es wäre Aufgabe der Verfasser gewesen, die Folgen der Sünde und den Zustand des Menschen in gleicher Klarheit darzulegen, wie es Luther im Großen Katechismus tat: „Denn nachdem wir geschaffen waren und Gutes aller Art von Gott dem Vater empfangen hatten, kam der Teufel und brachte uns Ungehorsam, Sünde, Tod und alles Unglück, dass wir in Gottes Zorn und Ungnade lagen, zu ewiger Verdammnis verurteilt, wie wir es verschuldet und verdient hatten.“[32]

3.3       Wo bleibt der Sühnetod?

Werden die Sünde und die Folgen der Sünde in ihrer Schwere verkannt und unterschätzt, hat dies auch Auswirkungen auf das Verständnis des Kreuzes. Die Verfasser der Jubiläumsschrift meinen, dass das Leiden und Sterben nicht so verstanden werden dürfe, „als habe Christus ein Verdienst vor Gott erworben, das Gott dann dazu nötige, die Menschen anzunehmen, oder als müsse Gott durch Christus erst gnädig gestimmt werden. Dass Gott den Menschen allein aus Gnade rechtfertigt, besagt, dass die Gnade Gottes schon der Auslöser für die Rechtfertigung durch Christus ist. Christi Leben und Sterben bewirken keinen Gesinnungswandel in Gott, der durch ein wie auch immer zu verstehendes Opfer milde gestimmt werden müsste. Gott selbst hat in Christus am Kreuz gehandelt. Er selbst wollte den Menschen gnädig sein. Deshalb hat er sich in Christus auf das Leben, Leiden und Sterben der Menschen eingelassen. Er hat die Menschen vom Tod und von ihrer Schuld befreit.“[33]

Die Verfasser der Jubiläumschrift zeigen mit Ihrer Interpretation des Kreuzes, dass ihnen die im Neuen Testament gründende reformatorische Lehre vom stellvertretenden Sühnetod Christi fremd ist. Mit dem dritten Artikel des Augsburger Bekenntnisses bekennen wir, dass Jesus Christus, „ein Opfer nicht allein für die Erbsünde, sondern auch für alle anderen Sünden war und Gottes Zorn versöhnte.“[34] Gottes Zorn über die Sünde verlangt den Tod des Sünders (Röm 6,23). Als Jesus Christus am Kreuz starb, stellte er sich unter das Zorngericht Gottes über die Sünde. Doch er bezahlte nicht für seine Sünde, da er selbst ohne Sünde war, sondern für unsere Sünde (Hebr 4,15; 1 Petr 2,22). Jesu Leiden und Sterben geschah stellvertretend für uns. Aus Liebe zu uns sühnte er unsere Schuld und bezahlte dafür mit seinem kostbaren Blut (1 Petr 1,19). Im Großen Katechismus heißt es: Jesus Christus hat „gelitten, ist gestorben und begraben worden, um für mich genugzutun und zu bezahlen, was ich verschuldet habe, nicht mit Silber oder Gold, sondern mit seinem eigenen Blute, und dies alles dazu, dass er mein Herr würde, denn nichts von dem allem hat er für sich selbst getan oder bedurft.“[35] Wer diese frohe Botschaft glaubt, steht nicht länger unter dem Zorn, sondern unter der Gnade Gottes (Joh 3,36). Er ist mit Gott versöhnt (2 Kor 5,19).

Hinter der Aussage, Gott habe sich „in Christus auf das Leben, Leiden und Sterben der Menschen eingelassen“, steht eine Theologie, die sich von „jeder Form einer sog. Objektiven Versöhnungslehre und damit den Begriffen ‚Opfer‘, ‚Sühne‘ oder ‚Stellvertretung‘ in der Dogmatik“[36] verabschiedet hat. Die von den Reformatoren vertretene Lehre von der Stellvertretung wird stattdessen durch den Gedanken der Solidarisierung ersetzt, wonach „Jesus sich zu den Sündern stellt und mit ihnen die Auswirkungen der Sünde erleidet.“[37]

Das von der Jubiläumsschrift vertretene Verständnis des Leidens und Sterbens Christi deckt sich weitgehend mit dem des jetzigen Ratsvorsitzenden der EKD. Als Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland hatte Nikolaus Schneider in einem Interview der evangelischen Monatszeitschrift Chrismon auf die Frage, ob Gott ein Sühnopfer brauche, geantwortet: „Gott braucht es tatsächlich nicht.”[38] Weiterhin meinte Schneider, Jesus sei „nicht im Sinne einer stellvertretenden Übernahme von Strafe”[39] für uns Menschen gestorben. Er sei statt dessen der Ansicht, Jesus „teile mit seinem Leiden und Sterben menschliche Leidens- und Todeserfahrungen”[40], das Kreuz zeuge „von seiner [nämlich Gottes] Liebe, nicht von seinem Zorn.” Ganz ähnlich wird der Zorn Gottes in der Jubiläumsschrift, zu der Nikolaus Schneider das Geleitwort schrieb, unterschlagen, und der Sühnecharakter des Kreuzestodes wird durch eine Teilhabe Christi an unseren Leidens- und Todeserfahrungen ersetzt.

4.   Der fehlende Ewigkeitshorizont

Als die damalige Ratsvorsitzende der EKD Margot Käßmann von der FAZ in einem Interview über ihre Zukunft gefragt wurde und wohin ihr Weg führe, war das eigentlich eine Steilvorlage, um den Lesern eine Tür zur Ewigkeit aufzutun und den Weg aufzuzeigen, auf dem der Mensch dort hingelangen kann. Die ernüchternde Antwort lautete: „zur Pensionsgrenze.“[41]

Sicher kann Margot Käßmann auch anders sprechen, und doch begegnet einem diese starke Diesseitsverhaftung auch in der Jubiläumsschrift „Rechtfertigung und Freiheit“. So heißt es zum Abschluss des Kapitels „Kernpunkte reformatorischer Theologie“: „Evangelisches Christsein ist geprägt von der Rechtfertigung allein durch den Glauben, ohne Werke. Dieser Glaube lässt Gott Gott sein. Und er drückt sich aus, indem die Welt mit „guten Werken“ gestaltet wird zur Ehre Gottes: Soli deo Gloria.“[42] Natürlich stimmt es, dass der reformatorische Glaube auch zum „diakonischen Handeln“ und zum „gesellschaftlichen Engagement“ führt. Doch gerade die Frage der „guten Werke“ war ja eine Frage nach der Ewigkeit. Kann der Mensch sich durch „gute Werke“ Gottes Gnade und damit den Zugang zum Himmel verdienen? Die Reformatoren lehnten dies ab. Allein der Glaube an Christus macht uns gerecht vor Gott und wird uns so zur Tür ins Himmelreich.

Die Reformatoren hatten ein Verständnis von Rechtfertigung, das auf die Ewigkeit hin bezogen war. Das Rechtfertigungsverständnis der Autoren der Jubiläumsschrift ist viel stärker diesseitsbezogen; der Ewigkeitshorizont kommt kaum zum Tragen. Gerade den Menschen unserer Zeit, die durch den Materialismus und ein rein naturalistisches Weltverständnis so notvoll im Diesseits gefangen sind, hätten die Verfasser mit dieser Schrift die weit geöffnete Tür zum Himmel zeigen müssen. Rechtfertigung bringt Freiheit: Freiheit von Sünde, Freiheit vom Tod, Freiheit von ewiger Verdammnis, Freiheit in ewiger Gemeinschaft mit Gott – himmlische Freiheit. Wer durch den Glauben an Christus gerechtfertigt ist, der darf mit den Reformatoren bekennen, „dass unser Herr Jesus Christus am Jüngsten Tag kommen wird, um zu richten und alle Toten aufzuerwecken, den Gläubigen und Auserwählten ewiges Leben und ewige Freude zu geben.“[43]

5.   Fazit

Mit der Abkehr vom reformatorischen Schriftverständnis, der Preisgabe des solus Christus, der Unterschlagung des Sühnopfertodes Christi und der Vernachlässigung des Ewigkeitshorizontes verraten die Autoren des Grundlagentextes „Rechtfertigung und Freiheit“ das Erbe der Reformation. In seiner Beurteilung des EKD-Textes erinnert Reinhard Slenczka an das Anliegen der Reformatoren, mit dem Augsburger Bekenntnis von 1530 die Deformationen in Lehre und Leben der Kirche zu beseitigen. Die Verfasser tun das Gegenteil. Sie geben die Schriftgrundlage explizit preis, „um auf diese Weise alle kirchenamtlichen Fehlentscheidungen gegen Schrift und Bekenntnis zu rechtfertigen und Publikum zu gewinnen, indem Forderungen der Gesellschaft erfüllt und religiöse Bedürfnisse befriedigt werden.“[44] Bleibt die EKD weiterhin beharrlich auf diesem Irrweg, muss das 500. Reformationsjubiläum abgesagt werden. Ein Grund zum Feiern gibt es erst, wenn man die schweren Verirrungen auf dogmatischer und ethischer Ebene der letzten Jahrzehnte erkennt als Schuld bekennt und sich wieder bedingungslos zu Christus und seinem Wort bekehrt.

Johann Hesse, Geschäftsführer des Gemeindehilfsbundes

Quelle: Aufbruch – Informationen des Gemeindehilfsbundes, II/2014

Der Aufbruch erscheint 2-3 x jährlich und kann über die Geschäftsstelle des Gemeindehilfsbundes (05161/911330; info@gemeindehilfsbund.de) kostenlos bezogen werden.

 

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[1] Unser Glaube, Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991, S. 774.

[2] Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, S. 78.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda, S. 84.

[5] Ebenda, S. 85.

[6] Ebenda.

[7] Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 2. durchges. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1963, S. 74.

[8] Ebenda.

[9] Landesbischof Ralf Meister, Vortrag bei der AMD-Delegiertenversammlung, 20. Mai 2014 im Geistlichen Rüstzentrum Krelingen.

[10] Ebenda.

[11] Ebenda.

[12] Martin Luther, WA B, 2,282.

[13] Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, S. 34 -37.

[14] Ebenda, S. 79.

[15] Unser Glaube, Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991, S. 694.

[16] Martin Luther, WA Br 1,329.

[17] Unser Glaube, Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991, S. 686.

[18] Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, S. 51-52.

[19] Ebenda, S. 58.

[20] Ebenda.

[21] Unser Glaube, Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991, S. 61.

[22] Der Spiegel, Im Gespräch: Dort sind alle Tränen abgewischt, Ausgabe 30/2013 vom 22.7.2013

[23] Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, S. 66.

[24] Ebenda, S. 67.

[25] Unser Glaube, Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991, S. 61.

[26] Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, S. 69.

[27] Ebenda, S. 26.

[28] Unser Glaube, Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991, S. 60.

[29] Ebenda, S. 72.

[30] Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, S. 28.

[31] Bengt Hägglund, Geschichte der Theologie – Ein Abriß, 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1997, S. 322.

[32] Unser Glaube, Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991, S. 685.

[33] Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, S. 62.

[34] Ebenda, S. 61.

[35] Unser Glaube, Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991, S. 686.

[36] Wilfried Härle, Dogmatik, S. 324, zitiert in: Bernhard Kaiser, Christus-Glaube-Rechtfertigung. Perspektiven reformatorischer Theologie, VTR, Nürnberg 2012, S. 100.

[37] Bernhard Kaiser, Christus-Glaube-Rechtfertigung. Perspektiven reformatorischer Theologie, VTR, Nürnberg 2012, S. 101.

[38] Präses Nikolaus Schneider, Chrismon plus Rheinland, 04/2009, S. 46.

[39] Ebenda, S. 44.

[40] Ebenda.

[41] www.faz.net vom 18.12.2009.

[42] Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, S. 93.

[43] Unser Glaube, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991, S. 72.

[44] Reinhard Slenczka, Das Unverständnis von Rechtfertigung in der Kirche der Reformation. Dogmatische Bemerkungen zu dem „Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland“ vom Mai 2014, in: Informationsbrief der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, Nr. 287, August 2014, S. 14.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 17. Oktober 2014 um 9:25 und abgelegt unter Kirche, Theologie.