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Der Götze „Selbstbestimmung“ triumphiert. EKD und Diakonie Deutschland wollen das Lebensrecht der Ungeborenen noch mehr einschränken.

Dienstag 20. Februar 2024 von Dr. Joachim Cochlovius


Dr. Joachim Cochlovius

In der Geschichte des Lebensrechts der ungeborenen Menschen in Deutschland und Europa gibt es etliche schwarze Tage. Man muss sich nur an die Jahre 1991, 1995 und 2021 erinnern. 1991 erklärte die Synode der bayrischen Evang.-luth. Landeskirche, dass die schwangere Frau das letzte Verfügungsrecht über ihr ungeborenes Kind hat (in der „Rosenheimer Erklärung“). „In Konfliktsituationen kann die letzte Entscheidung der betroffenen Frau von niemandem abgenommen werden; sie muss sie in ihrer Verantwortung vor Gott treffen.“ Die Tragweite dieses Satzes war vermutlich nicht allen klar, die damals diese Erklärung verabschiedet haben.

Wenn niemand das Recht hat, der schwangeren Frau die letzte Entscheidung abzunehmen, dann ist nämlich auch Gott mit seinen Geboten abgesetzt. Dann hat auch er kein Recht, die Frau von einem Abtreibungswunsch abzuhalten. Die Rosenheimer Erklärung, die übrigens bis heute nicht zurückgenommen wurde, war so gesehen ein trauriger erster Tiefpunkt evangelisch-kirchlicher Stellungnahmen zur Abtreibung.

1995 wurden vom deutschen Bundestag die in den Grundzügen noch heute gültigen Paragraphen 218 und 218a des Strafgesetzbuchs beschlossen. Mit diesen beiden Paragraphen wollte man juristisch Unvereinbares miteinander verbinden. Man definierte die Abtreibung zwar als „strafbar“ (§ 218), erklärte sie aber gleichzeitig für „nicht rechtswidrig“ und „nicht strafbar“, wenn die schwangere Frau einwilligt und die Abtreibung nach einer Pflichtberatung von einem Arzt vorgenommen wird (§ 218a). Es war jedem klar, dass dies ein fauler Kompromiss war, ja noch mehr, eine Zumutung für das Rechtsempfinden. Trotzdem wurden diese Paragraphen in das deutsche Strafrecht aufgenommen, und man muss hinzufügen, unter einem christlich-demokratischen Bundeskanzler. Und eine ebenfalls christlich-demokratische Familienministerin hat 2005-2008 keinen Anlass gesehen, diese unmögliche Konstruktion zu hinterfragen. Irgendeinen nennenswerten Rückgang der Abtreibungszahlen hat der Kompromiss von 1995 nicht mit sich gebracht. Im Gegenteil, allein die gemeldeten Abtreibungen ergeben für den Zeitraum 1995 bis heute mehrere Millionen getöteter Kinder im Mutterleib, Kinder, die wir heute dringend brauchen würden.

Das Jahr 2021 brachte einen weiteren Tiefpunkt, als das Europäische Parlament den sog. Matic-Bericht mit einer Mehrheit von 120 Stimmen annahm (P.F. Matic war der kroatische Berichterstatter). Diese Resolution forderte von den EU-Mitgliedsstaaten neue und weitgehende sexuelle Rechte ein, so das Recht, „Entscheidungen über den eigenen Körper“ zu treffen, das Recht, „Zugang zu Diensten im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zu erhalten“, das Recht „der freien Definition der eigenen Sexualität“, das Recht der „freien Auswahl der Sexualpartner“ und das Recht, „sichere sexuelle Erfahrungen zu machen“. Schließlich fordert der Bericht, „Abtreibungen zu entkriminalisieren und Hindernisse für legale Abtreibungen zu beseitigen und gegen sie vorzugehen“. Völlig zu Recht wurde in der Presse davon gesprochen, dass das Europäische Parlament mehrheitlich die Abtreibung zum Menschenrecht erklärt hat. Von deutscher Seite stimmten nur die CDU/CSU- und die AfD-Abgeordneten dagegen.

In diese Liste schwarzer Tage für das Lebensrecht der Ungeborenen reihen sich nun auch der 10. und 11. Oktober 2023 ein. An diesen beiden Tagen haben die Diakonie Deutschland und der Rat der EKD Stellungnahmen zum Lebensrecht der Ungeborenen herausgegeben. Beide Texte verstehen sich als Reaktion auf eine Initiative der Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) vom März 2023. L. Paus hat in Zusammenarbeit mit Karl Lauterbach (SPD) und Marco Buschmann (FDP) eine Kommission „Reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ eingesetzt, die im Frühjahr 2024 ihre Vorschläge zu entsprechenden Gesetzesänderungen vorlegen soll. Frau Paus hat sich bereits für eine komplette Streichung des Paragraphen 218 ausgesprochen. Die Stellungnahme der EKD, so der Text, „berücksichtigt eine gesellschaftliche Entwicklung, die die Perspektive der schwangeren Person und ihre reproduktiven Rechte stärker in den Blick nimmt“. Auch abgesehen vom abstrusen Austausch des Wortes „Mutter“ mit „schwangerer Person“ lässt dieser Satz tief blicken. Die „gesellschaftliche Entwicklung“ wird ausschließlich als Vormarsch der Selbstbestimmungsideologie wahrgenommen. Kein Wort zum massenhaften Elend der über 100 000 getöteten Embryonen, deren Herz schon in der 5. Woche nach der Empfängnis schlägt, kein Wort zum immer gravierender werdenden gesellschaftlichen Riesenproblem des Kinder-, Jugend- und Fachkräftemangels, kein Wort zu den oft jahre- und lebenslang anhaltenden psychischen Problemen der Frauen und Mütter, die abgetrieben haben (von den Vätern zu schweigen). Diese Perspektiven kommen gar nicht in den Blick. Wenn man irgendwo einen ideologisch verengten Horizont studieren will, dann bei diesem EKD-Text. Was sagt die EKD zum strafrechtlichen Schutz der Ungeborenen? Während der jetzige § 218 den Lebensschutz mit der Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter beginnen lässt, spricht der Rat der EKD von einem abgestuften Lebensrecht. „Dabei ist von einer kontinuierlichen Zunahme des Lebensrechts des Ungeborenen und der Schutzpflicht ihm gegenüber im Verlauf der Schwangerschaft auszugehen“. Mit anderen Worten: Die EKD spricht dem ungeborenen Menschen unmittelbar nach der Empfängnis und in den ersten Lebenswochen das Recht auf Leben ab.

Es ist wohl kein Zufall, dass man im gesamten Text keinen einzigen Bezug zur Bibel findet. Offensichtlich ahnten die Verfasser selbst, dass sich ihre Gedanken weit außerhalb dessen bewegen, was man evangelisch bzw. christlich nennen kann. Die F.A.Z. hat jedenfalls einen Kommentar völlig zu Recht mit „Kein Gott, nirgends“ überschrieben (20.10. 2023). Dass der EKD-Text strikt an der Beratungspflicht festhält, macht die Sache nicht besser. Denn wie will man einer abtreibungswilligen Frau das Austragen ihres Kindes plausibel machen, wenn man für die erste Zeit der Schwangerschaft das Selbstbestimmungsrecht der Frau so deutlich über das Lebensrecht des Kindes stellt?

Die Diakonie hat sich einen Tag früher als die EKD zu Wort gemeldet („Stellungnahme der Diakonie Deutschland gegenüber der Arbeitsgruppe 1 – Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch – der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“). Ihr Text erklärt gleich in der Einleitung, dass die geltende Rechtslage, die den Schwangerschaftsabbruch „grundsätzlich unter Strafe“ stellt, „unbefriedigend und nicht mehr zeitgemäß“ sei. Wie die EKD setzt auch die Diakonie „bei der Situation der schwangeren Frau an“, die strikt auf der Basis ihrer „Selbstbestimmung“ definiert wird. „Ihr Recht am eigenen Körper“ dürfe durch die Schwangerschaft nicht „in den Hintergrund treten“. Die „Selbstbestimmung der Schwangeren“ gelte es ernst zu nehmen. Auch das Bundesverfassungsgericht habe in letzter Zeit „wiederholt das Gewicht der Selbstbestimmung in besonderer Weise betont“. Der Embryo spielt im Denkrahmen dieser Selbstbestimmungsideologie nur eine Nebenrolle. Er ist „ein ungeborenes Leben, aber nicht eigenständig, sondern lebt und existiert nur, weil und solange ihn die Frau mit ihrem Körper schützt, ernährt und trägt“. Auch im Diakonie-Text schlägt das Konzept eines abgestuften Lebensrechts der Ungeborenen durch. Fast wörtlich identisch mit dem EKD-Text heißt es: „Dabei ist von einer kontinuierlichen Zunahme des Lebensrechts des Ungeborenen im Verlauf der Schwangerschaft auszugehen“. Unterschiedlich ist die Auffassung von der Notwendigkeit der Beratungspflicht. Die Diakonie hält davon nichts, „denn  eine Beratungspflicht suggeriert ein Bild der beratungsbedürftigen Schwangeren als außer Stande, zu unreif und unverantwortlich, eine verantwortungsbewusste und reiflich überlegte Entscheidung zu treffen“.

Der größte Unterschied zwischen den beiden Texten liegt aber darin, dass die Diakonie einen auf dem christlichen Glauben basierenden Lebensschutz explizit für nicht mehr relevant erklärt. „Im Ergebnis entspricht die Konzeption der §§ 218ff. StGB einer unausgesprochenen religiösen Setzung, diese kann daher nicht Teil der Grundlage des Miteinanders in einer pluralistischen Gesellschaft sein, soll nicht moralische Homogenität erzwungen werden“. Man ist ja von Theologen der Diakonie einiges gewöhnt (z.B. die Befürwortung des assistierten Suizids), aber diese Totalverleugnung der eigenen christlichen Wurzeln und des missionarischen Auftrags an der Welt ist eine neue Dimension geistlicher Blindheit. Wenn die christliche Nächstenliebe, zu deren Markenzeichen immer die Zuwendung zu den Schwächsten gehört hat, als „religiöse Setzung“ kleingeredet wird und nicht mehr in die Politik eingebracht werden soll, weil sie angeblich nicht in eine pluralistische Gesellschaft passt, dann sind wir wieder im antiken Heidentum angekommen, wo unliebsame Kinder ausgestoßen wurden. Mit Christentum hat das nichts mehr zu tun. Hier kann man nur noch dem erwähnten F.A.Z.-Kommentar beipflichten: „Dass Kirche sich selbst abschafft, muss man ihr zubilligen. Doch sollte sie bedenken, dass sie mit ihren polarisierend-einseitigen Stellungnahmen auch eine auf Ausgleich und Kompromiss angelegte Politik immer schwerer macht.“

Die Theologielosigkeit des EKD-Textes hat anscheinend zu einer erheblichen internen und externen Kritik geführt. Jedenfalls wurden vier Theologen beauftragt (R. Anselm, P. Bahr, P. Dabrock, St. Schaede), die theologische Begründung nachzureichen (nachzulesen unter zeitzeichen.net). Dies geschah Anfang November 2023 mit dem Text „Dem tatsächlichen Schutz des Lebens dienen. Theologische Überlegungen zur Diskussion um den rechtlichen Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch“. Es würde den Rahmen dieses Kommentars sprengen, darauf näher einzugehen. Er ist eine Auftragsarbeit, die im Argumentationsrahmen des EKD-Textes bleibt und ihn weitgehend stützt, auch wenn durchaus diskutable Anmerkungen zur Selbstbestimmung zu finden sind. Wie die beiden Stellungnahmen der EKD und der Diakonie plädiert auch diese theologisch-ethische Legitimation für einen abgestuften Lebensschutz, der erst dem selbstständig lebensfähigen Embryo (also mit der 22. Schwangerschaftswoche) einen strafrechtlichen Schutz zugesteht. „Erst mit der extrauterinen Lebensfähigkeit des Fötus“ müsse das Beratungskonzept „durch einen eigenständigen und nicht über die Mutter vermittelten, strafrechtlich bewehrten Schutz des Ungeborenen“ ergänzt werden. Die vier theologischen Ethiker sprechen sich wie auch ihre Auftraggeber für eine weitgehende Abkoppelung der Abtreibungsfrage vom Strafrecht und damit im Ergebnis für eine weitere Einschränkung des Lebensrechts der Ungeborenen aus. „Insgesamt steht im Zentrum der Überlegungen nicht das Strafrecht, sondern die verantwortungsethisch motivierte Stärkung der Schwangeren und ihres Umfeldes.“

Im Titel dieses Kommentars habe ich bewusst die Selbstbestimmung einen Götzen genannt. Sowohl im EKD- als auch im Diakonietext spielt die Selbstbestimmung der Frau eine zentrale Rolle (jeweils fünfmal erwähnt). Alle Argumente werden an ihr ausgerichtet. Doch diese intellektuelle Anbetung eines Begriffs kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein verfehltes, säkular-atheistisches Menschenbild vermittelt. Als Christen wissen wir, dass der Mensch als Geschöpf eines kommunikativen Gottes seine Sinnerfüllung niemals im Rückbezug auf sich selbst finden kann, sondern nur in der gelingenden Gemeinschaft mit Gott und seinem Nächsten. Es ist ein Jammer zu sehen, wie ein neomarxistischer Leitbegriff das Denken akademisch gebildeter Theologen bestimmt, die es aus der Bibel eigentlich besser wissen müssten. Und noch erschütternder ist es, wenn die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende erklärt, dass die Selbstbestimmung ein Menschenrecht sei (EKD-Pressemitteilung vom 11.10.23) und damit diesem zutiefst unchristlichen Begriff die kirchliche Weihe erteilt. Beide Texte richten sich an einer Leitidee der neomarxistischen Frankfurter Schule (M. Horkheimer, H. Marcuse u.a.) und damit an einem unbiblischen Menschenbild aus. Trotz gegenteiliger verbaler Beteuerung fördern sie das Lebensrecht der Ungeborenen nicht, sondern schaden ihm gründlich.

Pastor Dr. Joachim Cochlovius

Zuerst erschienen in: Aufbruch – Informationen des Gemeindehilfsbundes 3/2023 (Dezember)

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 20. Februar 2024 um 11:01 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Kirche, Lebensrecht.