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Jesus wusste, was im Menschen war

Freitag 9. Februar 2024 von Pastor Heinrich Kemner (1903-1993)


Pastor Heinrich Kemner (1903-1993)

Ein Mann, dem ich ein großes Maß von seelsorgerlicher Erfahrung zutraue, sagte mir, dass die größte Gefahr sei­nes Lebens gewesen sei, Menschenverächter zu werden. Diese Gefahr ist dann gegeben, wenn man die Rätselfra­ge des Menschentums ohne die Klärung zu lösen ver­sucht, die Gott ihr selbst gegeben hat. Als mir einmal in einer Studentenversammlung jemand zurief: „Wir wollen nicht wissen, was Sie reden!“ frag­te ich zurück, was man denn wissen wolle, und bekam die Antwort: „Wir wollen wissen, wer Sie sind.“ Selten hat mir eine Frage so schnell das Thema geschenkt.

Wer sagt mir, wer ich bin? In welcher Dialektik, Philosophie und Religion begreife ich, wer ich bin? Welche Psycholo­gie deutet mir echt die Wirklichkeit? Das Umgetriebensein in dieser Frage sucht eine Antwort. Die Lösung kann nur Gott allein geben. Die menschlichen Deutun­gen lassen uns in der Selbsttäuschung. Auf die Erfüllung, die mein Leben bewusst oder unbewusst sucht, ist Jesus die einzige Antwort. Er ist das Thema der Weltgeschich­te geworden. Er ist Weg, Wahrheit und Leben nicht nur in seiner Lehre, sondern dadurch, dass diese Lehre Aus­druck einer Persönlichkeit ist, in der sich Gott und Mensch zugleich deutet.

In Jesu Person und einmalig in seiner Passion werden Heiligkeit und Liebe Gottes für uns anschauliche Be­griffe. Ist Gottes Liebe so groß, dass er seines eingebore­nen Sohnes nicht verschonte um unsertwillen, so ist sei­ne Heiligkeit so absolut, dass die Erlösung nur vollbracht war, als Jesus in der Gottverlassenheit unsere ganze Wüstennot durchlitten hatte. Gott hat uns erlöst, weil er uns erlitten hat. Das Kreuz ist Maßstab für Gott und Mensch zugleich.

Johannes sagt von Jesus, dass er wusste, was im Men­schen war. Was bedeutet das? Nichts anderes als das Hinabsteigen in die unheimliche Tiefe der Rätselfrage des Menschentums. Wie oft habe ich mir gewünscht, gewis­se Beichten nicht gehört zu haben. Es gab Stunden, in denen ich über die Unheimlichkeit und Abgründigkeit des Menschentums verzweifelt war. Ja mehr als das: Wer den andern sieht, entdeckt sich selber auch. Wer kann sagen: „Das kann mir nicht passieren!“? Wie oft habe ich die beneidet, denen es möglich ist, alles Menschentum idealistisch zu verklären oder mit Goethe zu sagen: „Alle menschlichen Gebrechen heilet reine Menschlich­keit.“ Wer den Menschen sehen muss nicht wie er scheint, sondern wie er ist—, der kommt zu Luthers Er­kenntnis im Magnifikat: „Da ist gar kein Rat oder Hilfe außer dem Kreuz Christi.“

War Jesus in der Seelsorge uns darin voraus, dass er wusste, was im Menschen war, dass weder ein Nathanael noch Petrus sich in der Gedankenwelt verbergen konnte, dann ist dieses Wissen für uns die Offenbarung einer Unfassbarkeit, wenn wir an den Verrat des Judas denken. Wo gibt es in der Welt jemanden, der in seiner nächsten Nähe einen Menschen ertragen könnte, der eine gelebte Lüge ist. Freilich, der Bezug, in dem Judas den Herrn verriet, hatte sicherlich eine edle Erklärung. Der Teufel fährt immer mit einem Zuge, dessen Lokomotive eine edle Wahrheit enthält. Die angehängten Wagen sind mit Wahrheit getarnte Lügen. Judas wollte für Jesus und Israel und natürlich auch für sich etwas Gutes tun. Er konnte nicht auf Gottes Stunde warten und wollte Jesus an die Macht bringen. Es war ihm unbegreiflich, dass Je­sus jede Gelegenheit verpasste. Er wollte ihn zwingen, endlich von seiner Macht Gebrauch zu machen. Natürlich hat erstrangig auch sein Ehrgeiz eine Rolle gespielt und sicherlich auch sein Denken in geldlichen Werten. Aber entscheidend war das nicht. Er hat das Geld weggewor­fen, als er das Unglaubliche entdecken musste, dass Jesus zu den Häschern sagen konnte: „Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.“ Weil Judas nicht aus der Wahrheit war, endete er im Suchen nach einer Buße, die den Bußtag Gottes in Christus nicht mehr ver­stehen konnte.

„Wie Jesus geliebt hatte die Seinen, so liebte er sie bis zum Ende“, sagte Johannes. Aber dies Ende war für Ju­das der Absturz in bodenlose Tiefe. Der Judaskuss ist der unheimlichste Kuss der ganzen Weltgeschichte. Das Dämonische und Heilige berührten sich hier auf einer Grenze, die Himmel und Hölle bedeuten. Die Verdoppe­lung der Existenz wird hier Sünde wider den Heiligen Geist. „Judas, verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuss?“

Die Judasgeschichte hat sich unendlich oft wiederholt. Sie ist Ausdruck einer Gefahr, gegen die niemand von uns gesichert ist. Als der Herr ankündigte: „Heute Nacht wird mich einer von euch verraten“, haben alle Jünger gesagt: „Herr, bin ich’s?“ Niemand wusste sich an­fällig für eine solche Tat. Die Möglichkeit lag für alle vor der Haustür. Offenbar war Judas in seiner diploma­tischen Besessenheit nicht mehr fähig, Jesu Anruf, die letzte Warnung, echt zu hören. Wer die Gelegenheit Got­tes willentlich versäumt hat, wer die Stunde der Gnade missachtet, für den wird Gnade Gericht. Petrus ging hin­aus und weinte bitterlich, aber Judas ging in die Nacht. Er hat die Antwort auf seine Lebensfrage nicht gefun­den. „Zu spät, zu spät! O Todesschrei, Jesus von Naza­reth ging vorbei!“ Herr, bewahre mich vor dem Judaskuss! Der du trägst die Sünde der Welt, erbarme dich unser!

Quelle:

Heinrich Kemner, Wir wählen das Leben Bd. 2, Bad Liebenzell 1981

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 9. Februar 2024 um 11:15 und abgelegt unter Predigten / Andachten.