Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Ein „Loch im Reich des Teufels“

Donnerstag 19. Oktober 2023 von Pastor Dr. Stefan Felber


Pastor Dr. Stefan Felber

Genderstern, Inklusion, Antidiskriminierung: Die Ideologisierung der Sprache senkt die Qualität des Schreibens und Sprechens. Krise der Sprache, Krise der Menschen? Eine Spurensuche.

In Talkshows werden oft die Gedanken nicht zu Ende geführt, man lässt einander nicht ausreden, oder unterstellt dem politischen Gegner abwegige Vorstellungen, die dann leicht beiseitegeschoben werden können. Hier ist sicherlich mangelndes Benehmen im Spiel. Doch es zeigt sich auch: Es fehlt die Fähigkeit, die reichen Möglichkeiten der Sprache zu Differenzierung und Komplexität auszuschöpfen. Manche Politiker formulieren keine ganzen Sätze mehr, man vergleiche nur Merkel und Trump mit ihren jeweiligen Vorgängern. Der Konjunktiv wird seltener, und der Dativ ist dem Genitiv sein Tod …

Nun kommt es noch dicker: In amtlichen Schriften des US-Parlaments sollen die Wörter Vater, Mutter, Sohn, Tochter nicht mehr vorkommen. Die Schweizerische Eidgenossenschaft verzichtet in amtlichen Publikationen zwar weiterhin auf den Genderstern, das generische Maskulin ist jedoch nicht mehr zulässig. Verschiedene deutschsprachige Nachrichtenagenturen haben ein gemeinsames Vorgehen vereinbart, um diskriminierungssensibler zu schreiben und zu sprechen. Das generische Maskulinum soll schrittweise „zurückgedrängt“ werden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO wittert Diskriminierung und benennt Corona-Varianten um. Statt „britische“ oder „indische“ Virus-Variante heisst es nun Alpha und Delta. Auch die Evangelische Kirche Deutschlands liegt im Trend und gibt in einer Broschüre Tipps zum geschlechtergerechten Formulieren. Sogar das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken schwenkt auf den Genderstern ein, denn „die Wirklichkeit ist komplexer als die klassische binäre Leseart der Schöpfungsordnung es darstellt“. Der Duden ist ebenfalls auf den Zug aufgesprungen und will bis Ende Jahr mehr als 12 000 Personen- und Berufsbezeichnungen mit weiblicher und männlicher Form in den Online-Duden aufzunehmen. Bei ARD, ZDF und SRF wird der Genderstern vermehrt „hörbar“ gemacht und die Bundeswehr hat bemerkt, dass die Einmannpackung, bestehend aus Hartkekse, Bitterschokolade, Dosenbrot, Instantkaffee, einer Hauptmahlzeit und vielem mehr, nicht geschlechtergerecht ist und geht deshalb über die Bücher.

Und trotzdem: Eine überwiegende Mehrheit der Deutschen lehnt die von oben nach unten durchgesetzte Rechtschreibreform von 1998, welche die Sicherheit über richtige und falsche Schreibungen nachhaltig erschüttert hat, nach wie vor ab (Allensbach-Umfrage von 2015) und hält das Gendern gemäss einer Forsa-Umfrage für unwichtig und störend. 53 Prozent befürworten jüngst in einer SPIEGEL-Umfrage ein Verbot geschlechtergerechter Sprache für staatliche Stellen. Was also läuft hier verkehrt?

Schon für den postmodernen Vordenker Friedrich Nietzsche (1844–1900) lag der entscheidende Machtfaktor der Zukunft bei denen, die in der Lage sein werden, die Sprache zu regeln, beziehungsweise einen bestimmten Sprachgebrauch durchzusetzen vermögen. Für ihn hat Sprache – nach dem von ihm ausgerufenen Tode Gottes und dem Ende der Metaphysik – gar keinen Anhalt mehr an der Wirklichkeit. Es gebe praktisch nur noch Interpretationen, die miteinander ringen. Die interpretierte Wirklichkeit werde durch Sprache vielmehr erst erzeugt! Analog entwarf George Orwell (1903–1950) in „1984“ die Schreckensvision eines „Wahrheitsministeriums“, das die richtigen Geschichtsdaten erst herstellte. Dass heute die Freiheit der Sprache und damit des Denkens immer weiter reduziert wird, liegt auf der gleichen Linie.

Wer ist hier am Werk?

Es ist nicht leicht, dies zu bestimmen. Jedenfalls sollte man nicht mit dem Finger auf bestimmte Menschen zeigen. Peter Sloterdijk meinte zum 100. Todestag Nietzsches, „das Ereignis Nietzsche als eine Katastrophe in der Geschichte der Sprache“ beschreiben zu können. Denn Nietzsche hob die Unterscheidung zwischen Bekenntnis und Zitat, beziehungsweise zwischen (normativem) Grundtext und (subjektiver) Interpretation auf, um der „unabhängigste Mann in Europa“ zu werden, wie er an Franz Overbeck schrieb. Jedes Reden von einem Eingriff Gottes sollte sprachlich verunmöglicht werden, weil ein solches doch nur dazu diene, den in sich selbst glücklichen Menschen abhängig zu machen und so niederzudrücken. Sloterdijk: „Es ist seine Mission, die kommunikative Kompetenz der Vergifteten zu zerstören.“ Die Reduktion von angeblich allein sinnvollen Aussagen wurde bei Ludwig Wittgenstein ins Extrem getrieben: Vom Ethischen, Schönen und Göttlichen könne man nicht reden, und worüber man nicht reden, darüber solle man schweigen.

Im Gefolge Nietzsches, des „Trend-Designers des Individualismus“, würde man bei einer totalen Vereinzelung des Menschen landen. Der 2008 verstorbene Philosoph Günter Rohrmoser sieht das Problem eher in einem kollektivistischen System; er geht dabei weiter zurück: Wenn seine Analyse richtig ist, dass wir heute die Spätfolgen der Französischen Revolution erleben, sind zumindest die Symptome der staatlich verordneten Sprachgestaltung und -niveausenkung hier einzuordnen. Denn damit alle in der richtigen republikanischen Gesinnung (das heisst im Sinne der antimonarchischen Revolution) denken, muss entsprechender Druck ausgeübt werden.

Was heute als Tugend gelten darf, definiert der politisch linksorientierte Mainstream. Ein guter Bildungsstand in den Sprachen hingegen würde kritisches Denken fördern.

Stimmen aus der Philosophie

Schon 1679 hat der Aufklärungsphilosoph Gottfried Wilhelm Leibniz die Deutschen ermahnt, „ihren Verstand und Sprache besser zu üben“. Die Annahme einer fremden Sprache, so Leibniz, bringe „gemeiniglich den Verlust der Freiheit und ein fremdes Joch mit sich“. Nachdem das Lateinische die Akademien nicht mehr uneingeschränkt dominierte, war es nach dem Dreissigjährigen Krieg das Französische, das in die deutsche Sprache hereindrängte, befördert durch die Fürstenhöfe, die sich dadurch vom gemeinen Mann abheben konnten. Nach 1945 drang vor allem das Amerikanische in den deutschen Sprachraum vor.

Im 20. Jahrhundert diagnostizierte Martin Heidegger eine „überall und rasch fortwuchernde Verödung der Sprache“, die deshalb so schlimm sei, weil er die Sprache als „Haus des Seins“ des Menschen verstand. Im Sprachverfall sah er also eine Gefährdung des Wesens des Menschen selbst. Man fragt sich: Ist es wirklich so schlimm? Ist das nicht Kulturpessimismus nach dem Motto: „Früher war alles besser“?

Stimmen aus der Theologie

Der bekannte katholische Theologe Romano Guardini hatte in seinen Münchner Ethik-Vorlesungen (zwischen 1950 und 1962) die Lage der Sprache als äusserst gefährdet und die Verantwortlichkeit ihr gegenüber als „besonders dringlich“ bezeichnet. Er befürchtete gar ihr Zugrundegehen.

Ähnlich eine Analyse auf evangelischer Seite. 1965 schrieb Gerhard Friedrich (Prof. für Neues Testament, gestorben 1986): „Das Beunruhigende der heutigen Situation ist, dass wir in einer ausgesprochenen Krise des Wortes leben. Das Wort hat weithin seinen Wortcharakter verloren, indem es zu einer leeren Mitteilungsformel und einem Zeichensystem geworden ist. … Die Technisierung der Sprache führt zum Tod des Wortes.“ Friedrich beklagte unter anderem eine Inflation der Wörter und eine Entwertung des Wortes sogar in der Theologie. Am schlimmsten jedoch sei es in der Politik, wo die Sprache „stärker missbraucht“ werde als je, so seine Einschätzung bereits damals. „Die Wörter dienen nicht dazu, sich dem andern gegenüber zu offenbaren, sondern die Gedanken vor ihm zu verbergen und ihn zu täuschen. … Die Verkehrung der Wörter in ihr Gegenteil wird von Orwell als die eigentliche Mechanik der neuen Zeit beschrieben.“  Nach Orwells Neusprech gilt: „Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke“. Und seine Beschreibung: „Politische Sprache wird so geformt, dass sie Lügen als wahrhaftig und Mord als tugendhaft erscheinen lässt, und um blossem Windhauch den Anschein zu geben, solide zu sein.“ Diese Phänomene begleiten uns in der Politik ständig: Abtreibung, traditionell ein strafbewehrtes Unrecht, soll zum Menschenrecht und zum Mittel der Selbstbestimmung der schwangeren Frau erklärt werden. Das Gegenteil von „Pro Life“ wird eben nicht als „Pro Death“, sondern als „Pro Choice“ betitelt.

1821 hatte der Dichter Heinrich Heine in seiner Tragödie „Almansor“ formuliert: „Das war ein Vorspiel nur! Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Genau so kam es: Vom Scheiterhaufen für Druckwerke vor der Berliner Universität am 10. Mai 1933, eine angebliche «Reinigung vom undeutschen Geist», führte ein direkter Weg zu den Leichenöfen von Auschwitz.[1]

Gerhard Friedrich war zu dem Spitzensatz gelangt: „Die Entwortung des Wortes hat die Entmenschung des Menschen zur Folge.“ Sein Urteil würde er heute kaum anders fassen. Freilich sollte man mit verabsolutierenden Aussagen vorsichtig umgehen, denn zum einen hat niemand einen lückenlosen Überblick über die gesamte Sprachentwicklung. Zum anderen ist auch mit sprachlichen Reparaturprozessen zu rechnen, die Fehlentwicklungen wie die Gendersprache wieder ausmerzen wird.

Auf jeden Fall gilt: Sprache ist etwas dermassen Grundlegendes für den Menschen, dass ihre Geringschätzung einer Verachtung des Menschen gleichkommt. Diese beginnt, so meine ich, schon dann, wenn man die Bedeutung der Sprache für den Menschen auf ihre „kommunikative Funktion“ reduziert. Neben anderen hat George Steiner («Nach Babel») gezeigt, um wieviel reicher sie ist.

Eine Besinnung auf Sprache und ihre Qualität lässt ahnen, wie umfassend die Krise unseres Zeitalters ist. Es ist eine Krise nicht nur bestimmter Teile der Gesellschaft (Rassen, Klassen oder Geschlechter), sondern eine Krise des Menschen selbst. Und diese ist so generationen- und länderübergreifend, dass man sich über rasche Lösungen keine Illusionen machen darf.

Andererseits ist Sprache nicht schutzlos dem Verfall preisgegeben. Denn Sprache, so sehr Mensch und Teufel auch versuchen, einzugreifen, bleibt eine Gottesgabe, nach Luther sogar ein „Loch im Reich des Teufels“: Durch dieses Schlupfloch hindurch – zumal wenn Sprachen, Mathematik und Musik in den Schulen gut gelehrt werden – können das Heil und der Heiland gegenwärtig werden. Das ist ihre höchste Würde. Und die hohe Kunst des Teufels und der Feinde des Evangeliums besteht immer darin, unseren Worten die Kraft zu nehmen, nicht nur über Irdisches, sondern auch über göttliche Dinge wahr und klar zu reden.

Wer in die Sprache eingreift, verändert sie nach aller Erfahrung zum Schlechteren hin, besonders in den totalitären Systemen. Wer sie aber gut lehrt, erleichtert das Eindringen des göttlichen Wortes in die Herzen und in die Kultur.

Was sagt die Bibel?

Die Schöpfung begann mit dem göttlichen Sprechen: „Es werde … und es war …“ Ohne Mühe führt Gottes Reden das, was nicht ist, ins Dasein. Auch die Beziehung von Gott und Mensch vollzog sich von Beginn an im Wort, im Angesprochenwerden des Menschen und in seiner Antwort in Wort und Tat. Gott begegnet dem Menschen durch sein Wort.

Die Zerstörung der Beziehung von Gott und Mensch, der Sündenfall, begann mit der Verdrehung der Worte Gottes: „Sollte Gott gesagt haben …?“ Die vom Teufel gelenkte Schlange verdreht die grosse Erlaubnis Gottes in ein Verbot und sein Drohwort in eine Verheissung (man vergleiche 1. Mose 2,16–17 mit 3,1+4–5). Evangelium und Gesetz werden vertauscht. Im Gespräch mit Eva, der Schlange und Adam rückte Gott die Dinge wieder zurecht und verordnete durch sein Wort einem jedem die bestimmten Konsequenzen seines Handelns.

Dann Babel: Als sich der Mensch ohne Gott zu vermassen und zu überheben anschickte, verwirrte Gott ihm die Sprache, machte aus Spracheinheit Sprachenvielfalt und aus Familien Völker, deren Macht sich in einem ständigen Ringen gegenseitig begrenzt (1. Mose 11). Das war Gericht und Gnade zugleich, nämlich der immer noch bestehende Schutz vor dem Welteinheitsstaat.

Seither ist der Mensch – geistlich gesehen – unablässig zwischen Babel und Jerusalem unterwegs. An Pfingsten schenkte Gott in Jerusalem zeichenhaft eine sprachenübergreifende Verständlichkeit, freilich nicht allgemein für jeden Sprecher und jeden Inhalt, sondern für die Apostel, die die Grosstaten Gottes verkündeten und die Schrift (das Alte Testament) auslegten (Apg. 2). Wenden wir uns Gott und seinem Wort zu, so stehen wir unter der Pfingstverheissung des Heiligen Geistes – Jerusalem. Wenden wir uns von ihm und seinem Wort ab, so leiden wir und unsere Sprache an den Folgen Babels.

Was ist zu tun?

Zwei der Zehn Gebote haben mit der Sprache zu tun: Das Namensmissbrauchsverbot und das Verbot falschen Zeugnisses. Im Neuen Testament haben die Apostel Paulus, Jakobus und Petrus in ihren Briefen einiges über einen geheiligten Gebrauch der Sprache gesagt (Eph 5; 1. Petr 3; Jak 3). Denn es kann nicht ausbleiben: Wer dem Evangelium von der Liebe Gottes sein Vertrauen schenkt, will weitersagen, was vertrauenswürdig ist – nicht, um gut da zu stehen, sondern weil Christus, das fleischgewordene Wort Gottes, in seinem Wort das Vor- und Urbild perfekter Sprache ist (Joh 1). Wer sich von Gottes Wort prägen lässt, dessen eigenes Reden wird nach Wahrhaftigkeit, Vernünftigkeit, Weisheit und Gerechtigkeit, nach Sanftmut und Kraft streben. Die Heiligung unseres Sprechens am Wort Gottes bedeutet, so Jakobus, die Heiligung unseres ganzen Lebens. Wer es aber vernachlässigt, seine Zunge zu disziplinieren, übertritt das ganze Gesetz.

Der Philosoph Hegel hatte Recht, als er die Französische Revolution zugleich bejahend (wegen des Freiheitsgewinns für den Einzelnen) und kritisch reflektierte: Ohne das Christentum wird die Tugendherrschaft in Terror übergehen, ja wird sich die Aufklärung mit ihrer alle Traditionen auflösenden Kritik selbst zerstören. Wer sich also an politischer Sprachpolitik versucht, vergreift sich am Heiligtum. Doch wer an Gottes Wort seine Sprache heiligen und schärfen lässt, steht unter der Verheissung: „Wer auf das Wort merkt, der findet Glück; und wohl dem, der sich auf den Herrn verlässt!“ (Spr 16,20) und umgekehrt: „Wer das Wort verachtet, muss dafür büssen; wer aber das Gebot fürchtet, dem wird es gelohnt“ (Spr 13,13).

 

„Wir verfehlen uns alle mannigfaltig. Wer sich aber im Wort nicht verfehlt, der ist ein vollkommener Mann und kann auch den ganzen Leib im Zaum halten“ (Jak 3,2).

Zitate

„Was aber heute als Tugend gelten darf, definiert der politisch linksorientierte Mainstream. Ein guter Bildungsstand in den Sprachen hingegen würde kritisches Denken fördern.“

„Die Wörter dienen nicht dazu, sich dem andern gegenüber zu offenbaren, sondern die Gedanken vor ihm zu verbergen und ihn zu täuschen.“ – Gerhard Friedrich

„Die Entwortung des Wortes hat die Entmenschung des Menschen zur Folge.“ – Gerhard Friedrich

„Wir leben im Jahrhundert der korruptiven Worte. Wir benutzen die Worte, um den Taten auszuweichen, während wir auf das Unabwendbare warten, das jenseits der Worte steht und das Worte nicht abwenden können.“ – Jean Raspail, Das Heerlager der Heiligen, 1973/zitiert aus der Neuauflage von 2020, S. 258)

 

Buchtipp

Felber, Stefan (Hg.): Zwischen Babel und Jerusalem. Aspekte von Sprache und Übersetzung, Berlin: Frank&Timme, 3. Aufl. 2022, 254 S.

[1] https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article116033599/Wer-Buecher-verbrennt-verbrennt-auch-Menschen.html (13.07.2021, dieser Link ist derzeit nicht mehr verfĂĽgbar).

 


 

Der voranstehende Beitrag wurde ursprĂĽnglich 2019 fĂĽr die Zeitschrift factum erstellt.

Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 19. Oktober 2023 um 6:00 und abgelegt unter Allgemein.