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Heinrich Kemner: Heiligkeit und Gerechtigkeit

Mittwoch 14. Juni 2023 von Pastor Heinrich Kemner (1903-1993)


Pastor Heinrich Kemner (1903-1993)

Heiligkeit und Gerechtigkeit

Fünfzehn Tage sprach ich allabendlich in der United Church in Toronto. Fast an jedem Abend öffnete sich nach Beginn meines Vortrages die Kirchentür. Ein voll­bärtiger Mann kam herein, der noch ein Plätzchen such­te und meistens in der äußersten Ecke der Kirche auch noch eines fand. Weil der Mann mir auffiel, schon durch die unregelmäßige Regelmäßigkeit, berichtete mir der Pastor, als ich mich nach dem Fremden erkundigte, daß es sich um einen Israeliten handelte, der offenbar auf der Suche nach dem Heil war.

Am Schluß des Gottesdienstes kam er zu meiner Frau und mir, und wir hatten einige Male eine längere Seel­sorge. Seine Fragestellung war treffend und ging genau in die Mitte. Er meint, daß wir Christen mit dem lieben Gott zu sehr per du umgingen, und daß wir vergessen hätten, daß wir nur in Ehrfurcht und Anbetung ihm na­hen könnten. Er erklärte, daß von einem gläubigen Israe­liten der Name Gottes nicht ausgesprochen werden darf, und daß jeder, der das tut, wenn es unbedacht geschieht, Frevel am Heiligtum begeht. Ich war über die Ehrfurcht, die dieser Mann vor Gott hatte, betroffen.

Aber er wurde mit dem Kreuz Christi nicht fertig. Ich habe nun versucht, ihm in aller Einfalt klarzumachen, daß die Heiligkeit Gottes hier als Zeichen der Gerechtigkeit die Vertrauens­frage an die ganze Menschheit wurde. Gott ist so heilig, daß er seinen eingeborenen Sohn nicht schonte. Gott ist gerecht, daß er die Sünde nicht übersieht, sondern Jesus zur personifizierten Sünde machte, damit wir die Gerech­tigkeit empfangen, die vor ihm gilt. In dem Gespräch, das nun stattfand, wurde deutlich, wie schwer es für ei­nen Israeliten ist, von der Gerechtigkeit des Gesetzes zur Gnade in dem Blut Jesu Christi zu finden und diese Gna­de als vollgültiges Heil anzunehmen.

Ich mußte bei dem Gespräch daran denken, wie mich einmal ein Konfirmand im Unterricht fragte: „Hätte Gott uns nicht auch ohne das Kreuz Jesu Christi die Sünden vergeben können?“ Ich habe ihm damals die Antwort gegeben: „Kann der Amtsrichter von Ahlden, wenn sein Sohn eine Kuh gestohlen hat, eine Ausnahme in der Rechtsprechung machen und den Sohn nicht bestrafen?“ Die Antwort war: „Das geht nicht, weil das ungerecht wäre.“ Ich habe dem Mann deutlich gemacht, daß es mit der Gerechtigkeit Gottes genauso ist. Sie fordert, wenn Gott uns vergeben will, die Sühne. Die Heiligkeit Gottes ist ohne Gerechtigkeit wesenlos.

Ich sehe noch, wie sich das Gesicht des Israeliten im­mer mehr erhellte. Es ging ihm auf, daß im Zeichen des Kreuzes Christi Heiligkeit und Gerechtigkeit bei Gott sich decken. Das Kreuz ist der Maßstab für Gott und Mensch zugleich. Der Mann faltete mit Tränen in den Augen die Hände und nahm die Gnade für sein Leben und Sterben an und wurde zum Glauben hinzugetan.

Dieses Erlebnis bewegte meine Frau und mich sehr. Wir gingen dann am Sabbat in eine große Synagoge. Ich wollte einmal einen Gottesdienst miterleben. Der groß­artige Raum war dicht gefüllt mit Männern. Nur wenige Frauen saßen gesondert. Am Eingang erhielt ich eine Kopfbedeckung und einen Gebetsschal. Als ich einen Platz suchte, kam ein älterer Israelit zu mir, faßte mich kameradschaftlich am Arm, weil er mich offen­bar für einen Israeliten oder einen Judengenossen hielt. Er reichte mir ein hebräisches Gebetbuch mit Psalmen und anbetenden Lobgesängen. Am Altar waren die Ge­setzestafeln aufgestellt, und rechts und links saßen auf erhöhten Plätzen die Rabbiner. Ein Vorsänger sang respondierend mit der Gemeinde seine anbetenden Weisen. Man verneigte sich immer wieder. Mein jüdischer Freund sprach hebräisch mit mir. Ich konnte nicht antworten, sondern nur freundschaftlich nicken. Er gab mir sein Ge­betbuch mit großer Herzlichkeit und zeigte mir, wo ge­rade der Gesang stand. Ich war angenehm davon berührt, wie man sich um mich bemühte. Noch mehr war ich über die Ehrfurcht betroffen, über das Aufstehen und Ver­neigen vor dem Heiligen in Israel.

Als ich die Synagoge verließ, mußte ich denken: Welch eine missionarische Kraft wird einmal von diesem Volke ausgehen, wenn ihnen, wie Paulus sagt, die Decke von den Augen genommen wird, wenn sie im Kreuz Christi die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes erkennen. Welch einen Auftrag haben wir als Volk der Reformation ge­rade an Israel, heute mehr denn je! Israels Stunde kommt, unsere geht. Noch immer ruht die Verheißung über die­sem Volk. Und wenn die Fülle der Heiden eingegangen ist, wird die Stunde für Israel wieder kommen, auf daß ganz Israel selig werde.

Der Synagogen-Gottesdienst hat mich wieder daran erinnert, daß Gottes Gesetz heilig und gut ist. Aber die Erfüllung des Gesetzes ist nur dann möglich, wenn es uns Zuchtmeister zu Christus wird. Gesetz und Evange­lium sind beide Gottes Gaben, die wir zu unserem Chri­stentum beständig nötig haben.

 


 

Quelle:

Heinrich Kemner, Wir wählen das Leben, Band 2, Bad Liebenzell: Verlag der Liebenzeller Mission 1981, S. 33–35.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 14. Juni 2023 um 17:37 und abgelegt unter Allgemein.