Gemeindenetzwerk

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Gesellschaftlicher Wandel und Gewalt

Montag 23. MĂ€rz 2009 von Institut fĂŒr Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.


Institut fĂŒr Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.

Gesellschaftlicher Wandel und Gewalt

Seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ist in allen hoch entwickelten und demokratisch verfassten Gesellschaften ein Anstieg der GewaltkriminalitĂ€t zu beobachten. StĂ€rker noch als die Mordrate hat dabei die HĂ€ufigkeit von RaubĂŒberfĂ€llen sowie von leichten und schweren Körperverletzungen zugenommen. Insbesondere Jugendliche und Heranwachsende sind langfristig betrachtet zunehmend in Gewaltdelikte involviert (1). Den Grund hierfĂŒr sehen Sozialwissenschaftler in einer Zunahme von „Anomie“. Als Anomie wird in Anlehnung an den französischen Soziologen Emile Durkheim (1858-1917) eine Situation bezeichnet, in der soziale Regeln, moralische Gebote und staatliche Gesetze zunehmend weniger befolgt werden. Als zentrale Ursache fĂŒr Anomie sah Durkheim einen raschen und tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft an (2).

Seit den 50er Jahren haben die westlichen Industriegesellschaften, insbesondere auch Deutschland, einen solchen Wandel erlebt: Wirtschaftliches Wachstum hat die Konsummöglichkeiten fĂŒr breite Bevölkerungsschichten verbessert, der Dienstleistungssektor der Wirtschaft ist stark expandiert, das Ausbildungsniveau in der Bevölkerung, insbesondere der Frauen, ist gestiegen und die Lebensformen sind vielfĂ€ltiger geworden (Zunahme von Single-Haushalten etc.). Im Gegenzug hierzu sind agrarisch-lĂ€ndliche Strukturen weitgehend verschwunden, hat die gesellschaftliche Bedeutung von lokal- nachbarschaftlichen Lebenswelten (auch in den StĂ€dten) und traditionellen Lebensformen nachgelassen. Wichtiger geworden sind dagegen die Gesetze des Marktes und der Konkurrenz: FĂŒr die Stellung des Einzelnen ist nicht mehr seine soziale Herkunft oder familiĂ€re Rolle bestimmend, sondern sein geldwerter Erfolg im wirtschaftlichen Wettbewerb. Nach Ansicht von Sozialforschern begĂŒnstigt diese „Kultur der Konkurrenz“ quer durch alle Gesellschaftsschichten Anomie und kriminelle Verhaltensweisen: In der Oberschicht wird die Neigung gefördert sich durch Bestechung, Steuerhinterziehung etc. zu bereichern („white-collar-crime“). FĂŒr die Zukurzgekommenen und OhnmĂ€chtigen kann dagegen die Gewalt ein Ausdrucksmittel werden mit dem versucht wird tatsĂ€chliche oder vermeintliche „Erniedrigungen“ in ein „rauschhaftes Erleben von Macht und Überlegenheit zu transformieren“ (3).

Eine SchlĂŒsselrolle fĂŒr die Zunahme von Anomie vor allem unter Jugendlichen spielen die Medien: Zum einen wird durch die kommerzielle Werbung die Ökonomisierung auch der privaten und familiĂ€ren Lebenswelt vorangetrieben und damit die Konkurrenz um Prestige und materielle Ressourcen verschĂ€rft. Zum anderen fördern wie einschlĂ€gige Studien zeigen Gewaltdarstellungen in den Medien die Gewaltbereitschaft. Gegen solche Erkenntnisse aus der Forschung wird hĂ€ufig eingewandt, dass die meisten Menschen, die gewalthaltige Medienangebote konsumierten, selbst nicht gewalttĂ€tig wĂŒrden. TatsĂ€chlich behaupten diese Studien auch nicht, dass intensiver Konsum von Gewaltdarstellungen notwendigerweise zu praktizierter Gewalt fĂŒhrt, sondern lediglich, dass dieser aggressives Verhalten wahrscheinlicher werden lĂ€sst. Sie zeigen auch, dass Gewaltdarstellungen besonders attraktiv sind fĂŒr Personen, die schon gewaltbereit sind. Deren Gewaltbereitschaft wird „durch den Konsum von Gewaltdarstellungen verstĂ€rkt, sodass dieser Selektionseffekt das Fernsehen (Internet, Videospiel) nicht von kausaler Verantwortung entlastet“ (4). Anders ausgedrĂŒckt: GewalttĂ€tige Medieninhalte sind zwar sicherlich nicht der Hauptgrund fĂŒr Anomie, Gewalt und KriminalitĂ€t, sie können aber der entscheidende Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt (5).

IDAF, 18.03.2009

(1) Zu beachten ist dabei allerdings, dass im Blick auf Gewaltdelikte in den 1950er Jahren ein historischer Tiefstand zu verzeichnen war. Seit Beginn der Neuzeit war die GewaltkriminalitĂ€t wenn auch diskontinuierlich bis Mitte des 20. Jahrhunderts stark gesunken. Vgl.: Helmut Thome/Christoph Birkel: Sozialer Wandel und GewaltkriminalitĂ€t. Deutschland, England und Schweden im Vergleich, 1950-2000, VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften Wiesbaden 2007, S. 396.

(2) Vgl. ebd., S. 29-31.

(3) Ebd., S. 342-244.

(4) Thome und Birkel merken hierzu an: „Man stelle sich einen Menschen vor, der einen schweren Stein zuerst gegen eine Fensterscheibe und dann gegen eine Betonwand wirft. WĂ€hrend die Fensterscheibe zerbricht, bleibt die Betonwand stehen. WĂŒrde deshalb jemand auf die Idee kommen zu behaupten: nicht der Steinewerfer, sondern die Fensterscheibe sei ursĂ€chlich „Schuld an ihrem Zerbrechen, denn die Betonmauer sei unter dem physikalisch gleichen Wurf nicht zerbrochen“. Ebd., S. 380-381.

(5) Zur Wirkung speziell von Computerspielen: Jana Ehrhardt: Wenn das wirkliche Leben nicht mehr statt findet, Handelsblatt vom 7. Februar 2009, http://www.handelsblatt.com/technologie/geisteswissenschaften/wenn-das-wirkliche-leben-nicht-stattfindet;2140639.

Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 23. MĂ€rz 2009 um 9:10 und abgelegt unter Allgemein.